Bulletin 79-1
"Sehr geehrter Herr Direktor Hahn,
sehr geehrter Herr Professor Heuss,
lieber Herr Wolfgang Thierse,
liebe Gesine Schwan,
meine Damen und Herren,
manche von Ihnen werden sich vielleicht erinnern, ich jedenfalls weiß es noch gut: Am Silvesterabend 1986 sollte im Ersten Programm nach der „Tagesschau“ wie üblich die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers übertragen werden. Tatsächlich ausgestrahlt wurde dann aber Helmut Kohls Ansprache aus dem Jahr zuvor. Im Sender hatte man – unter wohl nie ganz geklärten Umständen – die Bänder vertauscht. Der Bundeskanzler sei sehr empört gewesen, wurde anschließend berichtet. Die Empörung kann ich natürlich gut verstehen.
Die Pointe ist aber, dass in Wirklichkeit gar kein großer Schaden entstanden war. Unter den Zuschauerinnen und Zuschauern vor dem Fernseher hatten nur die wenigsten den Fehler überhaupt bemerkt. Denn in der Rede fehlten konkrete Bezüge zum abgelaufenen Jahr.
Ich bin mir sicher: Würde dasselbe Missgeschick am Silvesterabend des Jahres 2022 noch einmal passieren, dann würde diesmal ausnahmslos allen auffallen: Da stimmt etwas nicht.
Aber so ist es eben: In manchen Jahren geschieht nur wenig Grundlegendes, und dann, in anderen Jahren, überschlagen sich die Ereignisse und Entwicklungen plötzlich geradezu. Das sucht man sich nicht aus, und das strebt man auch nicht an. Aber wenn so eine Lage eintritt, dann muss man die Herausforderung annehmen.
Bundeskanzler Kohl erlebte so eine dramatische Beschleunigung der Geschichte wenig später ja selbst – 1989, als die friedlichen Revolutionäre der DDR die Mauer zum Einsturz brachten und die Ära des Kalten Krieges endete.
Dieses Jahr, 2022, ist noch nicht einmal zur Hälfte um. Viel kann, viel wird in den nächsten Monaten noch passieren. Aber so viel ist jetzt schon sicher: Auch 2022 werden wir im Rückblick einmal zu den besonders unverwechselbaren und folgenreichen Jahren zählen.
Das Jahr 2022 werden wir in Erinnerung behalten als das Jahr, in dem Russland unter Führung von Präsident Putin die Ukraine überfiel; das Jahr, in dem eine europäische Großmacht erstmals seit vielen Jahrzehnten einen imperialen Angriffskrieg vom Zaun brach; das Jahr, in dem Präsident Putin gewaltsam die europäische und internationale Friedens- und Sicherheitsordnung der Jahrzehnte seit dem Kalten Krieg aufkündigte, das Jahr, in dem der Krieg und die vorausgegangene Coronapandemie weltweit die Preise für Energie, für Rohstoffe und Nahrungsmittel dramatisch in die Höhe schießen ließen – mit all den verheerenden Folgen für die Welternährung, für die Weltwirtschaft und für die Stabilität ganzer Länder und Regionen, die sich heute schon abzeichnen.
Es ist deshalb offensichtlich: Mit seinem barbarischen Angriffskrieg gegen die friedliche Ukraine hat Wladimir Putin eine Zeitenwende heraufbeschworen. Ich habe das schon wenige Tage nach dem Kriegsausbruch im Deutschen Bundestag so gesagt. Und ich habe hinzugefügt: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.
Wie Sie wissen, war ich gerade in Kiew. Wer die Zerstörungen sieht, die dieser Krieg mit sich gebracht hat, wer das mit eigenen Augen sieht, dem wird noch einmal auf ganz eigene Weise klar, was für eine Zäsur dieser Krieg ist.
Gemeinsam mit all unseren Partnern in der EU, in der Nato und in der G7 hat die Bundesregierung auf die neue Lage schnell und entschlossen reagiert: mit harten und wirksamen Sanktionen gegen Russland, mit umfassender wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung für die Ukraine, mit der Aufnahme von Millionen von Geflüchteten in der gesamten EU und über 800.000 hier bei uns in Deutschland und auch, indem wir – im Schulterschluss mit unseren Partnern – der Ukraine diejenigen Waffen liefern, die sie braucht, damit sie sich gegen Russlands Invasion verteidigen kann. Alle diese Maßnahmen tragen dazu bei, dass Putin nicht durchkommt mit seiner imperialistischen Aggression.
Aber es geht um viel mehr: Es geht um die Frage, ob die europäische und internationale Friedensordnung auf Dauer zerbricht und ob es uns gelingt, eine neue Ordnung zu schaffen.
Bei dieser globalen Zeitenwende stehen wir noch ganz am Anfang. Wir bewegen uns sozusagen in unkartiertem Gelände. Genau deshalb aber ist es umso wichtiger, dass wir jetzt den Blick nach vorne richten, dass wir verstehen, wie die Welt sich gerade ändert, welche Kräfte da am Werk sind, wo die Bruchlinien verlaufen, auf welche Akteure es jetzt und in Zukunft ankommt, welche neuen Krisen und Konflikte heraufziehen. Nur dann können wir bewahren, was uns wichtig ist. Nur dann können wir selbst wirksam Einfluss darauf nehmen, in welche Richtung sich die Dinge zukünftig entwickeln werden.
Wenn die Welt sich ändert, dann steht gerade für Deutschland besonders viel auf dem Spiel. Denn unbestreitbar ist: Hinter uns Deutschen liegen, aufs Ganze gesehen, gute Jahrzehnte; Jahrzehnte des Friedens in demokratischer Freiheit, Jahrzehnte wachsenden Wohlstands, Jahrzehnte der inneren und äußeren Sicherheit.
Meinem Buch aus dem Jahr 2017 habe ich seinerzeit den Titel „Hoffnungsland“ gegeben – nicht von ungefähr. Denn für viele Menschen auf der Welt – und für manche von uns selbst überraschend – ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Sehnsuchtsort geworden, zu einem Ort, von dem sie sich ein besseres Leben versprechen.
Und ich will auch sagen: Nirgendwo steht geschrieben, dass nicht auch neue gute Jahrzehnte vor uns liegen können, auch wenn es uns allen gerade schwerfällt, uns das vorzustellen. Aber diese guten Jahrzehnte kommen nicht von selbst. Die Voraussetzungen dafür müssen wir uns neu erarbeiten. Das wird anstrengend. Die Anstrengung fängt damit an, dass wir das Ausmaß und die Tiefe der Umbrüche begreifen, mit denen wir es zu tun haben.
Darum ist diese Tagung so wichtig. Über die Zukunft unserer Demokratie müssen wir gerade jetzt in dieser Zeitenwende gründlich diskutieren. Dazu gehört natürlich unbedingt, dass wir uns intensiv mit all den Fragen auseinandersetzen, die das innere Funktionieren und damit auch die Legitimität – die Strahlkraft – unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung betreffen.
Zunächst können wir anhand der jüngsten Wahlergebnisse eine erfreuliche Entwicklung feststellen: Der so oft als unumkehrbar vorausgesagte Niedergang der Volksparteien und, parallel dazu, der Siegeszug der Radikalen sind hierzulande erst einmal gestoppt, auch wenn die Parteienlandschaft heute anders aussieht als vor Jahrzehnten. Aber wir dürfen diese Entwicklung nicht für unumkehrbar halten.
Was also kann und muss passieren, damit das Ansehen unserer politischen Institutionen dauerhaft gestärkt wird? Was können wir tun, damit die Wahlbeteiligung wieder steigt, besonders bei Landtags- und Kommunalwahlen? Und wie kann es klappen, die zum Glück existierende politische Leidenschaft junger Bürgerinnen und Bürger, die etwa in Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ zum Ausdruck kommt, in nachhaltig wirksames politisches Engagement zu überführen?
Wie kriegen wir es hin, die demokratischen Parteien so zu vitalisieren, dass sie wieder stärker zum Transmissionsriemen werden zwischen gesellschaftlichen Interessenlagen und staatlicher Politik?
Wie kriegen wir es hin, dass unabhängig von Einkommen, von sozialer, regionaler oder ethnischer Herkunft alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land voller Überzeugung sagen: „In der Politik gibt es Leute, die sich mit den Themen beschäftigen, die mir wichtig sind“?
Was muss passieren, damit autoritäre und antidemokratische Tendenzen in unserer Gesellschaft dauerhaft weniger Widerhall finden? Wie schützen wir unsere freiheitliche Demokratie vor dem Einfluss von Verschwörungsmythen und systematisch verbreiteter Desinformation? Auch im Kreis der G7-Staaten werden wir Ende des Monats genau darüber intensiv diskutieren.
All das sind Fragen auf die wir, Politik und Gesellschaft, Antworten geben müssen – das erst recht angesichts der immensen Transformationsaufgaben, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen.
Hinter uns liegen 250 Jahre, in denen unser Wohlstand darauf gründete, dass wir Kohle, Öl und Gas verbrannt haben. Jetzt liegen vor uns etwa 23 Jahre, in denen wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen müssen – und aussteigen werden. Denn darauf haben wir uns verpflichtet: Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral sein.
Die menschengemachte Erderwärmung muss gestoppt werden; sonst wird dieser Planet in Katastrophen versinken. Das wird die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren.
Hinzu kommen die Herausforderungen der Digitalisierung und des demografischen Wandels. Russlands Überfall auf die Ukraine macht keine einzige dieser Herausforderungen weniger dringlich – im Gegenteil.
Große Veränderungen bedeuten immer auch große Ziel- und Interessenkonflikte. Das kann gar nicht anders sein in einer offenen, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft. Wolfgang Thierse hat das gerade geschildert.
Lösen werden wir diese Konflikte nur mit sehr viel Pragmatismus, mit der Bereitschaft zu Kooperation und Kompromiss auf allen Ebenen von Gesellschaft und Staat. Genau deshalb habe ich übrigens Anfang dieses Monats eine neue „Konzertierte Aktion“ ins Leben gerufen, um mit Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam zu besprechen: Wie gehen wir mit den steigenden Preisen um? Wie können wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten, ohne die Inflation anzuheizen?
Aus demselben Grund habe ich am vergangenen Dienstag erstmals die neue „Allianz für Transformation“ ins Kanzleramt eingeladen. Diese Allianz wird den Umbau unseres Landes und unserer Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität eng begleiten und dabei helfen, Interessengegensätze auszugleichen.
Im Programm dieser Tagung habe ich gesehen: Um genau solche Interessengegensätze werden sich Ihre Debatten an diesem Wochenende drehen.
„Demokratie oder Klimaschutz?“ – mit einem Fragezeichen: Das ist der Titel einer Ihrer Diskussionsrunden. „Mehr Bürgerbeteiligung!?“ – gefolgt von einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen: So ist eine weitere Session überschrieben. Das ist geschickt zugespitzt. Hier werden schon im Titel die schwierigen Widersprüche und Zielkonflikte herausgearbeitet, mit denen wir es zu tun haben und die wir auflösen müssen.
Darum glaube ich, dass Ihre Leitfragen dieser Tagung an den Kern der Aufgaben rühren, die vor uns liegen und für die wir kluge Lösungen finden müssen. Auf die Antworten, die Sie gemeinsam in den nächsten beiden Tagen hier im Politischen Club entwickeln werden, bin ich deshalb sehr gespannt. Wolfgang Thierse und Gesine Schwan, ich wäre sehr froh, wenn ihr mir von euren Ergebnissen berichten würdet.
Ich will den Fokus aber noch etwas weiten – nicht im Widerspruch zum bisher Gesagten, auch nicht im Widerspruch zu den zentralen Themen dieser Tagung, aber vielleicht doch als notwendige Ergänzung. Ich glaube nämlich, dass wir den Bezugsrahmen unserer Überlegungen weiter aufspannen müssen.
Meine These lautet: Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich nicht bei uns allein. Vielmehr wird „unsere“ Demokratie – verstanden als „unsere“ Demokratie hier in Deutschland und Europa – nur in dem Maße glücken und gedeihen, wie die Demokratie auch weltweit glückt und gedeiht.
Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts gilt das mehr als jemals zuvor, denn mehr als jemals zuvor steht die Welt vor wahrhaft globalen und gemeinsamen Herausforderungen. „Unsere“ Demokratie – das sind in diesem Sinn die Demokratien weltweit.
Ob es darum geht, die Klimakrise zu bewältigen, ob es darum geht, die Globalisierung klug, solidarisch und nachhaltig zu gestalten, ob es darum geht, Covid-19 zu besiegen und neue Pandemien zu verhindern: Bei keiner einzigen globalen Herausforderung reicht es aus, wenn nur wir in Deutschland, Europa oder im klassischen Westen uns zu diesen Zielen bekennen.
Wenn es uns wirklich ernst ist mit diesen Zielen, dann brauchen wir gleich oder ähnlich gesinnte Partner. Dann brauchen wir neue Partner. Dann brauchen wir auch mehr Partner. Denn mit unseren klassischen Partnern im so genannten Westen allein bringen wir demografisch und ökonomisch schon heute nicht mehr genug Gewicht auf die Waage.
Das gilt auch für den Verbund der klassischen demokratischen Industriestaaten der G7, also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA. Heute repräsentieren die G7 zusammen zwar noch 45 Prozent der globalen Wirtschaftskraft, aber gerade einmal zehn Prozent der Weltbevölkerung.
Der Anteil dieser Staaten an der Weltbevölkerung schwindet, aber auch das relative wirtschaftliche Gewicht des Westens nimmt ab. Schon 2050 werden sich unter den sieben größten Volkswirtschaften der Welt voraussichtlich fünf Länder befinden, die wir heute noch als „Schwellenländer“ bezeichnen: China natürlich, aber wahrscheinlich auch Indien oder Indonesien, Brasilien oder Mexiko. Viele andere Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika gewinnen ökonomisch und demografisch immer mehr an Gewicht.
Überall auf der Welt haben sich Gesellschaften auf den Weg gemacht. Überall auf der Welt ergreifen viele Millionen, ja Milliarden von Menschen entschlossen die neuen Chancen und die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Globalisierung bringt. Und selbstverständlich fordern die aufstrebenden Staaten deshalb auch größeren politischen Einfluss ein.
Was da entsteht, ist eine wahrhaft multipolare Welt. Auch diese Entwicklung bedeutet eine globale Zeitenwende – keine schockartig losgetretene Zeitenwende wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern eine langfristige Umwälzung der globalen Verhältnisse, die deshalb umso tiefgreifender wirkt.
Manchen Bürgerinnen und Bürgern in den klassischen westlichen Demokratien macht dieser Prozess Angst. Sie fühlen sich bedroht, sie fühlen den Macht- und Kontrollverlust. Mein Eindruck ist: Die Attraktivität rechtspopulistischer und rassistischer Theoreme, bis hin zur Verschwörungserzählung vom angeblich „Großen Austausch“, ist auch vor dem Hintergrund dieser ganz grundlegenden globalen Verschiebungen zu erklären. Viele spüren, dass sich vieles grundlegend verändert. Das verursacht Unbehagen, eben auch Angst, zuweilen sogar Wut.
Darum will ich hier sehr deutlich sagen: Der Aufstieg der Länder des globalen Südens bedeutet keine Bedrohung. Er bedeutet jedenfalls dann keine Bedrohung, wenn wir es hinbekommen, dass die multipolare Welt auch eine multilaterale Welt sein wird; eine Welt, in der Regeln gelten, die allen ersichtlich sind und an die sich alle halten; eine Welt, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im wohlverstandenen Eigeninteresse verlässlich und regelbasiert kooperieren, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen.
Das klingt nach einer fernen Vision, aber das ist keineswegs so abwegig, wie es sich vielleicht anhört. Der Grund dafür hat einen Namen: Demokratie. Denn das ist die große Gemeinsamkeit, die uns mit gar nicht wenigen aufstrebenden Ländern des globalen Südens verbindet: Wir sind Demokratien.
Wohlgemerkt: Die meisten Demokratien auf der Welt funktionieren anders als bei uns, und in vielen anderen demokratischen Gesellschaften würde man über unsere Wahlrechts- und Bürgerbeteiligungsdebatten vielleicht nur etwas müde lächeln – was sie nicht falsch macht. Aber dort hat man oft ganz andere Sorgen, und zwar größere.
Wahr ist: Jede Demokratie ist ein Unikat. Oder um es in den Worten von Kofi Annan zu sagen: „There are as many different forms of democracy as there are democratic nations in the world.” Nicht jede dieser Demokratien funktioniert immer völlig reibungslos, unsere eigene im Übrigen ja auch nicht.
Wahr ist jedenfalls: In manchen Staaten mit demokratischen Traditionen sind in jüngerer Zeit ungute Verschiebungen in Richtung Autoritarismus zu verzeichnen, auch hier bei uns in Europa. „Democratic backsliding“ wird das genannt. Solche Entwicklungen sind besorgniserregend; unumkehrbar sind sie aber nicht.
Sogar die Autokraten oder Diktatoren dieser Welt behaupten ja gern, die wahren Vollstrecker des Volkswillens zu sein, und zwar fast überall. Es ist eine verblüffende Zahl, aber überhaupt nur sieben Staaten auf der Welt nehmen nicht für sich in Anspruch, Demokratien zu sein. Das sind Saudi-Arabien, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Brunei, Afghanistan – und der Vatikan.
Alle anderen Regierenden dieser Welt, die nicht demokratisch regieren, auch in vermeintlichen Volksrepubliken, berufen sich zur Legitimation der eigenen Herrschaft auf ihr Volk – und erinnern damit unfreiwillig jedes Mal an das Prinzip demokratischer Volksherrschaft. Das ist nicht trivial. Denn damit bleibt Demokratie, wie pervertiert auch immer die Praxis in den Ländern ist, die Grundlage jeder Legitimation. Genau das eröffnet Spielräume für demokratische Dissidenz und Opposition, die auf die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweist.
„Wir sind das Volk“: Das riefen im Herbst 1989 millionenfach die demokratischen Revolutionäre in der DDR, und genau daran zerbrach am Ende die eben nur behauptete demokratische Herrschaft der SED. Daran zerbrach am Ende die Herrschaft jener Staatspartei, die ja schon das Aufbegehren der Ostdeutschen am 17. Juni 1953, heute vor 69 Jahren, überhaupt nur mit brutaler Gewalt hatte niederschlagen können. Wolfgang Thierse hat uns eben noch mal davon berichtet.
Das ist also eine gute Nachricht: Wo immer sich Herrscher auf den Volkswillen berufen, da bleibt mehr Demokratie, bessere Demokratie, wirkliche Demokratie, gegen sie erkämpft, eine Möglichkeit am Horizont. Das macht Mut.
Mut macht ebenfalls, dass alle wirklich demokratischen Staaten dieser Welt eine ganz zentrale Eigenschaft gemeinsam haben. Demokratien sind nämlich diejenigen Staaten, in denen es sich die Regierenden nicht leisten können, regelmäßig und systematisch über die Wünsche und Interessen breiter Mehrheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger hinwegzusehen.
Abraham Lincolns berühmtes Demokratie-Axiom gilt unvermindert: „You can fool all the people some of the time and some people all the time. But you can never fool all people all the time.”
Wenn Regierende in Demokratien dies dennoch versuchen, dann zeigen ihnen die Wählerinnen und Wähler irgendwann die Rote Karte.
Genau hier liegt der entscheidende Vorteil demokratisch verfasster Gesellschaften im Vergleich zu autoritären Regimen. Darauf hat der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic überzeugend hingewiesen, und deshalb möchte ich ihn auch zitieren:
„Da (die Demokratie) eine unablässige Konsultation der Bevölkerung erforderlich macht, stellt sie auch ein sehr wirksames Korrektiv für wirtschaftliche und soziale Entwicklungen dar, die sich nachteilig auf das Wohlergehen des Volkes auswirken. (…)
Wer glaubt, die Demokratie habe keinen Nutzen als Mechanismus zur Abwendung schädlicher Entwicklungen, muss der Überzeugung sein, dass die Bevölkerungsmehrheit über eine lange Zeit hinweg beharrlich falsche (oder irrationale) Entscheidungen fällen wird. Das scheint unwahrscheinlich.“
Dagegen neigen, wie Milanovic ebenfalls feststellt, autoritäre Regime „eher dazu, schlechte politische Maßnahmen hervorzubringen und schlechte soziale Ergebnisse zu erzielen, die nicht korrigiert werden können, weil die Herrschenden keinen Anreiz zu einer Kurskorrektur haben.”
Das Zitat ist hier zu Ende, aber man muss ja sagen: Das beste Beispiel dafür, wie richtig diese These ist, liefert gerade Präsident Putin mit seinem auch für Russland selbst so ruinösen Krieg gegen die Ukraine.
Die großen globalen Herausforderungen unseres Jahrhunderts sind offensichtlich und existenziell. Sie betreffen das Leben, das Wohlergehen und die Zukunft der Bürgerinnen und Bürger aller Länder dieser Welt ganz direkt. Und sie verlangen nach Antworten – Antworten, die Diktatoren und Autokraten nicht geben werden und nicht geben können. Nur die Demokratien, nur die Demokratinnen und Demokraten dieser Welt werden dazu fähig sein.
Deshalb bin ich zutiefst überzeugt: Der Demokratie gehört die Zukunft. Den Demokratien dieser Welt gehört die Zukunft. Den Demokratinnen und Demokraten dieser Welt gehört die Zukunft.
Aber: Auch eine demokratische Zukunft kommt nicht von allein. Wir müssen für sie werben. Wir müssen praktisch und mit neuen Partnern für sie arbeiten. Ja, wir müssen dafür kämpfen, dass sie Wirklichkeit wird. Genau das tue ich mit großer Leidenschaft.
Schon am Sonntag kommender Woche werde ich dazu wieder hier in dieser Gegend sein. Nur 50 Kilometer südlich von hier, in Elmau, findet dann unter deutscher Präsidentschaft der Gipfel der G7-Staaten statt. Dabei wird es um all die großen globalen Fragen gehen, die ich bereits angesprochen habe, von Russlands Krieg über den Klimaschutz bis zum Kampf gegen den Hunger.
Es werden nicht nur die Regierungschefs der G7-Staaten selbst sein, die dort miteinander verhandeln. Vielmehr war es mir als Gastgeber besonders wichtig, dass diesmal auch Kolleginnen und Kollegen einiger der bedeutendsten aufstrebenden Demokratien des globalen Südens dabei sein werden.
Nach Elmau kommen werden deshalb die Regierungschefs von Indien und Indonesien als aktuelle und künftige Präsidentschaft der G20, dazu Südafrika und Senegal als Vorsitz der Afrikanischen Union und Argentinien als Präsidentschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten. Sie vertreten Länder und Regionen, deren Mitarbeit die Welt braucht, um die globalen Probleme unseres Jahrhunderts zu lösen. Mit ihnen, mit den Vertretern und mit den Gesellschaften vieler weiterer Länder des globalen Südens müssen wir in Zukunft viel intensiver zusammenarbeiten als bisher. Die Zukunft der Demokratie hängt davon ab, die Zukunft „unserer“ Demokratie.
Vielen Dank."
Die Bundesregierung
Bild: Olaf Scholz/ BMF/ Thomas Koehler/ photothek.net