meine Damen und Herren,
wenn einer, der wie ich in Hamburg aufgewachsen ist, hierher nach Davos kommt, dann stellen sich ganz unweigerlich Gedanken ein an Thomas Mann und seinen großen Roman vom „Zauberberg“. So ging es mir zumindest auf dem Weg hierher, zumal der Davos-Besuch des Hamburgers Hans Castorp im Roman mit dem endet, was Thomas Mann den „Donnerschlag“ nennt, nämlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914.
Meine Damen und Herren, auch wir haben einen Donnerschlag erlebt – am 24. Februar 2022. Russlands Überfall auf die Ukraine markiert nicht den Ausbruch irgendeines Konflikts irgendwo in Europa. Hier nimmt eine nuklear hochgerüstete Großmacht für sich in Anspruch, Grenzen neu zu ziehen. Putin will zurück zu einer Weltordnung, in der der Stärkere diktiert, was Recht ist, in der Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung eben nicht allen zustehen. Das ist Imperialismus! Das ist der Versuch, uns zurückzubomben in eine Zeit, als Krieg ein gängiges Mittel der Politik war, als unserem Kontinent und der Welt eine stabile Friedensordnung fehlte. Darum habe ich drei Tage nach dem russischen Angriff im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen.
Das deckt sich übrigens mit der Analyse des World Economic Forum und mit dem Leitbild, unter das Sie unser heutiges Treffen gestellt haben, lieber Herr Professor Schwab: Ja, die Welt erlebt einen „turning point“, einen Umbruch. Zur Disposition steht nicht allein die Staatlichkeit der Ukraine. Zur Disposition steht ein System internationaler Zusammenarbeit, das aus dem „Nie wieder!“ zweier verheerender Weltkriege entstanden ist, eine Ordnung, die Macht an Recht bindet, die Gewalt als Mittel der Politik ächtet und die uns in den vergangenen Jahrzehnten Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat.
Deshalb ist unser Ziel ganz klar: Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen. Und ich bin überzeugt: Er wird ihn nicht gewinnen! Schon jetzt hat er all seine strategischen Ziele verfehlt. Eine Einnahme der gesamten Ukraine durch Russland scheint heute weiter entfernt als noch zu Beginn des Krieges, auch dank des beeindruckenden Abwehrkampfs der ukrainischen Armee und Bevölkerung.
Mehr denn je betont die Ukraine ihre europäische Zukunft – ähnlich wie Georgien, Moldau. Übrigens: Auch die EU-Integration der Staaten des westlichen Balkans treiben wir aktiv voran. Die Versprechungen, die da gemacht worden sind, müssen jetzt schnell eingehalten werden. Die Brutalität des russischen Kriegs hat die Ukrainerinnen und Ukrainer als Nation enger zusammengeschweißt als jemals zuvor.
Mit Schweden und Finnland wollen sich zwei enge Freunde und Partner dem nordatlantischen Bündnis anschließen. Sie sind herzlich willkommen!
Und schließlich hat Putin die Geschlossenheit und Stärke unterschätzt, mit der die G7, die NATO und die EU auf seine Aggression reagiert haben. Gemeinsam haben wir so harte und weitreichende Sanktionen verhängt wie niemals zuvor gegen ein Land von der Größe Russlands. Schon jetzt sind die Kosten für Putins Machtapparat gewaltig, und sie steigen jeden Tag. Erstmals überhaupt liefert Deutschland Waffen in ein solches Kriegsgebiet, darunter auch schweres Gerät.
Eines scheint mir klar zu sein: Ernsthaft über Frieden verhandeln wird Putin jedoch nur, wenn er merkt, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann. Darum unterstützen wir die Ukraine. Diese Unterstützung ist eng abgestimmt mit unseren Partnern und Allliierten. Und auch darin sind wir uns einig: Wir tun nichts, was die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Denn das würde die direkte Konfrontation zwischen Nuklearmächten bedeuten. Vielmehr geht es darum, Putin klarzumachen: Es wird keinen Diktatfrieden geben. Das wird die Ukraine nicht akzeptieren – und wir auch nicht.
Und schließlich, meine Damen und Herren, haben wir eine Kehrtwende auch in der deutschen Verteidigungspolitik vollzogen. Wir haben entschieden, unsere Bundeswehr so auszustatten, dass sie unser Land und unser Bündnis auch in der von Russland verursachten neuen Realität zu jedem Zeitpunkt verteidigen kann. Dafür sind wir sogar dabei, unsere Verfassung zu ändern. Und wir wollen in den nächsten Jahren 100 Milliarden Euro für die notwendige Modernisierung unserer Streitkräfte bereitstellen. Es geht um die Sicherheit unseres Landes, und es geht um die unmissverständliche Botschaft an unsere Bündnispartner: Auf Deutschland ist Verlass!
Und noch etwas ist ganz klar: Wir machen Deutschland und Europa unabhängig von Energieimporten aus Russland. Mit Blick auf Kohle ist das im Herbst bereits beschlossene Sache. Den Ausstieg aus russischem Öl wollen wir bis Jahresende erreichen. Auch beim Gas arbeiten wir mit Hochdruck an der Unabhängigkeit von Russland. Wir greifen zum Beispiel auf schwimmende Flüssiggasterminals und auf neue Bezugsquellen zurück. Und wir sind dabei, den Ausbau der notwendigen Infrastruktur ‑ Terminals, Häfen, Pipelines ‑ in nie gekannter Geschwindigkeit voranzutreiben.
Trotzdem wird dieser Umbau Auswirkungen auf Europas Volkswirtschaften haben. Das spüren wir alle, nicht zuletzt an den steigenden Energiepreisen. Natürlich liegt darin eine ganz besondere Herausforderung für ein Land wie Deutschland, das Industrieland ist und bleiben wird. Deshalb lassen wir unsere Unternehmen nicht allein. Wir haben einen Schutzschirm aufgespannt, mit dem wir Kredite absichern und, wo nötig, auch beim Eigenkapital unterstützen.
In den kommenden Jahren werden wir Milliarden in die Transformation unserer Wirtschaft investieren. Die Zeit für Planungsprozesse wollen wir verkürzen, mindestens halbieren. Und wir rufen in den nächsten Wochen eine „Allianz für Transformation“ ins Leben, in der wir gemeinsam mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern den Umbau unserer Volkswirtschaft begleiten. So schaffen wir für alle Seiten Planungssicherheit.
Schließlich hat unser Ziel, bis 2045 CO2-neutral zu werden, durch Putins Krieg noch an Bedeutung gewonnen. „Jetzt erst recht!“ lautet also deshalb die Devise. In Deutschland arbeiten wir mit Hochdruck an einem Klimaschutz-Sofortprogramm. Erste Schritte sind bereits beschlossen. Bis 2030 wollen wir das Tempo bei der Emissionsminderung nahezu verdreifachen und unsere Stromversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien decken.
Zugleich treiben wir die Verkehrs- und Wärmewende voran und arbeiten am Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft. Ziel ist es eben, Industrieland zu bleiben und gleichzeitig klimaneutral zu werden. Das macht die Zwanzigerjahre zu Jahren der Veränderung, der Erneuerung und des Umbaus. Diesen Weg gehen wir nicht alleine. Mit ihrem „Fit for 55“-Paket sorgt die EU dafür, dass auch in Europa die Weichen auf Klimaneutralität 2050 gestellt werden.
Am Beispiel der Energie- und Klimapolitik wird auch deutlich: Putins Krieg mag den Handlungsdruck auf uns erhöhen. Alleiniger Auslöser dieser Zeitenwende aber ist er keineswegs. „History at a turning point“ – das Leitbild unseres Treffens weist weit über diesen Bruch der internationalen Friedensordnung hinaus.
Neben Russlands Krieg sehe ich eine weitere globale Entwicklung, die ebenfalls eine Zeitenwende bedeutet. Wir erleben, was es heißt, in einer multipolaren Welt zu leben. Die Bipolarität des Kalten Kriegs ist genauso Geschichte wie die relativ kurze Phase, in der die Vereinigten Staaten die einzig verbliebene Weltmacht waren, auch wenn die USA natürlich der bestimmende Machtfaktor in der Welt bleiben werden.
Ich glaube übrigens auch nicht an die Erzählung einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China. Natürlich ist China ein globaler Akteur – wieder, sollte man hinzufügen, denn historisch gesehen war das ja über weite Strecken der Weltgeschichte immer der Fall. Aber genauso wenig wie daraus die Notwendigkeit folgt, China zu isolieren, lässt sich daraus der Anspruch chinesischer Hegemonie in Asien und darüber hinaus ableiten. Genauso wenig können wir wegsehen, wenn Menschenrechte verletzt werden, wie wir das gerade in Xinjiang sehen.
Zumal wir in Asien, Afrika und Lateinamerika neue, aufstrebende Mächte erleben. Sie alle nutzen die Chancen, die ihnen die Globalisierung bietet. Noch vor Beginn der Pandemie hatte die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers eine Studie zur Welt im Jahr 2050 veröffentlicht. Ihr zufolge werden unter den größten Volkswirtschaften dann Länder sein, die wir heute noch als Schwellenländer bezeichnen: neben China auch Indien und auch Indonesien, Brasilien und Mexiko. Nach der Pandemie dürfte diese Analyse kaum anders aussehen.
Ein weiterer Faktor bleibt natürlich Russland, das seine Bedeutung durch militärische Macht zu sichern versucht - mit furchtbaren Konsequenzen, wie wir gerade erleben.
Und da ist die Europäische Union, die sich endlich aufmacht, ihren geoökonomischen auch in geopolitischen Einfluss umzumünzen. Das ist es, was wir mit „europäischer Souveränität“ meinen.
In dieser multipolaren Welt fordern ganz unterschiedliche Länder und Regionen gemäß ihrem wachsenden ökonomischen und demografischen Gewicht größere politische Mitsprache ein. Um es klar zu sagen: Darin liegt keine Bedrohung. Wo sich Einfluss und Gestaltungsmacht verschieben, hat das jedoch auch zwangsläufig Folgen für die politische Ordnung. Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird? Oder anders ausgedrückt: Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken?
Diese Aufgabe ist keineswegs trivial, zumal es dafür kein historisches Vorbild gibt. Und doch bin ich überzeugt: Das kann gelingen, wenn wir neue Wege und Felder der Zusammenarbeit erschließen, zumal die Alternative ‑ jeder für sich und zugleich jeder gegen jeden ‑ selbst für die größten Mächte mit hohen Risiken und Kosten verbunden ist.
Auch deshalb war es so entscheidend, Russlands eklatantem Völkerrechtsbruch hart und unmissverständlich entgegenzutreten, weil diese Reaktion auch allen anderen deutlich macht: Eine multipolare Welt ist keine regellose Welt! Dieses Prinzip aufrechtzuerhalten, liegt im Interesse aller. Daher war es so wichtig, dass im März 141 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Russlands Angriff klar verurteilt haben.
Aber wir wissen: Für viele Länder Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas ist der Krieg in der Ukraine geografisch weit weg. Ganz nah hingegen sind seine globalen Folgen in Form drohender Hunger-, Rohstoff- und Inflationskrisen. Wenn wir wollen, dass diese Länder auch in Zukunft Freiheit und Recht gemeinsam mit uns verteidigen, dann müssen wir uns auch ihren Sorgen gegenüber solidarisch zeigen.
In einer multipolaren Welt wird eine solche internationale Ordnung nicht ohne internationale Solidarität zu haben sein. Deshalb investieren wir in neue Partnerschaften. Deshalb stellen wir bestehende Partnerschaften breiter auf, Stichwort politische Diversifizierung. Dabei setzen wir auf ein Merkmal, das uns mit vielen Ländern des globalen Südens verbindet: Wir sind Demokratien. Zu lange haben wir Demokratie praktisch gleichgesetzt mit dem Westen im klassischen Sinne. Dabei war es gerade dieser Westen, der dem Süden auf ganz undemokratische Weise seine Rechte und seine Freiheit bis weit ins letzte Jahrhundert hinein vorenthalten hat, Stichwort Kolonialismus. Dies anzuerkennen ist nicht nur ein Gebot der Ehrlichkeit, sondern Voraussetzung für eine engere Zusammenarbeit mit den Demokratien der Welt, die wir brauchen und auf die wir hinarbeiten.
Anfang der Woche bin ich aus Südafrika, Senegal und Niger zurückgekommen. Ganz bewusst habe ich dort für enge Zusammenarbeit mit unserer G7-Präsidentschaft geworben – bei Themen wie der Energiewende, beim Klimaschutz, bei der Pandemiebekämpfung, in Migrationsfragen und nicht zuletzt bei der Frage, wie wir in dieser Zeit internationale Kooperation erhalten und stärken können.
Ganz bewusst habe ich die Kollegen aus Südafrika und dem Senegal neben den Regierungschefs von Indien, Indonesien und auch Argentinien als Vorsitz der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten zum G7-Gipfel Ende Juni nach Elmau eingeladen. Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit die Welt braucht, um bei globalen Herausforderungen in Zukunft voranzukommen.
Ganz bewusst haben wir in Deutschland eine Indopazifik-Strategie beschlossen, um die Zusammenarbeit mit den Ländern dieser Zukunftsregion zu vertiefen.
Ganz bewusst haben wir im April erstmals Regierungskonsultationen zwischen Deutschland und Japan vereinbart. Als dritt- und viertgrößte Volkswirtschaften der Welt wollen wir gemeinsam Lösungen für nachhaltiges Wachstum entwickeln, die auch für andere funktionieren.
Und ganz bewusst habe ich meinen indischen Kollegen, Premierminister Modi, und seine Regierung Anfang dieses Monats zu Regierungskonsultationen nach Berlin eingeladen. Ergebnis dieses Treffens ist, dass unsere Länder künftig bei Themen wie Klimaschutz, Energie, Migration und Mobilität noch enger zusammenarbeiten.
Es geht um Fortschritt in Zukunftsfragen, und zugleich geht es immer auch darum, zu zeigen: Internationale Kooperation liefert Antworten. Der Multilateralismus funktioniert!
Das ist übrigens die Voraussetzung dafür, die Deglobalisierung zu stoppen, die wir erleben. Natürlich müssen wir manch strategische Abhängigkeit reduzieren. Die Pandemie hat uns das nicht nur bei Medikamenten oder Schutzausrüstung vor Augen geführt. Auch unsere Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland fällt in diese Kategorie. Deshalb wird sie beendet. Oder denken Sie etwa an den gegenwärtigen Mangel an Halbleitern. Insofern ist es eine wirklich gute Nachricht, dass Intel künftig Chips in Deutschland produzieren wird, übrigens eine der größten Industrieansiedlungen in der Geschichte unseres Landes.
Mehr wirtschaftliche Resilienz lautet das Gebot der Stunde in dieser multipolaren, krisenanfälligen Welt. Auch hier muss die Antwort Diversifizierung lauten, und zwar für Politik und Wirtschaft gleichermaßen.
Zugleich müssen wir achtgeben, dass aus notwendiger Diversifizierung kein Vorwand für Abschottung, Zollschranken und Protektionismus wird. Um es ganz klar zu sagen: Die Deglobalisierung ist ein Holzweg! Sie wird nicht funktionieren.
Denn entgegen all dem, was Populisten vollmundig versprechen, wird der Preis von Zöllen und Handelsschranken von Unternehmen bezahlt, von Arbeitnehmerinnen Arbeitnehmern, von Verbrauchern in unseren Ländern, von denjenigen also, die ohnehin schon unter steigenden Preisen leiden.
Und noch etwas dürfen wir nicht vergessen, wenn leichtfertig von Deglobalisierung oder gar „decoupling“ die Rede ist: Der Anteil der Menschen in extremer Armut ist in den vergangenen 40 Jahren von über 40 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit ging in derselben Zeitspanne von zehn auf unter vier Prozent zurück. Global gesehen ist die Lebenserwartung um ganze zwölf Jahre gestiegen, von 61 auf 73 Jahre.
Diese Erfolge sind nicht nur das Ergebnis nationaler Politik. Sie sind vor allem das Resultat internationaler Arbeitsteilung, das Ergebnis von Wissensaustausch und weltweiter wirtschaftlicher Vernetzung, die Milliarden Menschen den Weg aus der Armut geebnet hat.
Ich will damit nicht sagen, dass die Globalisierung in den letzten 20, 30 Jahren nur Gewinner hervorgebracht hat. Das gilt gerade auch mit Blick auf die industrialisierten Länder. Weltweite Konkurrenz, die Verlagerung von Produktionsstandorten, die Krisen am Finanzmarkt, die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt ‑ all das verunsichert viele unserer Bürgerinnen und Bürger. All das verstärkt eben die Rufe nach Renationalisierung.
Politik und Wirtschaft müssen diese Sorgen ernstnehmen. Unsere Antwort darauf kann kein simples „Weiter so!“ sein, zumal die besondere Phase der Globalisierung, die wir in den letzten 30 Jahren in Nordamerika und Europa erlebt haben ‑ mit verlässlichem Wachstum, hoher Wertschöpfung und niedriger Inflation ‑ unweigerlich zu Ende geht, und zwar schon deshalb, weil aus den günstigen Produzenten in den Ländern des Globalen Südens Schritt für Schritt leistungsfähige Volkswirtschaften mit eigener Nachfrage geworden sind, die denselben Wohlstand beanspruchen und um dieselben Güter konkurrieren wie wir.
Was wir daher brauchen, ist eine nachhaltige, resiliente Globalisierung, die Rücksicht auf natürliche Ressourcen und vor allem auf künftige Generationen nimmt. Wir brauchen eine solidarische Globalisierung, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugutekommt, in allen Teilen der Welt. Und wir brauchen eine kluge Globalisierung und mit modernen Regeln und neuen Arten der Zusammenarbeit.
Ich will an drei Beispielen deutlich machen, was ich damit meine.
Nehmen Sie den Klimawandel. Wir alle wissen: Wenn wir die Pariser Klimaziele verfehlen, steuert die Welt auf eine Katastrophe zu. Zugleich höre ich von Vertreterinnen und Vertretern von Entwicklungs- und Schwellenländern immer wieder den Einwand: „Auf absehbare Zeit brauchen wir die fossilen Energieträger noch, um unsere Entwicklungschancen zu nutzen, so wie ihr es über 150 Jahre hinweg getan habt.“ Von unseren Unternehmen in den industrialisierten Ländern hören wir wiederum: „Wenn ihr die Klima-Regeln weiter verschärft, dann werden wir womöglich ganze Industriezweige dorthin abwandern sehen, wo die Vorschriften laxer sind.“ Carbon leakage lautet das Schlagwort.
Diese Widersprüche müssen wir auflösen, und zwar durch Zusammenarbeit. Wir haben uns vorgenommen, die G7 zum Kern eines internationalen Klimaclubs zu machen, der die Pariser Klimaziele beschleunigt umsetzt. Dieser Club steht allen Staaten offen, wenn sie sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichten. So schaffen wir ein „level playing field“ und verhindern, dass unterschiedliche Regeln den Wettbewerb verzerren.
Zugleich werden wir als Klimaclub klimafreundliche Technologien miteinander weiterentwickeln und noch enger zusammenarbeiten, etwa im Bereich des Wasserstoffs. Auch das Thema internationale Klimafinanzierung wollen wir als G7 weiter voranbringen. Neben Südafrika wollen wir weiteren Schwellen- und Entwicklungsländern sogenannte Just Energy Transition Partnerships anbieten, die sie beim gerechten Übergang in eine klimaneutrale Zukunft unterstützen. So holen wir Partner an Bord, die wir für die Klimawende dringend brauchen.
Mein zweites Beispiel betrifft die Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Die Pandemie und Russlands Krieg drohen, Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte zurückzudrehen. Besonders dramatisch ist das beim Kampf gegen Hunger und Armut. Wenn wir hier nicht schnell und entschieden gegensteuern, droht uns die weltweit größte Hungersnot seit Jahrzehnten.
Als G7-Präsidentschaft haben wir daher zusammen mit der Weltbank ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit ins Leben gerufen. Deutschland hat dafür schon gleich zu Beginn knapp eine halbe Milliarde Euro bereitgestellt. Zusätzlich investieren wir mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr in ländliche Entwicklung und Infrastruktur und in Ernährungssicherung.
Wir werben intensiv um Unterstützung, und zwar nicht nur bei anderen Regierungen und internationalen Organisationen, sondern auch in der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft, bei Stiftungen und nicht zuletzt bei Wirtschaftsführerinnen und Wirtschaftsführern wie Ihnen. Das globale Bündnis für globale Ernährungssicherung ist offen für alle!
Und noch etwas ist wichtig in dieser Lage: Als G7 bekennen wir uns zu offenen Agrarmärkten. Das sage ich, wohl wissend, dass dabei noch viel Arbeit vor uns liegt, auch in Europa. Exportrestriktionen sind jedenfalls keine Lösung. Sie untergraben die globale Ernährungssicherheit, ja, sie gefährden Menschenleben.
Das dritte Feld, auf dem wir für eine bessere internationale Zusammenarbeit sorgen wollen, betrifft unseren künftigen Umgang mit Gesundheitskrisen. Wir alle hatten gehofft, dass 2022 das Jahr wird, in dem die Weltwirtschaft nach der COVID-19-Pandemie wieder voll durchstarten kann. Stattdessen sehen wir Lockdowns in China, neue Virusvarianten und nach wie vor hohe Infektionszahlen.
Die Pandemie ist noch nicht vorbei, so sehr wir uns auch das Gegenteil wünschen. Sie wird auch kein Ende finden, wenn wir den Kreislauf aus immer neuen Mutationen, die immer neue Infektionswellen auslösen, nicht endlich durchbrechen. Deshalb werden wir als G7 den von der Weltgesundheitsorganisation koordinierten ACT-Accelerator, der für eine weltweite Versorgung mit Impfstoffen sorgt, weiter massiv unterstützen. Deutschland geht hier mit 1,3 Milliarden Euro allein in diesem Jahr voran. Ich bitte Sie alle: Unterstützen auch Sie und Ihre Unternehmen uns auf diesem Weg!
Ein Beispiel dafür, was im Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft gelingen kann, ist der Aufbau einer globalen Impfstoffproduktion. Vor einigen Wochen habe ich gemeinsam mit der EU, der Afrikanischen Union, den Präsidenten verschiedener afrikanischer Länder und der deutschen Firma BioNTech den Startschuss für ein Projekt zur Schaffung modularer Produktionsstätten in Südafrika, Ruanda, Ghana und Senegal gegeben. Es geht um den Kampf gegen COVID-19, aber perspektivisch auch gegen Krankheiten wie Malaria oder Ebola.
Letzte Woche haben sich die Gesundheitsminister der G7 auf einen „Pact for Pandemic Readiness“ verständigt. Dabei geht es um einen besseren Datenaustausch, um die Vernetzung internationaler Gesundheitsexpertinnen und -experten und um die Mobilisierung schneller Einsatzteams, die im Ernstfall einen Ausbruch bekämpfen sollen.
Wir werden die Weltgesundheitsorganisation dauerhaft stärken. Ein erster Durchbruch ist uns Ende April gelungen: Wir haben uns international darauf verständigt, die Finanzkraft der Weltgesundheitsorganisation endlich auf eine breitere und verlässlichere Grundlage zu stellen.
Davos war bei diesen Themen schon oft Impulsgeber. Nicht zuletzt wurde hier im Jahr 2000 die globale Impfstoffallianz GAVI gegründet. In der Pandemie war sie Gold wert.
Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich zum Schluss an diesen guten Geist von Davos erinnern und appellieren. Ja, wir erleben eine Zeitenwende. „History is at a turning point“. Aber wir sind dem Lauf der Geschichte nicht machtlos ausgeliefert. Wenn einige uns zurück in die Vergangenheit von Nationalismus, Imperialismus und Krieg führen wollen, dann lautet unsere Antwort: Nicht mit uns! Wir stehen für die Zukunft!
Und wenn wir merken, dass unsere Welt multipolarer wird, dann muss uns das anspornen: zu noch mehr Multilateralismus, zu noch mehr internationaler Zusammenarbeit.
Schönen Dank.
Rede von Bundeskanzler Scholz
Jahrestreffen des World Economic Forum am 26. Mai 2022 in Davos
Sehr geehrter Herr Professor Schwab,