Kapitel 6
Mit leichten Kopfschmerzen erwachte Irmi am frühen
Morgen - mal wieder und trotz des Weines - um punkt 6:30 Uhr. Vielleicht sollte
sie heute einmal etwas länger liegen bleiben.
Irmi stöhnte, als Schmidt laut schnarchend neben ihr
nach Luft schnappte. Alles andere wäre erholsamer, als noch eine weitere Stunde
neben diesem Schnarch Monster zu verbringen. Irmi schlug ihre Decke zurück und
schlurfte ins Bad. Nach einer kalten Dusche putzte sie die Zähne und ging
erfrischt und endlich vom Weingeschmack befreit in die Küche. Sie lechzte nach
Vitaminen und so schnitt sie einen Apfel, zerkleinerte eine Banane, schälte eine Mandarine und mischte ein wenig Quark
unter das Obst. Mit ihrem Obstmüsli betrat sie den Flur, um sich noch einmal
den Stand der Ermittlungen zu verdeutlichen.
Wenn es sich bei der Tatwaffe tatsächlich um einen Gummiknüppel der Firma handelte, machte dies Davids Vater zum Hauptverdächtigen. Sie um kringelte seinen bisher grünen Namen mit einem schwarzen Kreis. Grübelnd löffelte sie ihr Müsli. Schmidt hatte recht. Eine Tatortbesichtigung war angezeigt; wichtiger jedoch schien es Irmi erst einmal, Davids Familie kennenzulernen. Und zwar nicht als Ermittlerin. Sie musste einen Weg finden, sich ein eigenes Bild von den Familienmitgliedern zu machen. Und zwar, ohne dass diese ihre Rolle im Fall kannten. Nachdenklich setzte sich Irmi auf den kleinen, gepolsterten Sessel im Flur, griff zum Telefon und wählte Davids Nummer.
“Hey David! Hier ist Irmi. Du pass mal auf. Ich hab da einen Plan und brauche Deine Hilfe.” Kurz erklärte Irmi ihr Vorhaben und brachte ihn auf den neuesten Stand ihrer Ermittlungen. “Du verdächtigst meinen Vater?” David lachte erstaunt “Naja! Ich bin mir natürlich nicht sicher, aber das passt doch irgendwie zusammen.
Dein Vater will, dass Du BWL studierst. Deine Pläne,
dich für ein Jahr abzuseilen, durchkreuzen seine eigenen Pläne, seinen
Goldjungen möglichst rasch ins Familienunternehmen zu holen. Er betreibt eine
Sicherheitsfirma und hat Zugang zu Gummiknüppeln und anderen gefährlichen
Waffen. Vielleicht hat er ein paar seiner Mitarbeiter zu der Tat angestiftet.
Wahrscheinlich wollte er Dich nicht verletzen, sondern die nur die Gitarre klauen lassen, damit Du keine
Möglichkeit mehr hast abzuhauen.” Irmi lauschte einige Sekunden dem Schweigen
am anderen Ende der Leitung. “Also ich weiß nicht” erwiderte David zögerlich.
“Das kann ich mir echt nicht vorstellen. Außerdem hatte ich Dir doch erzählt, dass er in letzter
Zeit sehr entspannt auf meine Europatrip reagiert hat.”
“Tja, vielleicht, weil er wusste, dass daraus nichts wird?” warf Irmi ein. “Mhm! Und jetzt?” fragte David. “Wie geht's weiter?”
“Ich muss Deine Familie unbedingt einmal persönlich kennenlernen. Dann kann ich die Spuren viel besser einordnen. Wer weiß. Vielleicht steckt ja auch Deine Mutter oder Deine Schwester dahinter.” “Oh. Meiner Mutter ist es im Grunde völlig egal, was ich treibe. Da ich nicht ihr leiblicher Sohn bin, hat sie wenig Interesse an mir - schon immer gehabt.” “Oh” rief Irmi bestürzt “Das tut mir leid”. Sie hörte Davids Stimme an, dass er lächelte. “Das muss es nicht.” beschwichtigte er Irmi. “Dieses Desinteresse hat mir ein paar mehr Freiheiten geschenkt. Immerhin durfte ich oft das tun, was ich wollte - wenn auch stets unter reichlich Gemecker und Gejammer. Meine Schwester, also ihre leibliche Tochter, bekommt zwar die volle Aufmerksamkeit, aber auch ihren kompletten Kontrollwahn zu spüren. Die musste und muss das volle Programm neureicher Eltern absolvieren. Ballett, Reiten, Teekreise und so weiter. Als Rosi - eigentlich heißt sie Rosemarie - allein dafür sollte man meine Mutter verklagen - anfing sich ebenfalls Dreads in die Haare zu drehen, hat Mutter sie im wahrsten Sinne des Wortes an den Haaren zum Friseur geschleift und ihr einen adretten Kurzhaarschnitt verpasst.” “Ach Du meine Güte. Wie furchtbar.” Geschockt schlug sich Irmi die Hand vor den Mund. “Also meine Mutter hat mit dem Überfall auf mich bestimmt nichts zu tun. Aber sie kennenzulernen ist ein echtes Erlebnis. Ich hab da schon eine Idee.”
David berichtete nun von einem für den heutigen Nachmittag geplanten
Sektempfang im hauseigenen Garten. “Wenn auch die offizielle Zeugnisausgabe
noch bevorsteht. Die letzten Klausuren sind geschrieben und mein Abi habe ich
so gut wie in der Tasche. Und darum lassen es meine Eltern sich natürlich nicht
nehmen, dies auch standesgemäß an die große Glocke zu hängen. Das Spektakel
beginnt um 15.00 Uhr. Komm doch vorbei. Immerhin ist es ja meine Feier. Da
darf ich doch auch jemanden einladen!” “Das passt ja wie Faust aufs Auge”
freute sich Irmi “Dürfte ich wohl noch Jemanden mitbringen?” Nein, sie würde
Schmidt sicher nicht mitnehmen, aber vielleicht könnte Lotte sie begleiten.
Vier Augen und vier Ohren sehen und hören doppelt so viel wie zwei. Irmi
beglückwünschte sich innerlich zu dieser spontanen Idee. Lotte hatte ein gutes
Gespür für Menschen und hatte sogar in grauer Vorzeit ein Psychologiestudium
absolviert.
“Klar” lachte David “Je mehr Mittel- und Unterschicht,
desto besser.”
“Und David! Kein Wort darüber, dass ich in Deinem Fall ermittle, hörst Du!” “Logisch Frau Wilsberg” grinste David und legte ohne Abschied auf. “Frau Wilsberg” schmunzelte Irmi. “So ein Spinner.” Aufgeregt wählte sie direkt neu und nach dreimaligem Klingeln meldete sich Lotte “Lotte! Irmi hier. Überfall!” “Schon wieder? Und so früh am Morgen? Wen hat ́s erwischt”? Lotte gähnte herzhaft, während Irmi erschrocken einen Blick durch die Tür auf die Küchenuhr warf. “Oh Lotte, wie dumm von mir. Es ist ja noch richtig früh. Sorry! Und es gab auch keinen weiteren Überfall, sondern ich habe einen Überfall auf dich vor.” “Schieß los!” lachte Lotte.
Irmi erzählte Lotte vom Sektempfang und berichtete kurz, was sie inzwischen wusste oder eben auch nicht wusste. “und da dachte ich, du mit deinem psychologischen Background wärst die ideale Begleitung für mich. Wir schlürfen ein Sektchen, plaudern hier und da und schnappen vielleicht das ein oder andere interessante Puzzleteil für unseren Fall auf. Was meinst Du?” “Naja. Mein psychologischer Background ist zwar nicht mehr ganz up to date, aber... Klar. Ich bin dabei” “Toll” rief Irmi und die beiden Frauen verabredeten sich für 14:00 Uhr zur Strategiebesprechung am kleinen Teich an der Dechaneischanze. Von dort würden sie nur noch wenige Minuten bis zum Haus der Reichers radeln müssen. Irmi schlüpfte in ihre Klotschen, die sie für die “mal-eben-schnell-raus-Fälle” stets an der Wohnungstür parkte, lief ins Erdgeschoss, um nach der Post und den Zeitschriften für Schmidt zu schauen.
Mit den gesammelten Printerzeugnissen, die der vermeintlich intellektuelle deutsche Zeitschriftenmarkt zu bieten hatte und einem Briefumschlag der Stadtwerke schloss sie wenige Minuten später die Wohnungstür wieder auf. “Ojeh. Die Jahresabrechnung für Strom und Gas.” Irmi hoffte, dass der Ukraine-Krieg und die damit einhergehenden steigenden Gaspreise in dieser Abrechnung noch nicht zu Buche schlagen würden. Ein wenig schämte sie sich für ihren Egoismus, aber wenn der Brief eine fette Summe zur Nachzahlung auswies, würde Schmidt erstens den ganzen Tag mit schlechter Laune den Wirtschaftsteil aller abonnierten Zeitungen studieren und zweitens, was viel schlimmer war, mit ihr über die Notwendigkeit des Ausbaus regenerativer Energien diskutieren.
Irmi öffnete beherzt den Umschlag und ... 3,62 Euro Guthaben! Gott sei
Dank, das würde Schmidt wohlwollend und ohne Diskussionsbedarf, zur Kenntnis
nehmen.
Liebevoll bereitete sie Schmidt noch ein ordentliches
Katerfrühstück zu. Heringshappen in Senfsoße auf Vollkornbrot und ein scharfer
Tomatensaft würden ihn hoffentlich wieder auf Vordermann bringen. Der Stapel
Zeitungen und dazu die Stadtwerke-Rechnung, die keine Rechnung war, sollten
ebenfalls ihren Beitrag leisten, damit Schmidt gut in den Tag starten konnte. “Bin bei Hildegard, Blumen gießen. Die ist im
Urlaub. Treffe mich dann mit Lotte. Sind bei David zum Abi-Sekt eingeladen.
Kann später werden. Kuss! Irmi”
Irmi legte den Zettel für Schmidt an den Tellerrand und machte sich auf den Weg. Lottes Wohnung lag gar nicht weit entfernt. Einmal um die Kreuzkirche, am Nordstern vorbei, geradeaus über die Nordstraße und die nächste rechts rein. Zwei Stunden später hatte Irmi alle Blumen gegossen, einen leckeren Espresso auf dem kleinen, aber liebevoll gestalteten Balkon getrunken und die Hinterhofgärten und Balkone der umliegenden Häuser betrachtet. Auch nicht schlecht, so ein Leben ganz allein. Fast beneidete sie ihre Freundin Hilde um ihren Single-Status. “Klein, fein und mein.” schmunzelte Irmi.
Aber so ganz ohne Schmidt ging eben doch nicht. Was für einen Spaß sie gestern
bei seinen Erzählungen hatte. Irmi wünschte sich mehr solch fröhlicher Momente.
“Aber das kommt ja alles noch. Wenn wir erst einmal die Werse entlang paddeln...” Irmi spülte
schnell die Tasse ab und machte sich wieder auf den Weg. Ihr Fahrrad hatte sie schon
mitgenommen, so dass sie direkt von der Gertrudenstraße aus zur Dechaneischanze
fahren konnte.
Fast zeitgleich trafen die beiden Frau am “Ententeich”
ein. In beider Fahrradkörbe lag ein bunter Blumenstrauß “Für die Mutter” riefen
sie zeitgleich und lachten sich an. “Und für den jungen Abiturienten habe ich
noch schnell ein Buch besorgt. ‘Best places in Europe’” Irmi zog grinsend das
als Geschenk verpackte Buch aus der Tasche. “Ich habe auch ein Buch” Lotte
kramte nun ihrerseits in der Tasche und fischte schließlich ihr Geschenk heraus
“Ein Straßenkünstler packt aus.” rief Irmi “Na da weiß man ja jetzt nicht, ob
das eine Motivationsgeschichte ist oder eher der Abschreckung dient”, lachte
sie. “Auf jeden Fall werden Herrn Reicher die Geschenke wohl nicht so gut
gefallen. Er denkt ja nun, dass Davidohne Gitarre kampflos aufgibt.” Lotte runzelte die
Nase “Oh. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ich will ja keinen Ärger
provozieren.” “Aber Lotte. Das ist perfekt. So können wir beobachten, wie die
Familie reagiert, wenn das Thema so ganz nebenbei eingestreut wird.
Wir können ja schlecht direkt fragen, was sie von
Davids Straßenmusiker-Karriere halten.”
Irmi und Lotte schoben ihre Räder einträchtig nebeneinander durch den
kleinen Park. “Wie gehen wir denn nun vor?” fragte Lotte. “Welche Infos wären
Dir noch wichtig, damit Du mit den Ermittlungen weiterkommst.” “So genau habe
ich das noch gar nicht überlegt. Am besten streuen wir uns einfach mal so unter
die Leute. Vielleicht schnappen wir ja die ein oder andere Information auf. Und Du schaust Dir die
Familie mal aus psychologischer Sicht an. Ein interessanter Fakt ist auf jeden
Fall schon mal die Tatsache, dass David nicht das leibliche Kind von Frau
Reicher ist. Sie scheint wenig Interesse an ihm zu haben, obwohl David ja noch
ein kleines Baby war, als Herr und Frau Reicher geheiratet haben.” “Was ist denn mit Davids Mutter passiert? Warum ist das Kind
bei ihm geblieben.” “Keine Ahnung. Finden wir es heraus.” Auf der Straße
angekommen, stieg Irmi auf ihr Rad und rief über die Schulter “Dann wollen wir
mal!”
“Wow” staunte Lotte, als sie ihre Räder vor der Reicher-Villa abstellen. “Mit unseren alten Drahteseln verschandeln wir hier ganz schön die Optik”. “Was werden die Nachbarn denken, welch niedrige soziale Schichten plötzlich bei den Reichers geladen sind” grinste Irmi.
“Trennen wir uns oder bleiben wir zusammen” flüsterte
Lotte, nachdem Irmi die Klingel betätigt hatte. “Das lassen wir einfach mal auf
uns zukommen.” wisperte Irmi, als ein “Ja bitte” aus dem Lautsprecher über der
Klingel ertönte. Nachdem die Frauen sich als Gäste von David zu erkennen
gegeben hatten, summte das Tor und öffnete sich lautlos. Am Ende der Irmi nun schon bekannten Eingangs-Allee öffnete
sich bereits die Haustür. Ein junges Mädchen mit kurzen pechschwarz gefärbten
Haaren, ganz in schwarz gekleidet, winkte ihnen zu und stellte sich als Rosi
vor. “Und Sie müssen Irmi inklusive Begleitung sein. Mein Bruder hat Sie
bereits angekündigt. Schön, dass Sie unsere elitäre Veranstaltung etwas aufmischen. Aber ich sollte Sie warnen. Hauen Sie lieber
gleich wieder ab. Wenn meine Eltern einladen, wird ́s immer ätzend langweilig.”
Rosi verdrehte die Augen und trat dann einen Schritt zur Seite, um die beiden
Frauen vorbeizulassen. “Aber machen Sie sich am besten selbst ein Bild”
Vielsagend grinsend verbeugte sie sich und machte eine einladende Handbewegung “Hereinspaziert.” Das war also Rosi, die
Tochter von Frau Reicher und - Davids Worten nach zu urteilen - ihr Augenstern.
“Rosemarie, wo steckst Du denn” eine ungeduldige und leicht verärgerte Stimme unterbrach das kleine Schauspiel der Tochter des Hauses. “Ich möchte Dir Julian vorstellen. Du weißt schon, den Sohn von Herrn von Leuchtenberg. Im Tennisverein ist jetzt endlich ein Platz freigeworden. Wir hatten ja schon darüber gesprochen. Julian würde Dich gerne in den Club einführen und hat sogar versprochen, Dir ein paar private Tennisstunden zu geben. Ein außergewöhnlich wohlerzogener Junge, dieser Julian. Wir sollten ihn nicht ...” Die schlanke, hochgewachsene Frau stutzte kurz, als sie das Foyer betrat. “Oh. Ich wusste nicht, dass Du gerade Gäste empfängst.” Das Wort Gäste zog sie absichtlich fragend in die Länge und ihre Augen musterten Irmi und Lotte kritisch von oben bis unten. “Herzlich willkommen” begrüßte sie nun wenig herzlich Irmi und Lotte. “Lass Julian nicht warten Kind.” wandte sie sich dann direkt an Rosi. “Auf den Platz warten wir nun schon drei Jahre”. “Du!” presste Rosi mit schmalen Lippen hervor. “Wie bitte?”. Frau Reicher blitzte ihre Tochter wütend an. “Nichts, Mutter. Ich geh schon”. Mit hochgezogenen Schultern entfernte sich Rosi Richtung Salon.
“Na dann kommen Sie mal herein.” ließ sich Frau
Reicher herab und stolzierte auf ihren hohen Hacken vor ihnen her. Sich
gegenseitig zuzwinkernd folgten Lotte und Irmi ihr wie zwei Schulkinder der
Direktorin. “Die Sektbar und das Buffet sind draußen. Fühlen Sie sich wie...” Frau Reicher zögerte, bevor sie ihren Satz mit
einem ein leicht ironischen Unterton “zu Hause” beendete. Strahlend wandte sie
sich einer gelangweilt aussehenden Gästegruppe zu und ließ die beiden einfach
stehen. “Was für ein Drachen.” murmelte Irmi. “Eine echte Drachenlady” gluckste Lotte.
Sie traten durch die weit geöffnete Schiebetür auf die Terrasse und wurden
dort stürmisch von David und Finn in Empfang genommen. “Ich bin
Lotte” stellte diese sich vor. “Ich hoffe, Du hast
nichts dagegen, dass Irmi mich einfach so mitgebracht hat”. “Finn hat mir schon
vor Dir erzählt. Natürlich bist Du herzlich willkommen.
Schließlich hätte Irmi mich, ohne Dich gar nicht erst
wieder gefunden. Und außerdem hat Finn mir berichtet, dass Du ein
hervorragendes Rhythmusgefühl an den Bongos gezeigt hast. Du natürlich auch
Irmi!” “Das hat Spaß gemacht” erwiderten Irmi und Lotte unisono.
Lachend schlenderten die vier zur Sektbar, hinter der
ein großgewachsener Mit-Fünfziger die Gläser füllte. “Hier bedient der Chef
noch persönlich.” begrüßte er die Neuankömmlinge.
“Was darf es denn sein, meine Damen”. Seine Worte
ließen darauf schließen, dass es sich um den Hausherrn höchstpersönlich
handelte. “Herr Reicher” Irmi streckte ihm ihre Hand entgegen. “Ich habe schon
viel von Ihnen gehört”. “Und ich von Ihnen meine liebe Irmi - ich darf doch
Irmi sagen?” Irritiert nickte Irmi ihm zu. Sie hatte sich den Vater ganz anders
vorgestellt. Dieser Typ schien doch ganz nett zu sein.
Oder spielte er ihnen etwas vor. “Jetzt machen wir mal die Probe aufs Exempel”
dachte sie, griff in ihre Tasche und holte Davids Geschenk hervor.
“Herzlichen Glückwunsch zum Abi - auch wenn es noch nicht ganz offiziell ist”. David griff nach dem Buch und riss die Verpackung auf. “Best places of Europe” rief er begeistert. “Das hatte ich auch schon letztens bei Poertgen in der Hand”. Obwohl Poertgen längst zum Thalia-Konzern gehörte, hatte es den Namen Poertgen behalten. “Und ich dachte, das Thema Europa hätte sich mit dem Verlust Deiner Gitarre endlich erledigt?” “Verschoben Papa. Nicht erledigt. Ich lass mir schon noch was einfallen.” Leicht entnervt schüttelte Herr Reicher den Kopf. “Und wann gedenkt der Herr mit dem Studium zu starten?” “Mit dem BWL- Studium?” entschlossen begegnete David dem Blick seines Vaters. “Gar nicht, Papa. Und das Musikstudium starte ich nach meinem Europatrip.” Irmi hatte das Wortgefecht zwischen Vater und Sohn gespannt verfolgt. “Darüber reden wir noch.” murmelte Herr Reicher. “Obwohl mir schon seit einiger Zeit klar geworden ist, dass Du eben doch viel von Deiner Mutter geerbt hast. Meine verstorbene Frau war nämlich auch Musikerin.” fügte er erklärend an Irmi und Lotte gerichtet. “Aber die Musikbranche ist knallhart und... naja, hat meine Frau kaputt gemacht. Ich will doch nur nicht, dass es dir ebenso ergeht.” “Darüber sprechen wir noch” lächelte David seinen Vater an. Der kurze emotionale Moment zwischen Vater und Sohn, der auch Irmi, Lotte und Finn sichtbar mitnahm, wurde jäh unterbrochen, als Frau Reicher an die Sektbar trat. Im Schlepptau hatte sie - wie nicht anders zu erwarten - ihre Tochter mit dem offensichtlichen Wunsch- Schwiegersohn in spe, Julian.
Eine gute Gelegenheit Mutter und
Tochter ebenfalls auf Herz und Nieren zu prüfen. Hoffentlich ist Lotte clever
genug und präsentiert jetzt ihr Geschenk.
Irmi versuchte Blickkontakt mit ihr
aufzunehmen und nicke immer wieder in Richtung Tasche. Lotte verdrehte kurz die
Augen und zwinkerte ihr dann zu. Offenbar war sie tatsächlich clever genug.
“Also David. Da Irmi mir ja bereits so einiges von Dir erzählt hat, habe ich
hoffentlich auch genau das Richtige gefunden.” Sie überreichte Ihr Buchpaket
und schmunzelte “geht allerdings in die gleiche Richtung.” David riss nun auch
Lottes Geschenk mit einem “Aber das wäre doch nicht
nötig gewesen” auf. “Ein Straßenkünstler packt aus” las er den Titel laut vor.
“Der Autor blickt in dem Buch zurück auf 40 Jahre als Straßenkünstler -
unterwegs durch Europa” fasste Lotte den Inhalt in einem Satz zusammen.
”Na Bravo” kommentierte Frau Reicher trocken. “Das ist ja mal eine ganz tolle Karriere. Ich will doch hoffen, dass du Deine Ziele ein wenig höher gesetzt hast, David? Dein Vater führt immerhin ein äußerst erfolgreiches Unternehmen, welches Du übernehmen sollst. Als vagabundierender Musiker wird dies wohl etwas schwierig. Ganz abgesehen davon, dass sich Deine Schwester mit einem Gammler als Bruder wohl kaum noch irgendwo blicken lassen kann. Solltest Du also an Deinen” sie hob die Zeigefinger in die Luft ‘Karriereplänen’ festhalten, dann kannst Du ruhig 40 Jahre durch die Gegend ziehen, denn dann bist Du für Rosemarie und mich gestorben.”
Bei diesen Worten schielte Irmi zu
Rosi hinüber, die blass im Gesicht, ihr Sektglas mit den Händen umklammerte,
sich stumm umdrehte und ohne ein Wort zu verlieren das Haus betrat. Tennis Beau
Julian räusperte sich verlegen, murmelte eine Entschuldigung und schlich auf
leisen Tennissocken davon.
Trotz der unglücklichen Umstände
musste Irmi schmunzeln. “Ich schau einmal nach Rosi.” warf David in die immer
noch verlegen da stehende Runde. “Finn.” Davids Vater wandte sich an den
Freund “Zeig Du doch Irmi und Lotte einmal unseren Garten. Du kennst Dich ja
aus.”
Sichtlich mitgenommen von den Worten
seiner Frau, griff Herr Reicher unter den Tisch, öffnete den dort versteckten
Kühlschrank und stellte sich ein Bier auf die Sektbar. “Ich brauch jetzt mal
was Ordentliches” grinste er etwas schief, verzichtete auf ein Glas und trank direkt
aus der Flasche einen guten Schluck. Wiederum dachte Irmi, was für ein falsches
Bild sie sich von Davids Vater gemacht
hatte. Eigentlich war er ihr sympathisch. Im Gegensatz zu Frau Reicher - der
Drachenlady. Irmi und Lotte folgten Finn und schlenderten durch
den parkähnlichen Garten. “Wow”, ergriff Finn das Wort. “Was war das denn für
eine knallharte Ansage. David hat immer gemeint, seiner Stiefmutter wäre es völlig
egal, was er so treibt. Aber offensichtlich nur solange sein Treiben nicht ihre
Pläne für Rosemarie durchkreuzt.” “Aber jetzt mal ehrlich” warf Lotte ein. “Wir
leben im 21. Jahrhundert. Und auch, wenn die Münsteraner High Society
vielleicht ein wenig etepetete sein mag. Ein vermeintlich schwarzes Schaf in
der Familie verhindert doch heutzutage nicht den gesellschaftlichen Aufstieg
einer höheren Tochter.” Irmi zuckte mit den Schultern “In Frau Reichers Welt
offenbar schon.
Eigentlich habe ich schon genug von dieser feinen Bande hier. Was meint Ihr? Wir mischen uns noch eine Stunde unter die Leute, small talken ein wenig, stellen ein paar neugierige Fragen und treffen uns dann in - sagen wir einmal zwei Stunden - bei mir zu Hause. Ich glaube mein Profiling-Board wird heute noch einmal interessant gefüllt. Vielleicht kann sich David ja auch loseisen und kommt dazu?” “Ich frag ihn gleich mal” Finn lief über die im Rasen eingelassenen Steinplatten zurück zu Haus.
“Ich wette, die Kinder der Reichers
durften hier nie richtig spielen. Fehlt nur noch ein Schild mit der Aufschrift
‘Betreten verboten’. Mit einer solchen Schrapnelle als Mutter aufzuwachsen,
muss doch die Hölle sein. Dafür ist David wirklich gut geraten.” Lotte
schnaubte erbost und bohrte ihren Keilabsatz neben das Pflaster extra tief in
den Rasen. “ “Lotte” rief Irmi “lass das. Immerhin sind wir hier zu Gast.” “Ich gehöre nun
einmal zur sozialen Unterschicht. Mir hat einfach niemand beigebracht, was sich
gehört und was nicht. Dir etwa?” Schelmisch lächelten sich die beiden Frau zu,
verließen mit unschuldigem Blick den Steinquader, um gemächlich quer über den
englischen Rasen den Rückweg zur Sektbar anzutreten. “Ich ruf mal eben Schmidt an.” entschuldigte
sich Irmi bei Lotte und zog Ihr Handy aus der Tasche.
“Wenn der eins wirklich hasst, dann
ist das unangemeldeter Besuch. Und dann noch nach dem gestrigen Abend.” Irmi
schilderte Lotte die Vorkommnisse des Vorabends, berichtete vom Quizkönig und
seinen untypischen alkoholischen Ausschweifungen und weihte sie zudem noch in
ihre Hoffnung auf einen Werse-Paddel-Tag mit Schmidt ein.
Eine gute Stunde und ein paar
langweilige Gespräche später, gab Irmi Lotte durch ein Handzeichen zu
verstehen, dass sie sich jetzt auf den Weg machen würde. Schmidt war informiert
und hatte sich geradezu aufgedrängt eine Kleinigkeit zum Essen vorzubereiten.
Suchend sah sich Irmi auf der
Terrasse um. Wenigstens von Herrn Reicher wollte sie sich noch kurz
verabschieden. Auf die Drachenlady konnte sie gut verzichten. Herr Reicher
stand immer noch hinter der Sektbar und trank - offenbar wieder gut gelaunt -
sein Bier.
Wahrscheinlich nicht sein letztes
heute. Irmi ging lächelnd auf ihn zu. “Herr Reicher, ich wollte mich nur
schnell persönlich verabschieden.” “Ah. Irmi! Ich hoffe, Sie haben sich trotz
der kleinen Entgleisung meiner Frau etwas amüsieren können. Wissen Sie. Wenn es
um Rosi geht, war sie immer schon ein wenig - nennen wir es einmal eigen. Ich
habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen und bin
froh, dass David ein paar so patente, mütterliche Freundinnen hat.” “Wohl eher
omaliche Freundinnen” korrigierte Irmi. Herr Reicher klopfte sich amüsiert auf
die Schenkel. “Das haben Sie jetzt aber gesagt. Ich hoffe wir sehen uns bald
einmal wieder.”
“Oh, da bin ich sicher. Lotte und
ich haben schon Pläne für ein kleines Grillfest am Aasee zu Ehren der
beiden Abiturienten. “Kommen Sie mit Ihrer Frau und Rosi doch einfach dazu.
Dann können Sie einmal sehen, wie der untere Mittelstand ohne eigenen Garten
oder Balkon so feiert.” Irmi beglückwünschte sich selbst zu dieser spontanen
Idee.
Denn der Besuch des Tatortes mit
allen Beteiligten stand noch aus. Irmi hoffte, vor Ort auf den Showdown im Fall
David.
Zu Hause angekommen, fand Irmi Schmidt in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer sitzend, vor sich - wie nicht anders zu erwarten - eine aufgeschlagene Zeitung. “Jetzt dreht er durch” dachte Irmi als sie sah, dass es sich um die “TIMES” handelte. “Ist die Nachrichtenlage in der Welt nicht schon kompliziert genug?” begrüßte sie ihn ironisch “Wo hast Du die überhaupt her?” Irmi überlegte kurz, wo in Münster man überhaupt ausländische Presseerzeugnisse kaufen konnte. Sie hatte noch nie irgendwo die “Le Monde” oder die “Sun” entdeckt – allerdings, wann hatte sie jemals darauf geachtet und vor allen Dingen warum. Mit ihrem Schulenglisch und trotz absolviertem Französisch - Leistungskurs könnte sie wahrscheinlich nicht einmal die Schlagzeilen verstehen. Und Schmidt? Ihr Schmidt war wahrlich ein gebildeter und viel wissender Mann, aber als Irmi an die wenigen gemeinsamen Urlaube dachte stahl sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel. In Frankreich hatte er im Restaurant selbstsicher ein Hähnchenschnitzel bestellt. Serviert wurde eine dünne Hühnersuppe. Schmidt behauptete immer noch, das sei genau das gewesen, was er gewollt habe. Auch sein englischer Wortschatz beschränkte sich nach Irmis Erfahrungen auf Satzteile wie: “where is”, “we are looking for” und “please pay”. “Probeabo” grunzte Schmidt “online bestellt” fügte er hinzu. “Und was schreibt die Times so?” Irmi beugte sich zu Schmidt herab und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. “Kann ich Dir erst morgen sagen. Muss mir erst ein Wörterbuch kaufen.” Irmi lachte laut auf und setzte sich für einen Augenblick auf Schmidts Schoß. “Du bist ein solcher Spinner. Ich mag Spinner.”
“Runter von mir! Was glaubst Du eigentlich, was Du wiegst?” Schmidt schubste Irmi vom Schoß. “Less than you” gab Irmi trocken zurück. “Was hast Du uns denn Leckeres vorbereitet?” wechselte Irmi das Thema. “Gemischte Vorspeisenplatte von Renzo” Schmidt hob entschuldigend die Schulter. “Ich hatte ja keine Zeit, ich musste ja...” verstummte er und deutete auf den Zeitungsstapel neben seinem Sessel. “Erzähl mal lieber. Wie war es denn bei den Reichers. Hast Du was rausgefunden, was uns weiterhelfen kann?”
“Lass uns auf die anderen warten,
dann tragen wir unsere Infos zusammen und schauen gemeinsam, was für Schlüsse
wir daraus ziehen können.” In diesem Augenblick klingelte es. “Das werden sie
sein. Ich hoffe, David konnte sich wegschleichen.”
rief Irmi schon auf dem Weg zu Tür.
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