Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat sich bei ihrem Antrittsbesuch in der Türkei einen offenen Schlagabtausch mit ihrem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu geliefert. Baerbock forderte bei dem Treffen am Freitag in Istanbul unter anderem die Freilassung des inhaftierten Kulturförderers Osman Kavala, außerdem verteidigte sie Griechenland gegen türkische Territorialansprüche. Cavusoglu reagierte gereizt.
Der türkische Minister warf Deutschland "Doppelmoral" vor und kritisierte, dass die neue Bundesregierung sich einseitig gegen die Türkei positioniere: Deutschland müsse zu einer "ausgeglichenen Position" gegenüber seinem Land zurückkehren, forderte er.
Baerbock machte gleich zu Beginn der gemeinsamen Pressekonferenz mit Cavusoglu klar, dass sie Klartext reden wolle. Die engen Beziehungen Deutschlands zur Türkei erforderten es, sich "gegenseitig zuzuhören, auch wenn einem vielleicht die Ohren schmerzen". Diplomatie bedeute nicht, "Plattitüden auszutauschen", sagte sie. Es müssten auch Themen angesprochen werden, "wo wir auf einer Pressekonferenz beide vielleicht zucken".
Die Ministerin führte dann eine Reihe von Kritikpunkten an. Die Türkei müsse die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeordnete Freilassung des zu lebenslanger Haft verurteilten Osman Kavala umsetzen, sagte sie. Jeder müsse das Recht haben, beim Menschenrechtsgerichtshof gegen Unrecht vorzugehen.
Cavusoglu warf Baerbock daraufhin vor, den Fall Kavala gegen die Türkei zu instrumentalisieren. "Sie nutzen Osman Kavala gegen die Türkei aus", sagte er. Der Minister verwies darauf, dass auch Deutschland und andere Staaten nicht jedes Urteil des Menschenrechtsgerichts umgesetzt hätten und sprach dabei von "Doppelmoral".
Scharfe Worte tauschten die beiden Minister auch beim Thema Griechenland aus. Baerbock hatte zuvor bei einem Besuch in Athen der griechischen Regierung in ungewöhnlich deutlicher Weise den Rücken gestärkt gegen den türkischen Anspruch auf mehrere Ägäis-Inseln: "Griechische Inseln sind griechisches Territorium, und niemand hat das Recht, das in Frage zu stellen", sagte sie.
Cavusoglu warf ihr daraufhin vor, auf "griechische Propaganda" hereinzufallen. Deutschland müsse seine einseitige Parteinahme für Griechenland aufgeben und wieder eine Vermittlerrolle einnehmen. "In solchen strittigen Themen an Propaganda zu glauben und Partei zu ergreifen: Das erwarten wir nicht von Deutschland", sagte Cavusoglu - und fügte eine Spitze hinzu: Unter der früheren Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sei Deutschland immer als "aufrichtiger Vermittler" aufgetreten. Diese Rolle habe es aufgegeben.
Baerbock widersprach ihrem türkischen Kollegen: "Das ist natürlich keine Propaganda, wenn man unterschiedliche Auffassungen hat." Gerade für Nato-Partner wie die Türkei und Griechenland müsse es "eine Selbstverständlichkeit" sein, "dass wir unsere Grenzen respektieren", sagte sie. Im Fall von Streitigkeiten seien Ziele "niemals mit Eskalation zu erreichen".
Cavusoglu warf Baerbock wiederum vor, Griechenland mit Kritik zu verschonen - etwa in der Frage rechtswidriger Zurückweisungen von Flüchtlingen an der griechischen Grenze. "Sie sollten in der Lage sein, Griechenland sagen zu können, dass Griechenland im Unrecht ist", forderte Cavusoglu die deutsche Außenministerin auf. Auch hier warf er Baerbock doppelte Standards vor: Die EU-Länder verschonten sich gegenseitig mit Kritik, richteten diese dann aber umso heftiger gegen die Türkei.
Kontroverse Ansichten vertraten die beiden Minister auch mit Blick auf Nordsyrien. Cavusoglu sagte, die türkische Armee sei dort aktiv, um kurdische "Terrorgruppen" zu bekämpfen, welche die Türkei bedrohten. Baerbock warnte davor, dass eine Ausweitung des türkischen Militäreinsatzes die Lage dort weiter verschlimmern und den Nährboden für ein neuerliches Erstarken radikalislamischer Gruppen bereiten könnte.
Baerbocks Reise endet am Samstagabend in der türkischen Hauptstadt Ankara. Dort will sie Vertreterinnen und Vertreter der türkischen Opposition und der Zivilgesellschaft treffen. Zudem ist ein Besuch in einem Hilfsprojekt für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak geplant.
pw/ju © Agence France-Presse