Angesichts des sich zuspitzenden Konflikts um die syrische Provinz Idlib hat die Türkei von der Nato mehr Unterstützung gefordert - und mit einer Öffnung ihrer Grenzen zur EU für Flüchtlinge gedroht. Die Türkei werde ihre Grenzen für Flüchtlinge, "die nach Europa wollen", nicht länger schließen, sagte ein ranghoher türkischer Regierungsvertreter am Freitag der Nachrichtenagentur AFP. Die griechische Regierung kündigte eine Verstärkung der Grenzkontrollen "auf das höchstmögliche Niveau" an. Die Nato sicherte der Türkei ihre Solidarität im Syrien-Konflikt zu, stellte aber keine zusätzlichen Unterstützungsleistungen in Aussicht.
Der militärische Konflikt zwischen der Türkei und den syrischen Regierungstruppen war am Donnerstag dramatisch eskaliert. Bei syrischen Luftangriffen auf türkische Stellungen in der nordwestsyrischen Provinz Idlib wurden 33 türkische Soldaten getötet. Die Türkei reagierte mit Vergeltungsangriffen, bei denen am Freitag nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 20 syrische Soldaten getötet wurden.
Die Eskalation belastet auch die angespannten Beziehungen zwischen Ankara und Moskau, dem engsten Verbündeten der syrischen Regierung. Nach Kreml-Angaben stimmten Russlands Staatschef Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem Telefonat am Freitag zwar überein, dass "zusätzliche Maßnahmen" nötig seien, um den in einem Abkommen von 2018 beschlossenen Waffenstillstand in Idlib zu verwirklichen. Zugleich warf Moskau der Türkei indirekt vor, ihren Verpflichtungen aus dem Abkommen nicht nachzukommen. Die syrische Armee habe jedes Recht, auf Verstöße gegen die Waffenstillstandsvereinbarung zu reagieren, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow.
Russland schickte am Freitag zwei mit Marschflugkörpern ausgestattete Kriegsschiffe durch den Bosporus. Zum Ziel der Fregatten wurde zunächst nichts bekannt; meist durchqueren russische Kriegsschiffe die türkische Meerenge aber auf dem Weg nach Syrien.
Bei einem Dringlichkeitstreffen in Brüssel bekräftigte die Nato, hinter dem Bündnispartner Ankara zu stehen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die "rücksichtslosen Luftangriffe" auf die türkischen Soldaten. Damaskus und Moskau forderte er zur Beendigung der Gewalt auf.
Stoltenberg verwies auch auf die bestehenden Maßnahmen der Allianz zur Unterstützung der türkischen Armee, etwa bei der Luftraumüberwachung. Die Nato-Partner prüften "permanent", "was sie noch tun können, um die Türkei darüber hinaus zu unterstützen".
Zuvor hatte der Kommunikationschef der türkischen Präsidentschaft, Fahrettin Altun, die Einrichtung einer Flugverbotszone in Idlib gefordert. Altun verwies zudem auf die hunderttausenden Flüchtlinge im syrisch-türkischen Grenzgebiet, die versuchen würden, "in die Türkei und nach Europa zu fliehen". "Da wir bereits fast vier Millionen Flüchtlinge beherbergen, haben wir nicht die Kapazitäten und Ressourcen, um eine weitere Million Menschen einzulassen."
Nach ersten Berichten über die bevorstehende Grenzöffnung zur EU machten sich laut türkischen Nachrichtenagenturen bereits hunderte Flüchtlinge auf den Weg in Richtung der EU-Grenzen. Nach griechischen Polizeiangaben hielten Grenzschützer im Nordosten Griechenlands hunderte Migranten vom Übertreten der türkisch-griechischen Grenze ab. Auch Bulgarien kündigte eine Verstärkung seiner Grenzkontrollen an der Grenze zur Türkei an.
Die EU rief Ankara dazu auf, ihre Verpflichtungen aus dem EU-Türkei-Flüchtlingspakt einzuhalten. Die türkische Regierung habe Brüssel bisher nicht formell über eine veränderte Flüchtlingspolitik informiert, sagte ein EU-Kommissionssprecher.
Ein Regierungssprecher in Berlin betonte, "der Wert" des Flüchtlingspakts bestehe fort - "sowohl für Europa als auch die Türkei". Die jüngste militärische Eskalation in Nordwestsyrien betrachte die Bundesregierung mit "sehr großer Sorge". Die Zuspitzung der Lage mache "auf dramatische Weise deutlich", wie dringend ein Waffenstillstand in Idlib sei.
Im Nordwesten Syriens geht die syrische Armee seit Dezember mit militärischer Unterstützung Russlands verstärkt gegen islamistische und dschihadistische Milizen vor. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad will die letzte Milizen-Hochburg im Land wieder unter seine Kontrolle bringen. Ein Teil der Assad-Gegner in Idlib wird von der Türkei unterstützt.
Nach UN-Angaben wurden in den vergangenen Wochen 950.000 Menschen aus Idlib vertrieben, darunter eine halbe Million Kinder. Viele von ihnen leben unter katastrophalen Bedingungen in der Grenzregion zur Türkei.
isd/cp
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