Am 11. Juli starten die jährlichen, für zehn Tage geplanten Wartungsarbeiten an der Gaspipeline „Nord Stream 1“ durch den russischen Betreiber Gazprom. Politiker, Ökonomen, Unternehmer und Bürger befürchten, dass Russland auf Anordnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin den Förderbetrieb nach Beendigung der Wartung nicht wiederaufnehmen könnte. Was das für die Energieversorgung bedeutet und welche unmittelbaren und mittelbaren Reaktionen ein Gasstopp nach sich ziehen könnte, erklärt Dr. Jörg Lingens, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mikroökonomik, insbesondere Energie- und Ressourcenökonomik der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, im Gespräch mit André Bednarz.
Was passiert auf dem Energiemarkt, wenn Nord Stream 1 nach den Wartungsarbeiten von Russland nicht mehr mit Gas gespeist wird?
Das Gas, das wir beziehen, nutzen wir zum Teil als Energieträger – in der Verstromung sowie für die Erzeugung von Wärme, etwa in privaten Haushalten, aber auch in der Industrie. Der andere Teil wird als Rohstoff in der Industrie verwendet. Schauen wir uns den Energiemarkt an, so können manche Produkte das Gas ersetzen, andere können das nicht. Bei der Verstromung ist das verhältnismäßig einfach, da beispielsweise Kohle anstelle von Gas für die Stromerzeugung genutzt werden kann. Ohnehin wäre der Wegfall des Nord-Stream-1-Gases für die Stromproduktion auch deshalb weniger problematisch, da nur etwa 12 bis 13 Prozent des Erdgases verstromt wird. Bei der sogenannten Prozesswärme ist das erheblich schwieriger. Ein Bäcker kann beispielsweise seinen gasbetriebenen Backofen nicht einfach mit einem anderen Energieträger speisen, ebenso wenig kann ein Haushalt die Gasheizung durch andere Energieträger ersetzen. Das erklärt die mitunter panischen Reaktionen aus der Politik, die seit Wochen und Monaten an die Bevölkerung appelliert, ihr Verhalten zu ändern und weniger Gas, zum Beispiel für die Heizung, zu verbrauchen.
Wie könnte Deutschland einen möglichen Ausfall kurzfristig kompensieren?
Was den Strom betrifft, so befinden wir uns in Europa in einem Verbundnetz. Dadurch wäre es möglich, beispielsweise Atomstrom aus Frankreich oder Kohlestrom aus Polen zu importieren. Mit Blick auf die beginnende Heizperiode in drei Monaten, dem Bedarf an Prozesswärme und der technischen Infrastruktur, sind die kurzfristigen Handlungsmöglichkeiten begrenzter. Die Bundesregierung prüft bereits, welche anderen Quellen genutzt werden können – beispielsweise Flüssiggas. Zwar könnte mithilfe von mobilen Terminals verhältnismäßig schnell das Flüssiggas regasifiziert und in das Netz eingespeist werden. Doch aufgrund der großen Nachfrage würde dieses Mittel allein nicht ausreichen. Möglich wäre zudem, dass die Niederlande und Norwegen ihre Fördermengen erhöhen. Aber: Die energiepolitische Strategie der vergangenen 50 Jahre war sehr stark auf russisches Gas ausgelegt. Es wird nicht möglich sein, das schnell zu korrigieren.
Und eine langfristige Reaktion sähe wie aus?
Man kommt weg von Gas und überlegt, wie andere Technologien eingesetzt werden können. Das passiert schon im Großen wie im Kleinen. So erzählen Heizungsbauer, dass viele Menschen kein Gas und Öl als Brennstoff mehr nutzen wollen.
Bietet ein mögliches abruptes Ende der russischen Gasversorgung also auch Potenziale, die vielleicht erst nach einiger Zeit deutlich werden?
Ja, unter Klimagesichtspunkten ist das, was gerade passiert, möglicherweise gut. Doch es ist noch nicht sicher, ob wir diese Chance wirklich nutzen. Wir wissen zwar, dass eine Veränderung besser wäre. Aber noch ist es viel zu einfach, dieser Veränderung auszuweichen. Das versteht auch die russische Regierung. Ich rechne deshalb damit, dass diese versuchen wird, Deutschland und andere Länder zwischen den Positionen ,billiges Gas‘ und ,vollständige und unumkehrbare Abwendung von russischem Gas‘ zu halten.
Welche Positionen zu diesem Dilemma gibt es zurzeit in Deutschland?
Seit März gibt es Stimmen, etwa aus der Ökonomie, die sagen, dass wir schnell die Abkehr vom russischen Erdgas vollziehen müssen. Die Industrie hingegen will das bremsen, da ihr Geschäftsmodell auf billigem russischem Gas basiert. Die Frage, die wir uns als Gesellschaft stellen müssen, ist: Machen wir Politik für BASF oder für die Menschen in Deutschland? Dass sich der Vorstandsvorsitzende des größten deutschen Chemiekonzerns für billiges Erdgas ausspricht, ist nachvollziehbar, da er die Interessen seines Unternehmens im Blick hat. Für die Gesellschaft wäre es aber am besten, wenn wir uns jetzt festlegen und uns dem Wandel verschreiben. Das mag zwar zunächst schwierig, ja, unangenehm und teuer sein, aber der Schritt muss so oder so kommen, ob wir ihn hinauszögern oder nicht.
Sie sprechen davon, dass es unangenehm werden könnte. Heißt das, dass wir bald nur noch kalt duschen dürfen?
Jeder wird weiterhin warm duschen können. Allerdings muss klar sein, dass das etwas kostet. Gesellschaftlich sehen wir gerade sehr deutlich das, was Ökonomen als ,externen Effekt‘ bezeichnen. Dabei handelt es sich um die Konsequenzen einer Handlung, die man nicht mit einem Preis versehen kann. Der externe Effekt, den wir jetzt vor allem zu spüren bekommen, ist eine politisch verursachte Abhängigkeit, die mit dem Kauf billigen russischen Gases entstanden ist. Diese ‚Kosten‘ wurden nie eingepreist, wie wir nun schmerzlich lernen müssen.
Rechnen Sie damit, dass Putin uns vollends den Hahn zudreht?
Russland ist auf die Gaseinnahmen angewiesen. Deshalb glaube ich nicht, dass Putin nach der Wartung dauerhaft das Gas abdrehen wird. Für uns wird es dennoch sehr teuer, da Putin vermutlich das Gas abdrehen und die Reaktionen beobachten wird. Erkennt er hierzulande eine große Unruhe, wird er den Hahn wieder etwas aufdrehen und Gas liefern. Sein Kalkül wird dabei sein, dass die Menschen sich angesichts des Wunsches nach billigem Gas für einen Frieden in der Ukraine aussprechen und nach vorne blicken.
Das käme aber einer anhaltenden Erpressung gleich, oder?
Genau. Meiner Einschätzung nach wäre es falsch, auf die Beschwichtigung Russlands und damit auf den weiteren Bezug von Erdgas zu setzen. Wenn wir uns dieser Option mit einem großen Ehrenwort entledigen, indem wir ein plausibles Ausstiegszenario wählen, wäre viel gewonnen.
Apropos Ehrenwort: Ein solches gab es 2011 mit dem für 2022 beschlossenen endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft. Wird an diesem Ehrenwort gerade gerüttelt, und wäre das sinnvoll?
Die drei laufenden Meiler könnten nur ein Drittel der Verstromung durch Gas kompensieren – also vier Prozent des Gasverbrauchs. Zwar wäre es theoretisch möglich, noch mehr Atomkraftwerke zu reaktiveren, aber auf viel mehr als zehn Prozent Gasverbrauch, der dadurch für andere Verwendungen frei würde, wird man nicht kommen. Ohnehin ist die Stromerzeugung nicht unser größtes Problem.
Könnte der viel beschworene grüne Wasserstoff Abhilfe schaffen und den Prozesswärmemarkt stabilisieren?
Derzeit gibt es viel zu wenig grünen Wasserstoff. Es wäre zwar perspektivisch wichtig, das zu ändern, aber auch bei der Umstellung auf diesen Energieträger gibt es technische Schwierigkeiten, vor allem bei der Nutzung der Gasinfrastruktur. So oder so wird auch diese Transformation zunächst sehr teuer werden und die Hilfe externer Partner brauchen.
Gegenwärtig (noch) der Gashandel mit Russland, zukünftig mit Katar: Ist die globale Vernetzung eine Chance, die Probleme zu lösen, oder hat uns dieser weltumspannende Freihandel auch einige der Probleme erst beschert?
Das Kronjuwel der ökonomischen Argumente der vergangenen 50 Jahre war: Arbeitsteilung sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Volkswirtschaften bringt eine Verbesserung für alle. Die Annahme ist, dass jeder einen Vorteil hat, also in Relation zu anderen gesehen einen größeren Nutzen erbringen kann. Dadurch entsteht eine Arbeitsteilung, die für alle gewinnbringend ist. Insbesondere die Politik- und Sozialwissenschaften haben der Ökonomie aber aufgezeigt, dass sie einige Folgen dieser Arbeitsteilung außer Acht gelassen hat: Machtungleichheit, Menschenrechtsverstöße, politische Abhängigkeiten. Die Ökonomie hat immer sehr stark auf die Vorteile hingewiesen, da diese schließlich für alle Beteiligten entstehen. Strategische Externalitäten wurden oft nur unzureichend berücksichtigt. Nun stellen wir aber fest, dass es externe Faktoren und Kosten gibt, die berücksichtigt werden müssen – vor allem wenn es um politisch-strategische Faktoren geht. Dies geschieht langsam, dennoch müssen wir uns auch in Zukunft vergegenwärtigen, dass die Wohlfahrtsgewinne der Spezialisierung, also der Arbeitsteilung und des Freihandels, enorm groß sind. Auf wie viele dieser Wohlfahrtsgewinne wir bereit sind zu verzichten, indem wir uns beispielsweise durch nationale oder europäische Produktionen absichern, müssen wir uns fragen. Bisherige ökonomische Modelle bilden die Abhängigkeitsdimensionen noch zu wenig ab.
WWU
Foto: Auch Haushalte könnten von einem russischen Erdgaslieferstopp betroffen sein / © unsplash - Kwon Junho