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Jahrestag der Flutkatastrophe am 14. Juli 2022

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier nach einem Gedenkgottesdienst für die Opfer

Heute ist ein Tag des Innehaltens und der Trauer. Es ist ein Tag, an dem für Sie alle die Angst und das Grauen zurückkommen. Es ist ein Tag, an dem der Schmerz wieder kaum zu ertragen ist. Mehr als 180 Menschen verloren in der Nacht des 14. Juli 2021 hier in Nordrhein-Westfalen und drüben in Rheinland-Pfalz ihr Leben. Sie, die Sie heute hier zu diesem Gedenkgottesdienst zusammengekommen sind, haben Ihre Liebsten, Nachbarn, Freunde verloren. Nichts ist in Ihrem Leben wie zuvor. Heute, an diesem Tag, gedenken wir der Toten. Die Opfer bleiben unvergessen. Wir trauern gemeinsam und vereint. Als Bundespräsident möchte ich Ihnen sagen: Sie sind nicht allein!

Nie werden Sie vergessen können, was in jener Nacht des 14. Juli, jener Nacht des Grauens geschah, als kleine Bäche zu Ungeheuern anschwollen, die alles mit sich rissen. In Ihrem Leben war das ein furchtbarer Schlag, eine zutiefst traumatische Erfahrung. Viele von Ihnen haben alles verloren: Ihre Häuser, Ihren Besitz, Ihre Erinnerungen, Ihre Lebensträume, Ihre Existenz. Wie groß Ihr Schmerz, Ihre Verzweiflung war und vielleicht immer noch ist, was Sie in jener Nacht und in den Monaten seither durchlitten haben, das kann ich nur erahnen, und nichts kann Ihnen Ihren Schmerz nehmen.

Ich bin heute aber auch hier, um Ihnen zu sagen: Ich bin beeindruckt, dass Sie trotz der Zerstörung, trotz Ihrer Verzweiflung nicht aufgegeben haben. Hier ist Ihre Heimat, so empfinden es die meisten von Ihnen. Hier ist mein Leben, und hier soll es bleiben – so sagen viele. Und deshalb haben Sie angepackt, sich gegenseitig geholfen, die schlimmsten Verwüstungen beseitigt, mit dem Wiederaufbau begonnen.

Die furchtbare Zerstörung, die das Wasser zurückließ, sie ist bis heute sichtbar, und es wird vermutlich noch Jahre dauern, bis sie ganz beseitigt ist. Sichtbar ist aber auch, was Sie im vergangenen Jahr geleistet haben – und davor habe ich enormen Respekt. Ich möchte Ihnen allen hier in dieser Kirche – und allen Menschen, die von dieser schlimmsten Hochwasserkatastrophe seit Jahrzehnten heimgesucht wurden – heute danken. Ich danke Ihnen für Ihre Kraft, Ihren Einsatz, Ihre Solidarität. Ich danke auch allen professionellen und freiwilligen Helfern, die in der Stunde der Not sofort aus allen Teilen Deutschlands angereist sind und den Menschen hier beigestanden haben – und es bis heute noch tun.

Und mein Dank geht an die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, an die Landrätinnen und Landräte, an diejenigen, die in den Verwaltungen arbeiten. Sie alle haben in diesen vergangenen zwölf Monaten schier Unglaubliches geschultert. Sicher wussten viele oft nicht, wo anfangen und wo aufhören, wenn tausend Dinge zur gleichen Zeit getan werden mussten: den Verzweifelten helfen, Gutachten einholen, Baugenehmigungen erteilen, Orte teilweise ganz neu planen.

Ich kann mir auch vorstellen, dass manche von Ihnen ungeduldig sind, dass sie das Gefühl haben, dass vieles zu lange dauert, zu langsam vorangeht – das habe ich heute Morgen auch im Ahrtal gehört. Ja, vieles ist getan, aber noch mehr bleibt zu tun.

Die Bundesregierung und die Länder haben sehr schnell sehr umfangreiche Hilfsfonds aufgelegt, um den Menschen in den Katastrophengebieten zu helfen, Hilfe dort zu leisten, wo sie so bitter nötig ist und weiter bleibt – bei den Betroffenen. Meine dringende Bitte an alle, die Verantwortung tragen, ist: Lassen Sie nicht nach in Ihren Anstrengungen, damit den Menschen effektiv und unbürokratisch geholfen wird!

Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie eine Frage immer noch quält: Wie war das möglich? Wie konnte das passieren? Warum wurde nicht schnell und umfassend genug gewarnt? Ich glaube, diese Frage müssen wir uns als ganzes Land stellen: Was kann, was muss besser werden beim Katastrophenschutz? Und wie können wir uns in Zukunft besser schützen? Eine Antwort auf diese Fragen müssen Sie hier in Euskirchen und den benachbarten Landkreisen jetzt ganz konkret beim Wiederaufbau finden. Aber wir müssen auch als ganzes Land eine Antwort darauf finden, was zu tun ist – und das möglichst rasch.

Aber besserer Schutz und bessere Vorsorge, das wird nicht ausreichen. Wir wissen: Die Folgen des Klimawandels haben uns in Europa und hier in Deutschland längst erreicht. Auch in diesem Sommer sehen wir dramatische Bilder: aus Italien, wo der Norden wortwörtlich austrocknet. Aus Portugal, das landesweit den Notstand ausgerufen hat. Aus den Alpen, wo riesige Gletscherteile abbrechen und alles unter sich begraben. Und auch bei uns herrscht den vierten Sommer in Folge vor allem in Regionen im Osten Deutschlands besorgniserregende Trockenheit. Dort brennen die Wälder, sinken die Grundwasserpegel, während andere Landesteile von schweren Unwettern heimgesucht werden.

Solche extremen Wetterlagen, auch das wissen wir, werden in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit immer wieder eintreten – und das ist eine Folge des globalen Klimawandels. Wir müssen jede, aber auch wirklich jede Anstrengung unternehmen, um die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen. Und wir müssen viel umfassender Vorsorge treffen, um unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen!

Als Bundespräsident weiß ich aber auch: In der Stunde der Not sind wir ein starkes, ein solidarisches Land! Während und nach der Flut haben wir es uns erneut bewiesen: Wir stehen zusammen. Das schafft Zuversicht für Zeiten, die uns weiter fordern werden und die nicht einfacher werden.

Heute bin ich hier, um mit Ihnen gemeinsam zu gedenken und zu trauern. Auch im Namen so vieler unserer Landsleute versichere ich Ihnen: Sie sind nicht allein.

Bulletin 94-2


Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler