Kapitel 5
Da Irmi selten in dieser Ecke ihrer Stadt unterwegs war, nutzte sie nach dem Besuch bei David die Gelegenheit, die Gegend mit dem Rad noch ein wenig zu erkunden. Die 67 Kilometer lange Werse, ein Zufluss zur Ems, lag unweit entfernt. Es hatte eine Zeit gegeben, als Irmi auf dem kleinen, idyllischen Fluss, mit ihrer damaligen Clique, ausgedehnte Paddeltouren unternommen hatte. “Das muss wohl etwa 30 Jahre her sein” dachte sie ein wenig wehmütig. Seit damals war sie nur selten an die Werse gefahren. Und schon gar nicht zum Paddeln. Das sollte sie unbedingt mal wieder machen. Was wohl Schmidt dazu sagen würde. Sie nahm sich vor, ihn mit einer Paddeltour- irgendwann in diesem Sommer - zu überraschen.
Irmi schmunzelte in sich hinein, als sie Schmidt in kurzer Hose und mit
einer Tube Sonnencreme vor ihrem geistigen Auge in ein Paddelboot klettern sah.
Da würde sie einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen. Aber ihr würde schon
noch der passende Köder einfallen, den sie ihm vor die Nase halten könnte.
Schade, dass ihr Schmidt nicht Gitarre spielen konnte. Das würde so einem Ausflug
noch eine extra romantische Note geben.
Ihre Gedanken wanderten beim Stichwort Gitarre zurück zu David. Was hatte sie bisher herausgefunden? Sie musste ihre ersten Erkenntnisse unbedingt erst einmal sortieren. “Teambesprechung mit Schmidt”.
Bei diesem Gedanken riss sich Irmi von der nostalgischen Betrachtung der glitzernden Wellen der Werse los und bog in die nächste Straße rechts ein, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. Schmidt hatte eindeutig signalisiert, dass er sie bei ihren Ermittlungen unterstützen würde. So stieselig er auch ab und an war. Sollte sich in ihren bisherigen Informationen bereits so etwas wie eine heiße Spur verstecken, würde “Mr. Logik” sie finden.
Irmi freute sich, dass sie und Schmidt endlich einmal wieder ein gemeinsames Thema teilen konnten. “Fühlt sich fast schon wie ein gemeinsames Hobby an” dachte sie belustigt. Irmi trat in die Pedale. Zu einer Radtour könnte sie Schmidt sicher auch mal überreden. Es müsste nur das richtige Ziel sein. Irgendwas geschichtsträchtiges. Voller Optimismus und mit bunten Plänen für künftige gemeinsame Unternehmungen bog Irmi endlich vom Cherusker Ring in die Nordstraße ab.
Zuhause angekommen ließ sie ihre Tasche im Flur fallen und rief: “Ist etwas
später geworden. Sorry, Schmidt. Aber ich bin nicht mit leeren Händen gekommen. Ein paar
interessante Fakten konnte ich...” Irmi stürmte in die Küche “Mist!” dachte
sie, als sie den kleinen Zettel auf dem Tisch entdeckte. Schmidt war schon beim
Kneipenquiz. Sie nahm den Zettel in die Hand und griff nach ihrer Lesebrille,
die Schmidt direkt danebengelegt hatte. “Mein Schmidti!” Irmi lächelte.
“Bestens informiert für die Sparte U! Georgia hat ‘The Voice
Kids’ gewonnen und Boris Becker darf im Wandsworth Knast nur zweimal in der Woche duschen. Drück mir die Daumen.
Kuss Schmidt.
P.S. Habe die Reichers gegoogelt. Interessant! Mehr
später!” Irmis Lächeln hatte sich beim Lesen der Zeilen in ein breites Grinsen
verwandelt.
Hoffentlich würde Schmidt nicht zu spät nach Hause kommen. Sie war
neugierig, was es über die Reichers Interessantes im Netz zu
entdecken gab. Irmi Magen knurrte. Kein Wunder, hatte
sie doch seit Stunden nichts mehr gegessen. Sie öffnete den Kühlschrank, ließ
den extrem lecker aussehenden Schinken schweren Herzens links liegen und griff
stattdessen zum veganen Brotaufstrich, den sie letztens im Biomarkt erworben
hatte.
Zwei etwas dröge Schnitten später saß sie mit Zettel und Stift am Tisch und
begann ihre bisherigen Informationen zu sammeln. “Schade, dass ich
nicht so ein großes Whiteboard nutzen kann.” dachte
sie. “So wie die Ermittler im Fernsehen.
Alle relevanten Personen notieren, Beziehungslinien
zeichnen, Motive notieren. Und wenn es neue Erkenntnisse gibt. Einfach
wegwischen, ändern, hinzufügen...” Grübelnd sah sich Irmi in der Küche um.
Nichts. Langsam wanderte sie durch die Wohnung. “Das ist es!” dachte sie
jubelnd. Kurz entschlossen versuchte Irmi den übergroßen Spiegel von der Flurwand zu nehmen. “Viel zu schwer” Ächzend gab Irmi
auf, denn der Rücken zwickte bereits. “Okay. Dann bleib doch einfach hängen.
Wir werden Dich trotzdem bekritzeln.” Irmi räumte das Bänkchen und das
Sideboard, welche unter dem Spiegel platziert waren zur Seite. “So geht's”
triumphierte sie. In einer Küchenschublade, in die bei den Schmidts allerhand nützliche und unnützliche Dinge
zwischengelagert wurden, fand Irmi noch abwischbare Textmarker in drei
verschiedenen Farben.
Aufgeregt machte sie sich nun an ́s Werk, um ihr
Profile-Board fertigzustellen. David - ganz symbolisch in rot für das Blut, das
er vergießen musste - mittig auf die Tafel. Rundherum notierte sie alle, ihr
bisher bekannten Personen, die mit David zu tun hatten. Finn, der Vater, die
Mutter und eine Schwester in
einem neutralen grün. Die Familie hatte sie zwar
bisher nicht kennengelernt, aber die gehörten selbstverständlich zu einer
ordentlichen Fallanalyse dazu. Und dann noch, in Schwarz für das Böse, zwei
Kreuze, stellvertretend für die beiden unbekannten Täter, plus einem weiteren
schwarzen Mr. X, den der Vater gesehen hatte. Zwischen Finn und David notierte Sie “Freunde”, zwischen dem Vater und David -
schrieb sie “schwieriges Verhältnis?”. Die Verbindungslinien zwischen David und
den drei Unbekannten wurden mit Fragezeichen und dem Wort “Motiv” versehen.
Einem Impuls folgend zeichnete sie über David noch eine Gitarre.
Schließlich war die Gitarre entwendet worden. “Und zwar nur die
Gitarre” murmelte Irmi halblaut vor sich hin. Das vom
Markttag gut gefüllte Portemonnaie, welches in Davids Hosentasche steckte, war
nicht geklaut worden. Dies hatte David ihr erzählt. “Ging es also nur um die
Gitarre?” grübelte Irmi. Denn auch den Bongo-Rucksack hatten die Diebe nicht
angerührt. Immerhin hatte Finn diesen einige Tage später selbst bei David abgeholt. Irmi setzte an, um über der Gitarre
ein weiteres Fragezeichen zu malen, als die Wohnungstür aufging.
“Wo ist denn meine kleine Detektivin?” polterte Schmidt noch im Hausflur.
Mit einem Satz war Irmi an der Tür und zog Schmidt am Ärmel seiner Jacke in die
Wohnung hinein.
Offenbar hatte Schmidt seine eigenen Grundsätze über
Bord geworfen und ein wenig zu tief ins Radler geschaut. “The Winner takes it
all” sang Schmidt nun zu ihrer Verblüffung lauthals los. “The loser‘s standing small...”
Schmidt sang und dazu auch noch einen alten ABBA-Hit.
Irmi ahnte, was passiert war. “DU HAST GEWONNEN?!”
rief sie begeistert. “Du bist der heutige Kneipenquiz-König.” Schmidt grinste
“So ist es! Und Du bist meine Königin.” Irmi klatsche in die Hände und freute
sich aufrichtig mit ihm. Das hatte er sich verdient. Seit einem Jahr schon, war
er Woche für Woche an der gefürchteten U-Frage gescheitert. “Ich bin nicht nur
Kneipenquizkönig” konstatierte Schmidt
“Ich bin ein Unterhaltungs-Gott! Ich und nur ich allein, kannte die Vornamen der Töchter von Robert und Carmen Geißen. HA! Alles Kulturbanausen...”. “Shania und Davina” murmelte Irmi reflexartig. “Bitte?” “Äh. Ich sagte Du bist ein Schlawiner!” versuchte Irmi sich herauszureden. “GENAU! Ein schlauer Schlawiner” vergnügt klopfte sich Schmidt selbst auf die Schulter und warf seinen Schlüssel, den er noch in der Hand hielt in Richtung des nicht mehr vorhandenen Sideboards. Krachend landete dieser auf dem Parkettboden. “Nanu, wo ist denn unsere Schlüsselablage geblieben?”, wunderte er sich und erblickte den mit Textmarkern vollgeschriebenen Spiegel. “Die musste temporär meinem Schlüsselinstrument zur Aufklärung des Überfalls auf David weichen, dada!”
Stolz präsentierte Irmi ihr
Profiling-Tableau und hoffte, Schmidts gute Laune würde nicht schlagartig
verschwinden, in Anbetracht der überraschenden Umgestaltung des Flures.
Aufmerksam betrachtete Schmidt Irmis
Spiegelnotizen. Eine für Irmi unerträgliche Zeit schwieg Schmidt vor sich hin,
nickte hin und wieder und schüttelte dann den Kopf “Ausgezeichnet!” Anerkennend
schaute Schmidt nun auf Irmi, die erleichtert ausatmete.
“Allerdings fehlt ein entscheidender Punkt.” Verblüfft runzelte Irmi die
Stirn. Was hatte sie übersehen oder vergessen. Das Opfer, die Täter, die
Beteiligten, das Diebesgut, die Frage nach dem Motiv. Alles notiert. Bestens
gelaunt, weil der Abend seines Triumphes kein Ende zu nehmen schien, griff Schmidt nach dem Marker und
zeichnete ein langgezogenes Oval auf den Spiegel, dessen Mitte er mit einem
Strich durchbrach und an dessen Anfang er drei Kreise malte. Verärgert regte
sich Irmi auf: “Was soll das sein Schmidt. Du verhunzt mir meine Fallanalyse.
“Das meine Liebe” erklärte Schmidt nun gönnerhaft “Das ist der Aasee.
In diesem Falle also der Tatort! Ein wichtiger Fakt
für Deine Ermittlungen. Wo genau wurde David überfallen?” Fragend hob er die
Augenbrauen. “Das, also das weiß ich gar nicht so genau” stammelte Irmi “Reicht
es denn nicht zu wissen, dass es am Aasee passiert ist?” “Auf keinen Fall.”
Demonstrativ deutete Schmidt nun auf seine Zeichnung. “Du musst genau wissen, wo es passiert ist. Wie lange brauchte David
vom Markt bis dorthin? Ist er jeden Samstag den gleichen Weg gegangen, um sich
mit diesem Finn zu treffen? Vielleicht kannten die Täter seine Gewohnheiten.
Wenn ja, war es kein zufälliger, spontaner Überfall.
Dann hat man es gezielt auf ihn abgesehen. Und wo ist auf Deiner Tafel eigentlich die Tatwaffe...?” Schwungvoll malte Schmidt eine Art Keule neben den drei noch unbekannten Angreifern, “die übrigens - und da wirst Du staunen”. Die Linie, die Schmidt nun enthusiastisch von der Waffe bis zu Herr Reicher zog, erhielt am Anfang und am Ende jeweils eine Pfeilspitze “... durchaus ein Gummiknüppel aus den Beständen der Sicherheitsfirma Reicher sein könnte.” “Ach”, war alles, was Irmi sagen konnte.
Staunend betrachtete sie den inzwischen vollgekritzelten Spiegel “Das wäre ja ein Ding. Aber Herr Reicher hat seinen Sohn doch selbst gefunden. Und David hat die Angreifer zwar nur kurz gesehen, hätte aber doch seinen eigenen Vater erkannt?” “Schon mal was von Auftragsmord gehört?” flüsterte Schmidt nun verschwörerisch. “Was, wenn der Vater den Überfall beauftragt hat. Ist doch komisch, dass er ausgerechnet an dem Tag ebenfalls am Aasee war.
Joggen..., dass ich nicht lache. Allerdings fehlt mir das Motiv. Warum
sollte er...”
“Er will verhindern, dass David Musik macht. Er will
nicht, dass er ein Jahr seines Lebens durch Europa reist. Er will, dass David
BWL studiert.” flüsterte Irmi nun ihrerseits. “Aber würde ein Vater wirklich so
weit gehen?” “Das müssen wir herausfinden, Irmi! “Du musst zum Tatort. Am
besten, wenn alle Verdächtigen, Opfer und andere Beteiligten ebenfalls da sind.” “Du hast recht Schmidt. Aber wie soll ich das
anstellen?” Irmi hob hilflos die Schultern “Dir wird schon was einfallen” lachte
Schmidt “Aber jetzt setzen wir uns erstmal in die Küche.
Du musst Dir unbedingt anhören, wie das heute Abend beim Kneipenquiz gelaufen ist. Es war phantastisch! Ich war in einem einmaligen Denktunnel. Fokussiert und konzentriert. Politik, Geschichte und Geografie - ein Kinderspiel. Nach der Rubrik Wissenschaft lag ich Kopf an Kopf mit Ernst - Du weißt schon, diesem Klugscheißer aus dem Finanzamt.”
Schmidt bugsierte Irmi Richtung Küche, holte zwei Gläser aus der Vitrine und goss Irmi und zu Irmis großer Überraschung auch sich selbst, einen Rotwein ein. “Heute lassen wir mal alle Fünfe gerade sein. Man wird ja nicht jeden Tag Kneipenquizkönig! Also, wie gesagt, der Ernst und ich hatten alle Fragen richtig beantwortet und dann war die Rubrik Unterhaltung dran.” Geduldig lauschte Irmi der begeisterten Erzählung von Schmidt und überlegte währenddessen, wie sie diese Aasee-Sache am besten anpacken könnte. Vielleicht sollte sie Finn und David einweihen. Gemeinsam würden sie sicher einen guten Plan aushecken.
Nachdem sie diverse Male auf den Kneipenquizkönig angestoßen hatten, war die Flasche Wein leer und Schmidt so voll, dass Irmi ihn auf dem Weg ins Schlafzimmer tatsächlich stützen musste. “Shania und Davina” kicherte dieser albern vor sich hin, fiel jedoch - kaum unter der Decke verschwunden - in einen sehr tiefen, leider Gottes aber auch sehr lauten, Schlaf.
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Nächsten Sonntag gibt es bereits Kapitel 6...