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Tag der Industrie

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Tag der Industrie mit den wichtigen Themen: Industrie-Transformation, EEG-Umlage, erneuerbaren Energien, Ukraine-Krieg, Klimaclub und die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts.

Sehr geehrter Herr Russwurm,

meine Damen und Herren,

herzlichen Dank für die erneute Einladung zum Tag der Industrie!

Die eine oder der andere von Ihnen erinnert sich ja womöglich noch: Ich war auch im vorigen Jahr hier bei Ihnen. Der Termin war mir seinerzeit sehr wichtig, weil ich ein besonders dringliches Anliegen hatte. Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle gesagt: „Unser Land steht vor einer historischen Veränderung. Wir brauchen in Deutschland eine Politik des Machens, eine Kultur der pragmatischen Entscheidung und der Durchsetzung.“

Heute stehe ich wieder hier vor Ihnen und meine Sätze aus dem vorigen Jahr haben nichts, aber auch gar nichts, von ihrer Bedeutung verloren. Ganz im Gegenteil: Seit dem 24. Februar dieses Jahres gelten sie sogar noch mehr und noch dringlicher. Russlands unerbittlicher Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein fundamentaler Schlag gegen die europäische Friedensordnung und ein eklatanter Bruch des internationalen Völkerrechts. Das bedeutet einen epochalen Umbruch in Europa und der Welt, eine Zeitenwende für uns alle!

Besonders groß ist die Besorgnis in den unmittelbaren Anrainerstaaten Russlands, auch bei unseren baltischen Partnern. Deshalb hatte ich mich sehr darauf gefreut, als Ehrengast heute mit Ihnen die litauische Premierministerin Ingrida Šimonytė begrüßen zu können. Leider kann sie heute nicht hier sein. Von hier aus und sicherlich auch in Ihrer aller Namen: Alles Gute und gute Besserung, liebe Ingrida!

Es ist erst zwei Wochen her, dass ich mich mit Frau Šimonytė und den Premierministern von Estland und Lettland in Vilnius getroffen habe. In diesen Zeiten ist es mir wichtig, dass eines ganz klar wird: Deutschland steht eng an der Seite Litauens und aller unserer östlichen Alliierten.

Dabei belassen wir es nicht bei Worten. Unmittelbar nach Kriegsbeginn haben wir nicht nur die Präsenz der Bundeswehr in Litauen verstärkt, sondern auch die Einsätze unserer Marine und Luftwaffe im Ostseeraum. Und ich habe unseren Freunden in Litauen zugesagt: Deutschland wird eine robuste Bundeswehrbrigade führen, die auch vor Ort in Litauen präsent ist und im Krisenfall unverzüglich mit Kräften aus Deutschland verstärkt wird. Das ist gelebte Solidarität unter Freunden und Verbündeten.

In diesem Geist werden wir in den nächsten Tagen zu den Gipfeltreffen der Europäischen Union, der G7 und der Nato reisen. Jetzt ist die Zeit, in der sich weltweit alle unterhaken müssen, die Demokratie und Freiheit, Menschenrechte und liberale Gesellschaft verteidigen!

Deshalb unterstützt die Bundesregierung auch mit allem Nachdruck die Nato-Beitrittsanträge von Schweden und Finnland. Der Beitritt dieser beiden engen Freunde und EU-Partner zur Nato liegt auch in unserem Interesse: Er stärkt die Nato, er stärkt den europäischen Pfeiler in der Nato. Und er stärkt die Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum. Für die baltischen Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schweden und Finnland gilt das besonders.

Klar ist: Europa und die westlichen Demokratien insgesamt nehmen den gewaltsamen Angriff auf die Ukraine nicht hin. Die Ukraine muss sich gegen diesen Überfall zur Wehr setzen können. Deshalb leisten wir der Ukraine sehr umfangreiche finanzielle und humanitäre Unterstützung. Deshalb liefern wir der Ukraine Waffen – viele davon übrigens auch dank der engen Zusammenarbeit mit deutschen Rüstungsfirmen. Und deshalb arbeiten wir gegen Russland mit beispiellos harten Sanktionen – Sanktionen, die wirken.

Ja, diese Sanktionen schmerzen auch uns selbst. Sie schmerzen unsere Unternehmen. Aber sie sind richtig, denn Freiheit hat ihren Preis. Demokratie hat ihren Preis. Solidarität mit Freunden und Partnern hat ihren Preis. Und diesen Preis sind wir bereit zu zahlen. Darum danke ich dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der deutschen Industrie und der deutschen Wirtschaft insgesamt dafür, dass Sie diesen Kurs von Anfang an unterstützt haben. Schönen Dank dafür!

Wie Sie wissen, war ich in der vergangenen Woche gemeinsam mit Präsident Macron, Premierminister Draghi und Präsident Johannis in Kiew zu Gast. Dort habe ich mir im Vorort Irpin einen eigenen Eindruck von der sinnlosen Zerstörung und Vernichtung verschafft, mit der das russische Militär die Ukraine überzieht. Die Bilder des Grauens, die ich dort gesehen habe, werde ich nicht vergessen.

Zwei Dinge sind für mich seit dieser Reise klarer denn je:

Erstens: Die Ukraine gehört zu uns – sie gehört zur europäischen Familie. Ein Meilenstein auf diesem voraussetzungsvollen europäischen Weg ist der Status eines Beitrittskandidaten. Darüber beraten die Mitgliedsstaaten der EU in den nächsten Tagen. Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Ich werde mich beim Europäischen Rat für eine einheitliche Haltung stark machen.

Ganz klar ist zweitens: Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, auch weiter mit Waffen, und zwar so lange, wie die Ukraine unsere Unterstützung benötigt.

Vor einem Jahr habe ich hier ein Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland abgelegt. Dieses Bekenntnis möchte ich heute ausdrücklich bekräftigen. Vor uns liegt eine große Transformation. Es bleibt dabei: Ich will, dass die deutsche Industrie aus diesem Wandel nicht geschwächt hervorgeht, sondern gestärkt. Ich will, dass es in Deutschland zukünftig nicht weniger industrielle Arbeitsplätze gibt, sondern mehr. Deutschland soll im 21. Jahrhundert klimaneutral werden und dabei zugleich ein international wettbewerbsfähiges Industrieland bleiben. Das ist das Ziel, und dieses Ziel rechtfertigt die allergrößten Anstrengungen.

Nicht nur die Folgen des russischen Angriffskrieges bringen die deutsche Industrie gegenwärtig in schwieriges Fahrwasser. Die internationalen Lieferketten sind oft noch durch die Pandemie gestört. Steigende Preise für Rohstoffe, Waren und Vorprodukte machen den meisten Industrieunternehmen in Deutschland zu schaffen. Besonders heftig ist die Industrie von den stark gestiegenen Preisen für Energie betroffen. Im Mai lagen sie fast 40 Prozent über dem Vorkrisenniveau. Aber auch die Verbraucher in Deutschland spüren die starken Preissteigerungen.

Wichtig ist, dass die externen Schocks zu keiner dauerhaften Inflationsspirale führen. Genau daran muss uns jetzt gelegen sein, und zwar allen Verantwortlichen gemeinsam. Deshalb habe ich Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik zur Konzertierten Aktion ins Bundeskanzleramt eingeladen. Der Auftakt findet am 4. Juli statt. „Konzertierte Aktion“, der Begriff steht für die Einsicht, dass sich schwierige Probleme im Miteinander besser lösen lassen als im Gegeneinander. Das ist ein gutes Markenzeichen unseres Landes. Als „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“ bezeichnete einst Karl Schiller die erste Konzertierte Aktion. An genau diesen „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“ werden wir uns deshalb jetzt auch wieder setzen.

Aus demselben Grund habe ich übrigens auch eine Allianz für Transformation etabliert. Das wird ein zentraler Ort des Austauschs, der Ideen und der Positionen, an dem sich die Bundesregierung mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden zu allen wichtigen Fragen der Transformation berät. Weil wir uns fortlaufend darüber verständigen müssen, wie wir in den Stromschnellen der Transformation den richtigen Kurs finden, um unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohlstand neu zu fundieren. Die Auftaktveranstaltung der Allianz war am 14. Juni. Die Diskussion zur Energiewende dort habe ich als sehr, sehr ermutigend empfunden. Alle Teilnehmer haben sich dazu bekannt, dass wir einen gesellschaftlichen Konsens brauchen, damit die Energiewende gelingt.

Es versteht sich von selbst, dass es sowohl bei der Konzertierten Aktion als auch bei der Allianz für Transformation auch auf den Beitrag der deutschen Industrie ankommt. Als ich im vergangenen Jahr hier bei Ihnen war, habe ich darauf gedrängt, dass wir in Deutschland auf allen Ebenen schneller und mutiger werden müssen, dass wir Klartext reden müssen und dass wir nicht länger warten dürfen. Vor allem aber habe ich Ihnen für den Fall meiner Kanzlerschaft vier ganz konkrete Zusagen gegeben.

Heute bin ich hier, um Ihnen zu sagen: Diese vier konkreten Zusagen gelten.

Die erste lautete: Wir werden die erneuerbaren Energien entschlossen ausbauen. Genau das tun wir seit unserem Amtsantritt vor sechs Monaten. Mit dem sogenannten Osterpaket hat die Bundesregierung die größte energiepolitische Gesetzesnovelle seit Jahrzehnten vorgelegt. Das Osterpaket hat wichtige Grundlagen für den beschleunigten Ausbau der Photovoltaik und auch für die Windkraft auf See und an Land geschaffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir reformiert und zentrale Weichen gestellt, um die Energiewende viel konsequenter voranzutreiben als bisher. Erst vorige Woche haben wir im Kabinett die Weichen dafür gestellt, in Zukunft zwei Prozent unserer Landfläche für Windkraft zu nutzen. Als Grundsatz gilt: Die Nutzung erneuerbarer Energien liegt jetzt im überragenden öffentlichen Interesse, und sie dient der öffentlichen Sicherheit.

Das Ziel dabei ist klar. Schon 2030 sollen 80 Prozent unseres Strombedarfs und 50 Prozent der Wärme aus erneuerbaren Quellen gedeckt sein. Damit wird unser Land Schritt für Schritt von fossilen Energieträgern und schwankenden Energiepreisen unabhängig. Für Deutschland insgesamt bedeutet das mehr Energiesicherheit und mehr Energiesouveränität. Für Deutschlands Industrie bedeutet es größere Planungssicherheit und zumindest perspektivisch günstigere Energiepreise.

Meine zweite konkrete Ansage vor einem Jahr: Wir schaffen die EEG-Umlage ab. Auch das haben wir getan. Das Ende der EEG-Umlage war eine der ersten Maßnahmen der von mir geführten Bundesregierung überhaupt. Zum 1. Juli wird sie abgeschafft. – Ja, das waren 25 Milliarden. Noch ist es nicht in Kraft. Sie sollten sich also noch ein bisschen freuen.

Hohe Strompreise sind nicht nur ein Bremsklotz für den Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Sie sind nicht nur ein großes sozialpolitisches Problem, sondern hohe Strompreise belasten auch unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Strompreise zu senken, das ist deshalb das Gebot der Stunde. Schon heute ist der erneuerbare Strom der günstigste Strom. Je besser wir unter Ihrem Motto „Scaling the new“ vorankommen, desto günstiger werden die Erneuerbaren in Zukunft. Das ist der richtige Weg, und diesen Weg müssen wir weiter gemeinsam gehen.

Meine dritte Zusage hieß: beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren! Auch diese Zusage halten wir ein. Das Ziel ist glasklar: Wir müssen die Dauer der Planungs- und Genehmigungsverfahren in unserem Land mindestens halbieren. Klar, da kommen dann viele, die erklären einem ganz detailliert, warum das nicht geht. Andere haben das allergrößte Interesse daran, dass alles so bleibt, wie es ist – all die vielen Lobbyisten, die Bedenkenträger, die Vertreter des Status quo. Und alle haben sie ihre Gründe. Nur eines gerät dabei aus dem Blick, das Wichtigste überhaupt: die Zukunft unseres Landes.

Deshalb werden wir uns den Schneid nicht abkaufen lassen! Wir haben schlicht keine Zeit mehr, um Dinge auf die lange Bank zu schieben. Darum ist 2022 das Jahr der Entscheidungen. Die Bundesregierung wird schon in den kommenden Monaten – bis Jahresende – die Beschlüsse fassen, die wir brauchen, um die Zeit für Planungs- und Genehmigungsverfahren drastisch zu verkürzen.

Eine vierte Zusage habe ich Ihnen vor einem Jahr gegeben: Wir etablieren einen internationalen Klimaclub. Auch diese Zusage gilt. Auch dieses Vorhaben verfolgt die Bundesregierung mit großem Nachdruck. Schon in wenigen Tagen, werde ich als Gastgeber beim G7-Gipfel in Elmau den Startschuss für einen offenen und kooperativen internationalen Klimaclub geben. Ich will hier auch noch einmal sagen, warum uns das so wichtig ist, auch mir persönlich:

Erstens: Wenn wir international keinen gemeinsamen Rahmen für den Klimaschutz schaffen, dann droht uns ein weltweiter Flickenteppich aus Zöllen und Einfuhrabgaben, aus strengen und weniger strengen Regeln. Das wollen wir nicht. Deshalb schaffen wir für alle Mitglieder des Klimaclubs ein „level playing field“ mit vergleichbaren Standards.

Zweitens: Es reicht eben nicht, wenn nur wir und ein paar andere beim Klimaschutz ambitioniert vorangehen. Das allein würde die Klimakrise ja nicht beenden. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Unternehmen oder ganze Branchen nicht in Länder mit laxerem Klimaschutz ausweichen, Stichwort „carbon leakage“. Dem Klimaschutz und unserer Wirtschaft ist letztlich nur dann gedient, wenn weltweit immer mehr Staaten konkrete Vorteile darin sehen, wenn auch sie selbst den Weg Richtung Klimaneutralität einschlagen.

Ohne die wichtigen aufstrebenden Mächte in Asien, Afrika und Lateinamerika kommen wir also nicht voran. Auch deshalb habe ich Vertreter dieser Weltregionen – meine Kollegen aus Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal und Argentinien – zum G7-Gipfel Ende der Woche in Elmau eingeladen. Diese Staaten und Regionen werden wirtschaftlich und demografisch immer wichtiger und fordern darum auch immer mehr politische Mitsprache ein. Ohne sie werden wir in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts kein einziges globales Problem mehr erfolgreich lösen. Deshalb wollen wir auch sie und viele andere aufstrebende Staaten vom Sinn und Nutzen eines Klimaclubs überzeugen.

Der BDI und die anderen beteiligten Verbände unterstützen diese Idee und haben das gestern bei der Übergabe des Business-7-Kommuniqués zum Ausdruck gebracht. Dafür herzlichen Dank!

Sie sehen: Wir haben die Ärmel aufgekrempelt. Unsere Zusagen halten wir ein. Deutschland nimmt wieder Fahrt auf. Aber wir fangen gerade erst an, es geht gerade erst los. Vor uns liegen große Umbrüche, wie wir sie so geballt zu unseren eigenen Lebzeiten noch nicht erlebt haben. Klima, Energiewende, Digitalisierung, die Pandemie, jetzt Putins mörderischer Krieg mit all seinen Folgen für Welthandel, Welternährung und globale Stabilität – die Zeitenwende hat viele Facetten. Wir bewegen uns in unkartiertem Gelände. Aber wir haben einen klaren Kompass.

Vor allem aber: Wir sind nicht allein unterwegs. International stehen wir enger denn je zusammen mit unseren Partnern und Freunden in der EU, in der Nato und der G7. National ziehen wir an einem Strang, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, und zwar – bei allen Interessenunterschieden – am Ende in dieselbe Richtung. Das ist gut so.

Schönen Dank!


Bulletin 80-6


Die Bundesregierung