„Deine Stimme erheben und singen
Ehe uns Hören und Sehen vergeht
Gegensätze in Einklang zu bringen
In einer Sprache, die jeder versteht […]
Deine Stimme erheben und singen
Ehe das Meer in der Wüste ertrinkt
Um die Gleichgültigkeit zu bezwingen
In einer Sprache, die glaubwürdig klingt […]
Deine Stimme erheben und singen
Gegen die Schwerkraft der Melancholie
Alle Schatten der Angst überspringen
In einer Sprache der Philharmonie […]“
Ich bin mir sicher, einige von Ihnen hier im Saal haben diese Verse wiedererkannt: Sie stammen aus dem Liedtext „Die Welt braucht Lieder“ von Udo Jürgens, dem großen Entertainer und Chansonnier.
Wie sehr die Welt, wie sehr wir alle Lieder brauchen, das haben wir in den letzten zwei Jahren, in den Wochen und Monaten des Lockdowns erfahren. Die Musik hat in den vergangenen zwei Jahren vielen von uns geholfen, die „Schwerkraft der Melancholie“ zu überwinden und besser durch die einsamen und bedrückenden Tage zu kommen.
Manche haben in der vom Virus erzwungenen Pause endlich mal wieder den Klavierdeckel aufgeklappt und in die Tasten gegriffen; andere haben angefangen, sich mit Hilfe von Online-Tutorials das Gitarrespielen beizubringen; viele haben sich im Internet Hauskonzerte von ihrer Lieblingscellistin oder ihrer Lieblingsband angehört und angeschaut.
Zugleich haben Millionen Menschen in der Coronapause das gemeinsame Musikerlebnis, das öffentliche Musikleben schmerzlich vermisst. Das klassische Konzert in der Philharmonie oder der Kirche, die Jamsession im Jazzkeller um die Ecke, die Electrobeats im Tanzclub oder der große Rausch eines Rockfestivals – all das hat uns gefehlt, und glauben Sie mir, manches davon auch mir.
Vor allem aber haben die Freundinnen und Freunde der Musik, haben Sie alle hier im Saal das gemeinsame Singen und Musizieren vermisst: das Miteinander in ihrem Chor, ihrem Orchester oder ihrer Band; die Konzentration, die Energie und das Glück bei den Proben; das Lampenfieber vor den Auftritten und Konzerten und natürlich den Applaus des Publikums.
Wir haben in der Pandemie beides erfahren: dass die Welt Lieder braucht, dass sie aber auch das gemeinsame Musikerlebnis braucht. Mit anderen Worten: Immer nur auf dem Heimtrainer sitzend zu singen oder auf Youtube mit seinen Tubakünsten anzugeben, ist auf die Dauer auch keine Lösung.
Sie alle hier im Saal stehen für die Freude am gemeinsamen Singen und Musizieren. Sie stehen für die vielen Millionen Männer, Frauen und Kinder, die in unserem Land zusammen mit anderen Musik machen – nicht beruflich, sondern in ihrer Freizeit. Und Sie stehen für die Kraft der Musik, die immer wieder Bewegung und Veränderung bringt. Drei Tage lang haben Sie Neubrandenburg mit Ihren Chören und Orchestern zum Klingen gebracht. Sie haben Zuhörerinnen und Zuhörer aus allen Teilen Deutschlands mit klassischen und modernen Tönen begeistert, und ich freue mich, dass ich heute selbst die eine oder andere Hörprobe genießen darf.
Meinen herzlichen Dank dem Bläserensemble, das mich eben empfangen hat, dem Mädchenchor des Musikgymnasiums Demmin und – das haben wir gerade gehört – dem „Jellyfish Jazz Orchestra“. Die drei haben etwas von der ganzen Bandbreite der Amateurmusik gezeigt.
Ich freue mich auch, dass wir heute Vormittag endlich wieder zum traditionellen Festakt zur Verleihung der Zelter- und der Pro-Musica-Plakette zusammenkommen konnten, hier in dieser wunderschönen Konzertkirche in Neubrandenburg, mitten in Mecklenburg-Vorpommern.
Vor zwei Jahren sollte der Festakt eigentlich in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt stattfinden, und ich hatte schon eine Rede vorbereitet, in der es um das Bauhaus-Orchester ging – übrigens ein wirklich großartiges Ensemble der Musikgeschichte, das mit selbstgebauten Instrumenten schrägen und scheppernden, aber immer tanzbaren Lärm erzeugte. In der Stadt des Bauhausorchesters war 2020 alles vorbereitet für ein großes Fest der Amateurmusik, das wegen der Pandemie dann sehr kurzfristig abgesagt werden musste. Eine große Enttäuschung für alle, die sich darauf gefreut und darauf hingearbeitet hatten, vor allem in der Region. Deshalb hier aus Neubrandenburg heute einen Gruß von uns allen nach Dessau!
In diesem Jahr zeichnen wir, wenn ich das eben richtig gehört habe, 63 Chöre mit der Zelter-Plakette und 44 Orchester mit der Pro-Musica-Plakette aus. Es sind Gesangvereine, Kirchenchöre, Blas- und Zupfensembles, Streich- und Sinfonieorchester aus allen Bundesländern, die auf eine mindestens hundertjährige Geschichte zurückblicken können.
Hier im Saal sind Vertreterinnen und Vertreter von ganz vielen der ausgezeichneten Formationen versammelt. Sie alle stehen für das Musikland Deutschland, für ein Land, in dem Millionen Menschen in ihrer Freizeit singen und musizieren, und das eben am liebsten gemeinsam mit anderen. Und Sie alle stehen für die lange Tradition von Menschen, für die Musik nicht der Beruf, aber Berufung ist.
Manche von Ihnen pflegen das kulturelle Erbe ihrer Region, andere entdecken musikalisch die Welt. Und manche halten alte Lieder lebendig, andere wecken Begeisterung für neue Musik. Auch hier in Neubrandenburg war in den vergangenen drei Tagen zu hören, wie vielseitig Heimat in unserem Land mittlerweile klingt, wie sehr es uns bereichern kann, wenn Altes und Neues zusammenkommen.
Sie stehen für den musikalischen Reichtum, aber auch für die gesellschaftliche Vielfalt unseres Landes. In Ihren Chören und Orchestern kommen Frauen und Männer, Jung und Alt, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur zusammen, lernen sich beim Singen und Musizieren besser kennen und verstehen.
Sie alle hier wissen aber auch: Ein harmonisches Zusammenspiel stellt sich nicht einfach von selbst ein, es muss immer wieder aufs Neue eingeübt werden. Und dazu gehört dann auch mal, im Proberaum über Repertoire, Tempo oder Betonung zu diskutieren und zu streiten, um „Gegensätze in Einklang“ zu bringen.
Gemeinsames Musizieren lehrt so ganz nebenbei Tugenden, die wir auch für ein gutes Miteinander in unserer Gesellschaft brauchen: Am Ende gelingt das Zusammenspiel vieler Stimmen und Temperamente nur, wenn wir einander zuhören und uns aufeinander einlassen, wenn jeder Einzelne von der Gesamtheit respektiert und getragen wird. Ich finde, in einer Zeit, in der es in der öffentlichen Debatte oft nur noch darum geht, den anderen zu übertönen, ist es wichtiger denn je, diese Tugenden lebendig zu halten!
Chöre und Orchester müssen gehegt und gepflegt werden, sonst werden sie keine hundert Jahre alt. Mein Dank gilt heute allen, die sich ehrenamtlich, im Nebenjob oder im Beruf für die Amateurmusik engagieren: den Chorleitern, Dirigentinnen und Bandleadern, die mit Leidenschaft und Geduld am Repertoire arbeiten und ihre Sängerinnen und Musiker immer wieder inspirieren; den Organisationstalenten, die Auftritte und Konzerte planen und sich um Noten, Instrumente, Finanzen und Förderer kümmern; den Musiklehrerinnen und -lehrern, die junge Menschen für Musik begeistern und dafür sorgen, dass die Freude am Singen und Musizieren auch in Zukunft weiterleben kann.
Sie alle sorgen mit ihrem Talent, ihrer Kraft und ihren Ideen dafür, dass die Musik in unserem Land nicht verklingt. Sie alle stiften Lebensfreude, und sie fördern nicht zuletzt den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ihnen allen meinen herzlichen Dank; ich finde, Ihr gemeinsames Engagement hat heute einen Riesenapplaus verdient!
Ich freue mich sehr, dass ich gleich das Berliner Ärzte-Orchester von 1911 und den Gemischten Chor Mahlow von 1912 persönlich auszeichnen darf, stellvertretend für alle anderen geehrten Formationen.
Das Berliner Ärzte-Orchester wurde vor 112 Jahren von einem Augenarzt gegründet, der seine Kollegen aus der Medizin dazu bewegen wollte, nicht immer nur Haus- und Kammermusik zu machen, sondern sich auch mal gemeinsam an größere Werke auch vor Publikum heranzuwagen. Heute spielen im Ärzteorchester längst Menschen aus ganz verschiedenen Berufen zusammen, aber der hohe künstlerische Anspruch ist geblieben: Das Orchester führt sinfonische Werke der Romantik und zeitgenössische Kompositionen auf, manchmal auch in ganz großen Konzertsälen.
Der Gemischte Chor Mahlow dagegen ist eine Gemütsbewegung der anderen Art; er bringt, wie ich in einer Lokalzeitung gesehen habe, die Seele zum Rocken. Er trägt Volkslieder, Operetten, Musicals, Weihnachts- und Kirchenlieder vor – und überrascht sein Publikum im Vereinshaus der Brandenburger Gemeinde immer wieder mit neuen Ideen.
Seinen bislang größten Erfolg feierte der Chor vor der Coronapause, als er die Menschen in der Region mit Liedern und Texten von, Sie ahnen es, Udo Jürgens beglückte – deshalb war ich mir vorhin so sicher, dass der Auftakt meiner Rede bei manchen hier im Saal zum Ohrwurm werden würde.
Aber der Liedtext ist eben nicht nur ein Ohrwurm, er ist ernsthaft und leider höchst aktuell. Die Welt braucht Lieder, „um die Gleichgültigkeit zu bezwingen“ und die „Schatten der Angst“ zu überwinden – dass das nötig ist, erfahren wir auch in diesen Tagen. Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Nachrichten und Bilder von Tod, Leid und Zerstörung, all das erschüttert und beängstigt uns, es macht uns traurig und wütend. Aber die Musik ermöglicht uns auch kleine Fluchten, sie ist eine Quelle, aus der wir immer wieder Kraft und Trost schöpfen können – für unsere Aufgaben in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft oder in der Politik. Die Welt braucht Lieder – und unser Land braucht Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker. Es braucht Menschen wie Sie!
Ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein und Sie vor allen Dingen gleich alle hören zu können, wenn wir gemeinsam singen. Vielen Dank!
Bulletin 93-1