Liebe Frau La Grande,
lieber Jürgen Dusel,
lieber Kollege Sören Bartol,
sehr geehrter Herr Deschermeier, der uns als Wissenschaftler heute zur Verfügung steht,
sehr geehrte Damen und Herren!
Ich kann das gar nicht anders sagen: Es ist einfach schön, Sie wiederzusehen!
Und es ist schön, viele von Ihnen persönlich wiederzusehen. Denn nach zwei Jahren Pandemie haben wir alle gespürt: Die Inklusionstage, aber auch viele persönliche Begegnungen haben gefehlt. Und ich glaube, da ist etwas auf der Strecke geblieben.
Denn so wichtig digitale Formate sind, die wir auch alle geschätzt haben und im Moment auch schätzen: Es ist wichtig, dass das Thema Inklusion auch mit Nähe verbunden ist. Dass wir uns direkt austauschen können. Dass wir kritische Debatten auch so führen können, dass Menschen sich begegnen und wirklich wahrnehmen, was der oder die andere meint.
Gleichzeitig hat uns die Pandemie aber auch gezeigt, dass digital sehr viel mehr geht, als wir früher gedacht haben! Und deshalb ist es wichtig, dass wir gerade im Interesse von Menschen mit Behinderungen, die heute nicht in Berlin sein können, digitale Teilhabe ermöglichen können. Ich grüße alle, die heute nicht den Anfahrtsweg nach Berlin finden konnten, die den beschwerlichen Weg nicht auf sich nehmen konnten, zu unserer auch hybriden Veranstaltung heute. Meine Bitte ist, dass sie sich bei den Inklusionstagen einbringen, dass Sie sich beteiligen. Und zwar egal, ob Sie heute hier sind, auf den verschiedenen Bühnen oder im Publikum, oder ob Sie die Veranstaltung im Büro oder von zu Hause aus verfolgen.
Ich will aber nicht verhehlen: Bei aller Freude, dass wir hier zusammen sind ─ ich hätte mir gewünscht, dass die Inklusionstage in anderen Zeiten und unter anderen Vorzeichen stattfinden. Ja, es ist richtig: Die Pandemie flaut momentan ab und das ist eine gute Nachricht. Aber gleichzeitig erleben wir einen furchtbaren Krieg bei uns in Europa. Wir sehen die furchtbaren Bilder in der Ukraine. Und viele von uns hätten so etwas im Jahre 2022 nicht mehr für möglich gehalten. Ich zeige es mal am Beispiel von meiner Mutter, die vor einigen Jahren gestorben ist. Sie, Jahrgang 1937, hat Krieg und Nachkriegszeit erlebt und erlitten, auch ganz persönlich als Kind von Vertriebenen. Ich bin Jahrgang 1972 und ein Kind des Friedens. Dass wir in unserer Generation einen so schrecklichen Krieg, den Putin versursacht hat, erleben, ist etwas, das wir nicht erwartet hätten.
Deshalb ist es wichtig, dass wir in dieser Frage überhaupt keinen Zweifel daran lassen, dass unsere Solidarität dem ukrainischen Volk und den Menschen in der Ukraine gilt. Ich meine das ganz handfest. Wir haben auch erlebt, dass in den letzten Tagen und Wochen ─ der Krieg währt seit dem 24. Februar ─ auch viele Menschen mit Behinderungen Opfer dieses furchtbaren Kriegs geworden sind. Viele haben schon ihr Leben verloren. Andere müssen sich in Kellern verstecken und haben Angst. Und wiederum andere, die nicht mehr um ihr Leben bangen müssen, haben eine furchtbare, traumatisierende Flucht hinter sich. Und viele suchen auch Schutz und Zuflucht hier bei uns in Deutschland. Diese Menschen aufzunehmen, sie gut zu versorgen, ist nicht nur ein Gebot der Solidarität. Ich behaupte: Es ist unsere moralische Pflicht in dieser Krisenzeit!
Und das ist nicht einfach zu organisieren. Weil wir dafür sorgen müssen, dass diese Menschen möglichst schnell und gut versorgt werden. Deshalb hat die Bundesregierung eine Bundeskontaktstelle unter Federführung des Deutschen Roten Kreuzes eingerichtet. Es geht um eine erste Anlaufstelle für geflüchtete Menschen mit Behinderungen und auch für pflegebedürftige Menschen. Es kommen ja Menschen mit allen möglichen Formen von Behinderungen, auch pflegebedürftige Menschen, zu uns ─ bis hin zu hochbetagten Menschen, das ist besonders tragisch, die Holocaustüberlebende sind. Sie brauchen nun in Deutschland Aufnahme und Schutz.
Über diese Bundeskontaktstelle können die Länder ihre Versorgungsangebote melden. Es geht darum, dass in kurzer Zeit Lösungen gefunden werden und Transporte organsiert werden. Das klingt einfach, aber ich kann Ihnen sagen: Das ist hochkomplex. Denn häufig sind Informationen über gesundheitliche Einschränkungen und Behinderungen nur in ukrainischer Sprache verfügbar und umgekehrt Hilfsangebote nur in deutscher Sprache. Die Situation erfordert also von allen Beteiligten ein großes Maß an Geduld und Flexibilität und vor allem ein Höchstmaß an Professionalität. Und deshalb möchte ich an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön sagen ─ den Frauen und Männer des Deutschen Roten Kreuzes und auch den vielen anderen Helferinnen und Helfern. Und wenn Sie das auch so sehen, wäre jetzt die Gelegenheit für einen donnernden Applaus!
Der Bundeskanzler hat es eine Zeitenwende genannt. Wir reden in diesen Tagen viel über diesen Begriff und wir tun auch praktisch viel. Es geht um humanitäre Hilfe in der Ukraine für geflüchtete Menschen. Und ja, es geht auch um militärische Maßnahmen und militärischen Beistand. Das ist in dieser Situation unvermeidbar, da das ukrainische Volk um seine Existenz, um seine Freiheit und um seine Selbstbestimmung kämpft. Und wir denjenigen, die angegriffen werden, beistehen.
Ich sage aber auch: So sehr es wichtig ist, dass wir über äußere Sicherheit und äußeren Frieden sprechen, so wichtig ist es auch, dass wir das nicht gegen soziale Sicherheit in unserem Land ausspielen. Ich behaupte: Äußere Sicherheit und sozialer Frieden sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es geht in jedem Fall darum, zu sorgen, dass auch unsere Gesellschaft nicht durch diesen furchtbaren Krieg, die Preissteigerungen, die Attacken, die Putin auch auf unsere Gesellschaft ausübt, gespalten wird.
Und deshalb ist es für mich als Arbeitsminister wichtig, dass wir in dieser Situation keine falschen Widersprüche zulassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Versorgung von Geflüchteten ─ und es sind über 700.000 Menschen, die zu uns gekommen sind ─ gegen sozial bedürftige Menschen und Menschen, die in unserer Gesellschaft Schutz brauchen, ausgespielt wird. Das wäre Gift für unsere Gesellschaft.
Und wenn wir in diesen Tagen ganz offen und ehrlich sprechen: Es ist so, dass dieses Land unglaublich großherzig ist und dass unser Land auch stolz sein kann auf die Solidarität, die geübt wird. Aber ich will, dass diese Solidarität nicht nur eine Eintagsfliege ist, dass sie nicht nur am Anfang da ist. Und wir haben alle unsere Erfahrung, dass in solchen Krisen und bei Migrations- und Fluchtbewegungen die Großherzigkeit länger halten muss und die gesellschaftliche Stimmung nicht kippen darf. Aber es gibt auch soziale Sorgen in unserem Land. Denn Tatsache ist: Nach zwei Jahren Pandemie, vor allem aber durch Putins Krieg, sind zum Beispiel die Preise unheimlich gestiegen. Gestern hat das Statistische Bundesamt die höchste Inflation seit vierzig Jahren gemeldet. Die Verbraucherpreise sind um 7,9 Prozent gestiegen. Es ist übrigens auch für Menschen mit einem hohen Einkommen ärgerlich, wenn das Stück Butter 2,70 Euro kostet. Aber für Menschen, die ein normales oder geringes Einkommen haben oder die auf soziale Unterstützung angewiesen sind, ist das nicht nur ärgerlich, sondern ein existenzielles Problem.
Wenn sich eine alleinerziehende Mutter Sorgen machen muss um die nächste Heizkostenrechnung, dann können wir nicht tatenlos zuschauen. Und das ist der Grund, warum wir als Bundesregierung versucht haben, mit einem größeren Entlastungspaket jetzt erst einmal akut in diesem Sommer zu helfen. Mit viel Geld, mit 30 Milliarden Euro. Aber wir müssen ─ und das ist mein Petitum gewesen in den letzten Tagen ─ auch Antworten auf die Frage finden: Was passiert, wenn die Preise kurzfristig nicht wieder runtergehen? Es ist damit zu rechnen, dass Energie- und Lebensmittelpreise über längere Zeit hoch bleiben. Ich bin der festen Überzeugung: Weil Geld und Ressourcen knapp sind, müssen wir gezielt Menschen mit normalen und geringen Einkommen und denjenigen, die sich nicht selbst helfen können, helfen. Das ist eine Frage des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft und das muss auch leistbar sein. Über den Weg dahin werden wir uns politisch unterhalten müssen. Ich will aber auch sagen: Ich bin an Lösungen interessiert und auch daran, dass nach zwei Jahren Coronapandemie diese Krise nicht dauerhaft zur Inklusionsbremse wird.
Jetzt gilt es erstmal, bei aller Aufmerksamkeit für diesen furchtbaren Krieg, auch daran zu arbeiten, dass wir auch in Inklusion investieren. Das alles darf, wie gesagt, nicht zu Lasten von falschen Prioritäten gehen. Denn es ist wichtig, dass wir in diesem Bereich feststellen, dass die Pandemie viele Menschen mit Behinderungen belastet hat. Dass viele Hilfsstrukturen ausgefallen sind. Dass viele Angehörige von Menschen mit Behinderungen enorme Lasten tragen mussten. Sei es, weil Schutzmaßnahmen zu neuen Barrieren geführt haben. So wichtig das Maske Tragen ist und wir erleben das auch hier im Raum: Es ist für viele Menschen eine Einschränkung ihrer Kommunikation. Das darf man nicht vergessen.
Und was mich besonders bedrückt hat in den zwei Jahren der Pandemie: dass persönliche Kontakte ausgefallen sind. Ich denke an Menschen in Wohngruppen oder beispielsweise auch in Werkstätten, in denen soziale Kontakte auf ein Minimum reduziert waren. Ich denke an Menschen, die es ohnehin nicht leicht haben, sich in dieser beschleunigten und bunten Welt zurechtzufinden. Und ich denke an die psychischen Folgen, die so etwas zusätzlich hatte.
Nach dieser langen und schwierigen Zeit ist es deshalb wichtig, dass wir uns nicht nur damit beschäftigen, wie wir den Schaden, der eingetreten ist, reparieren. Ich glaube, es muss einen neuen Aufbruch zu mehr Selbstbestimmung und zum Abbau von Barrieren geben. Das ist mir ein sehr, sehr großes Anliegen. Und dafür brauchen wir Unterstützung. Inklusion ist keine reine Aufgabe der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, so wichtig dieses Feld für Inklusion ist. Es ist eine Querschnitts- und Gemeinschaftsaufgabe. Und ich sage: Das geht alle Politikfelder etwas an, es geht die gesamte Bundesregierung etwas an.
Das ist übrigens der Grund, warum Jürgen Dusel, der Beauftragte für die Menschen mit Behinderungen nicht der Beauftragte des Arbeits- und Sozialministers ist. Auch wenn er sein Büro im Bundesarbeitsministerium hat gemeinsam mit seinem Stab. Er ist vielmehr der Beauftragte der Bundesregierung. Lieber Jürgen, ich bedanke mich ganz herzlich für deinen Einsatz, gerade in der Zeit der Pandemie. Ich weiß, wie sehr du dich reingehängt hast. Ich weiß auch, wie du dich für die Versorgung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine und anderen Teilen der Welt reinhängst. Aber vor allem weiß ich, dass du ein Impulsgeber für mehr Inklusion in Deutschland bist. Dein Motto ist: Demokratie braucht Inklusion. Und kleiner machen wir es auch nicht. Jürgen Dusel, schön, dass du da bist!
Und ich möchte nicht nur Jürgen Dusel, sondern Ihnen allen deutlich machen: Trotz der aktuellen Krise und des Krieges ist die Bundesregierung entschlossen, die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag im Bereich Inklusion eben nicht auf die lange Bank zu schieben. Nach dem Motto: Jetzt ist Krise, das können wir jetzt nicht machen, das müssen wir später machen. Wir müssen beides hinkriegen: Wir müssen die Krise meistern und sozialen Fortschritt machen. Und das heißt, dass wir uns ganz konkrete Dinge im Bereich der Inklusionspolitik vorgenommen haben:
Wir wollen das Behindertengleichstellungsgesetz überarbeiten, das übrigens in diesem Jahr, am 1. Mai, 20 Jahre alt geworden ist. Dieses Gesetz wird derzeit evaluiert und die Ergebnisse werden wir uns genau anschauen. Aber ich sage zu: Wir werden dieses Gleichstellungsgesetz in dieser Legislaturperiode grundlegend weiterentwickeln.
Wir wollen auch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz weiterentwickeln. Übrigens, über das Wort muss man nochmal nachdenken. Ich habe gezählt: Es hat 32 Buchstaben. Bei Scrabble würde man damit richtig gewinnen. Aber trotz der Tatsache, dass der Name dieses Gesetzes sehr sperrig ist ─ das passt ja irgendwie auch zum Thema, denn es geht darum, Sperren und Barrieren wegzuräumen: Mit diesem Gesetz nehmen wir erstmals auch die Privatwirtschaft, private Unternehmen, in die Pflicht. Sie müssen künftig dafür sorgen, dass der Zugang zu Information und Kommunikation barrierefrei ist. Beispielsweise, wenn es um Selbstbedienungsterminals oder E-Books geht.
Ich mache das mal an einem klassischen Beispiel deutlich: Wir haben alle festgestellt, dass viele Unternehmen aus Kostengründen, nicht um die Kunden besser zu behandeln, sondern um Personal einzusparen, inzwischen Selbstbedienungsterminals aufgemacht haben. Damit meine ich nicht nur die Geldautomaten, die übrigens für viele Menschen mit Behinderungen auch nicht einfach zu bedienen sind. Sondern ich denke beispielsweise an die Situation, wenn man sich ein Auto mieten will. Dann hat man nicht mehr einen freundlichen Menschen hinter der Theke, der das versucht abzuwickeln, sondern man darf das jetzt alles selbst eingeben. Das ist ohnehin ein interessanter Vorgang. Aber wir wollen mit diesem Gesetz dafür sorgen, dass die Privatwirtschaft verpflichtet ist, Informationen und solche Angebote eben auch barrierefrei zu organisieren.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag auch ein sehr heißes Eisen vorgenommen, bei dem es sehr unterschiedliche Gefühle gibt. Das ist die Frage, wie wir das Entgeltsystem in den Werkstätten verändern. Das ist kein einfaches Thema. Aber ich weiß, dass es ein Thema ist, dass sehr, sehr viele Menschen bewegt. Und wir werden auf Basis des Forschungsvorhabens, das wir in Auftrag gegeben haben, in dieser Legislaturperiode zu Veränderungen kommen.
Gleichzeitig ─ und jetzt bin ich wieder der Arbeitsminister ─ geht es um Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt, nicht nur in Werkstätten. Das ist mir ein Herzensanliegen. Und deshalb sage ich an dieser Stelle auch: Ich bin froh, dass es in dieser Legislaturperiode gelungen ist, dass etwas, mit dem ich in der letzten Legislaturperiode nicht durchgekommen bin, Wirklichkeit wird: Wir werden die vierte Stufe bei der Ausgleichsabgabe einführen. Das ist überfällig, denn schließlich geht es um diejenigen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die trotz Beschäftigungspflichtviel zu wenige schwerbehinderte Beschäftigte haben ─ nämlich keinen einzigen. Obwohl sie, wie gesagt, eigentlich gesetzlich verpflichtet sind. Ich will das deutlich sagen: Ich weiß, dass sich viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber händeringend Fachkräfte wünschen. Ich weiß auch, dass sich viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stark um Inklusion bemühen. Aber für Null-Beschäftiger habe ich null Verständnis an dieser Stelle, das ist eine klare Ansage!
Ich will, dass dieses Gesetz noch im Herbst auf den Weg gebracht wird – und zwar nicht im Herbst irgendwann, sondern im Herbst dieses Jahres. Und ich weiß schon, was Interessensverbände dazu sagen werden: „Es ist Krise – lasst uns mit so etwas in Ruhe!“ Ich sage: gerade in dieser Zeit, in der wir alle Potenziale am Arbeitsmarkt heben müssen, müssen wir dafür sorgen, dass die Tür für Menschen, die etwas können, nicht versperrt wird!
Und ich sage nochmal: man kann nicht auf der einen Seite über Fachkräftemangel klagen, und nicht alle Potenziale auch erkennen, die viele Menschen mit Behinderung für den Arbeitsmarkt mit sich bringen. Und wer die Statistik lesen kann, weiß, dass die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen trotz höherer Qualifikation im Schnitt gegenüber anderen arbeitslosen Menschen viel zu hoch ist. Also, Arbeitgeber: wir helfen Euch, gar keine Frage! Es sind einheitliche Ansprechstellen geschaffen worden ─ jetzt, um alle möglichen Formen von Unterstützung zu organisieren, zum Beispiel über die Inklusionsämter, um Arbeitsplätze inklusiver auszugestalten.
Früher hieß es, die Arbeitgeber wissen nicht um die vielen Hilfen, weil die so verstreut angeboten werden. Jetzt gibt es diese einheitlichen Ansprechstellen! Und weil das so ist, gibt es keine Ausrede mehr für Null-Beschäftiger. Wir brauchen Anreize und Unterstützung für Unternehmen. Aber ich sage auch, die vierte Stufe der Ausgleichsabgabe gehört dazu!
Ich will aber an einem Prinzip deutlich machen, was mich leitet in dieser Frage: Wir reden heute und in den nächsten Tagen, bei den Inklusionstagen, sicherlich über vieles, was nicht in Ordnung ist. Über Defizite. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das, was in der Pädagogik gilt – und ich erlebe es bei meinen eignen Kindern – auch für die Gesellschaft gilt, nämlich, dass wir von guten Beispielen immer mehr lernen können als von abschreckenden. Und ich sage das mit Blick auch auf den Arbeitsmarkt.
Ich war vor einigen Tagen in Duisburg bei der großen Firma Thyssen Krupp. Ein riesiges Stahlunternehmen. Ich habe erlebt, dass dieses Unternehmen, das übrigens mitten in der Transformation ist hin auch zur klimaneutralen Produktion von Stahl, einen betriebseigenen Inklusionsbereich für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Einschränkungen aufgemacht hat. Das sind Fachkräfte, die in ihrer eigentlichen Tätigkeit nicht mehr arbeiten können, weil sie beispielsweise eine schwere Erkrankung haben. Und ich habe da einen jungen Mann kennengelernt, der noch keine 30 Jahre alt ist und gelernter Stahlwerker ist. Dieser Mann arbeitet und lebt nach einem schweren Unfall jetzt im Rollstuhl. Aber er kann seine Arbeitskraft weiterhin einbringen und ist nun in der Metallverarbeitung tätig.
Ich will sagen, dass dieses Unternehmen beweist, dass es geht! Und dass andere Unternehmen, große und kleine, von diesem Beispiel auch lernen können. Ausreden jedenfalls, lassen wir nicht mehr gelten! Denn Inklusion am Arbeitsmarkt, das ist eben nicht nur eine Frage der Solidarität mit Menschen mit Beeinträchtigung. Sondern es ist schlicht und ergreifend eine Frage der ökonomischen Vernunft. Ab 2025 werden die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer Stück für Stück in Rente gehen. Und ich bin Jahrgang 72 – von mir gibt es bisschen weniger, dazwischen war die Pille. Wir werden das also bei der Rente und am Arbeitsmarkt erleben. Und deshalb: wir werden alle Register ziehen müssen für Fachkräftesicherung. Weil Fachkräftemangel doch heute schon eine Wachstumsbremse für viele Unternehmen ist.
Und deshalb nochmal: Es gilt, genau hinzuschauen, Unterstützung für Unternehmen anzubieten aber auch keine Ausreden mehr zuzulassen. Übrigens, mein Kollege Sören Bartol, der Staatssekretär aus dem Bundesbauministerium, der heute dankenswerterweise hier ist – schönen Gruß, Sören, du hast nachher das Wort – der ist noch jünger. Der ist Jahrgang 75. Also du bist auch ein rares Exemplar. Aber jüngere gibt es noch weniger und deshalb nochmal: Wir müssen Potenziale am Arbeitsmarkt erschließen. Wir brauchen übrigens ergänzend noch qualifizierte Zuwanderung, damit auch das zum Thema wird für Wachstum und Teilhabe.
Was ist noch? In dieser Woche beraten wir im Deutschen Bundestag ein Rentenpaket. Es geht um eine Rentenerhöhung in diesem Jahr, aber es geht auch darum, dass wir endlich das Thema Erwerbsminderungsrente anpacken. Und zwar nicht nur für zukünftige Fälle, sondern auch für den Bestand. Es gab seit 2014 durchaus Leistungsverbesserung in der Erwerbsminderungsrente. Aber die meisten Briefe, die ich bekommen habe, waren von Menschen, die sagen: „Ist ja schön und gut, dass ihr da was verbessert habt, aber leider nur für Neufälle.“
Mit der jetzigen Reform erreichen wir mehr, vor allen Dingen auch diejenigen, die bisher leer ausgegangen sind. Das betrifft viele Menschen mit Beeinträchtigung, das betrifft viele, die erwerbsgemindert sind. Und es geht ganz konkret um Zuschläge von 4,5 bis 7,5 Prozent auf die Rente. Das ist für viele Menschen in diesem Land, gerade in diesen Zeiten, glaube ich, eine wichtige Unterstützung.
Und bevor einige sagen: mehr, mehr, mehr, mehr. Ich wünsche mir auch immer mehr. Aber ich bin auch nicht alleine in dieser Koalition. Ich will nur sagen: „Zu niedrig“ kann man immer sagen. Zu niedrig, zu spät und nicht für immer. Für immer ist es schon. Aber es ist ganz konkret eine Hilfe, für die wir lange kämpfen mussten. Und es ist übrigens milliardenschwer in der Finanzierung. Ich bin froh, dass wir diesen Schritt gemacht haben. Und wenn man so einen Schritt geht, dann hält den Gesetzgeber später auch niemand davon ab, noch weiter zu gehen. Es ist eine konkrete Verbesserung, für die wir gekämpft haben. Es ist ein wichtiger Fortschritt.
Wir wollen mehr Teilhabe, und das betrifft auch das Thema der Barrierefreiheit im umfassenden Sinne. Das betrifft auch den Schwerpunkt der Inklusionstage, den wir uns in diesem Jahr gewählt haben. „Menschen mit Behinderung haben das Recht, gleichberechtigt ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen.“ So heißt es in Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen.
Doch ist das die Realität in unserem Land? Ich glaube, die Antwort ist „nein“. Denn bezahlbarer Wohnraum ist knapp, barrierefreier Wohnraum ist noch knapper. Nur rund 14 Prozent der Wohngebäude in Deutschland sind schwellenlos zugänglich. Und weniger als 0,3 Prozent der Wohnungen erfüllen alle Kriterien der Norm für barrierefreies Wohnen. Das heißt zum Beispiel, dass das Bad für Rollstuhlfahrer geeignet ist oder dass beispielsweise Türgriffe niedriger angebracht sind, für kleinwüchsige Menschen also erreichbar sind.
Der Bedarf an barrierefreiem Wohnen ist groß. Und er wird übrigens angesichts des Altersaufbaus, den ich vorhin beschrieben habe, weiter wachsen. Was viele nicht wissen: Die Mehrkosten für barrierefreies Wohnen im Wohnungsbau sind nicht sonderlich erheblich – im Neubau nur ein bis zwei Prozent der Baukosten. Wer von Anfang an barrierefrei denkt, handelt nicht nur sozial verantwortlich, sondern wirtschaftlich klug. Weil barrierefreier Wohnraum zukünftig auch durch den demografischen Wandel höherwertiger Wohnraum sein wird. Das muss klar werden, das muss auch Wohnungsbauunternehmen klar sein!
Ich gebe allerdings zu: Ich bin nicht der Bauminister. Das ist meine Kollegin Klara Geywitz, die übrigens gerade im Bundestag sein muss, weil der Haushalt beraten wird. Aber nochmal: Ich freue mich, dass ihr sehr geschätzter Staatssekretär Sören Bartol bei uns ist. Herzlich willkommen, lieber Sören! Und jetzt müssen Sie mal Applaus machen, denn der bringt nachher die Lösungen mit!
Nein, das ist natürlich ein Scherz. Denn das ist mir sehr, sehr ernst: Wir können dieses Problem nicht als Politik alleine lösen. Wir brauchen Partnerinnen und Partner. Wir brauchen vor allem Expertinnen und Experten in eigener Sache. Denn inklusives Wohnen über die Köpfe von Menschen, um die es geht, hinaus zu denken, wird mit Sicherheit in die schiefe Ecke laufen. Sondern wir müssen uns nach den Bedürfnissen derjenigen Menschen organisieren, um die es tatsächlich geht. Nicht über sie, nicht an ihnen vorbei, nicht unten durch, sondern mit ihnen gemeinsam. Und deshalb, wie gesagt, finde ich es eine gute Idee, in diesem Jahr, dass wir diesen Schwerpunkt haben.
Wir müssen dafür sorgen, dass Inklusion in allen Lebensbereichen eine Selbstverständlichkeit wird. Und dafür gibt es übrigens inzwischen auch sehr prominente Beispiele. Ich denke an den ersten gehörlosen amerikanischen Schauspieler, der in diesem Jahr einen Oscar erhalten hat. Der Mann heißt Troy Kotsur. Sicher ein Vorbild für viele Menschen. Ich denke aber auch an Sportlerinnen und Sportler, die im nächsten Jahr 2023 bei den Special Olympics nach Berlin kommen werden. Es ist das erste Mal überhaupt, dass Special Olympics in Deutschland stattfinden. 7.000 Athletinnen und Athleten werden nach Berlin kommen. Das wird ein Sportfest und ein wirklich wichtiges Ereignis, gerade im Interesse von Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Kommen Sie nächstes Jahr alle nach Berlin! Seien Sie dabei! Ich finde, das ist ein ganz wichtiges Signal. Das hat es in Deutschland noch nie gegeben und das ist das größte inklusive Sportereignis der Welt. Und ich finde, das ist eine tolle Nachricht – übrigens nicht nur für echte Sportfans. Es ist auch gut, dass in den Medien, in den Öffentlich-Rechtlichen Sendern, auch in den privaten Stück für Stück klar ist, dass es Künstlerinnen und Künstler, dass es Sportlerinnen und Sportler, dass es auch Menschen in der Politik gibt mit Beeinträchtigung und dass es wichtig ist, dass wir darüber reden und dafür sorgen, dass die Diversität dieser Gesellschaft auch öffentlich erkennbar ist.
Aber, so wichtig solche Rollenvorbilder für alle sein mögen, am Ende entscheidet der Alltag. Die Frage, ob wir es schaffen, auch im Alltag Inklusionsbremsen zu beseitigen. Und ich möchte jetzt damit fortfahren, dass wir über gute Beispiele anhand von Projekten reden, die den Alltag von Menschen verbessert haben. Die Rede ist von den drei Preisträgern, die ich nun gleich auf die Bühne bitten werde. Sie haben sich ganz konkret und kreativ für Teilhabe in den letzten zwei Jahren stark gemacht. Sie fragen sich vielleicht: Habe ich etwas verpasst? Um welchen Preis geht es? Die Rede ist vom Bundesteilhabepreis 2021. Und jetzt haben wir schon 2022. Raten Sie mal, warum die Preisverleihung nicht so richtig schön war? Es hat mit der Pandemie zu tun und deshalb machen wir das heute.
Wir haben die Preisträgerinnen und Preisträger heute eingeladen ─ auch, um sich und ihre Projekte persönlich präsentieren zu können. Mit dem Preis zeichnen wir vorbildliche Projekte aus, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, vor allem in der Krisensituation der Pandemie. 2021, also im letzten Jahr, stand der Bundesteilhabepreis unter dem Motto „Unterstützen, Assistenz, Pflege ─ gesellschaftliche Teilhabe in Coronazeiten“.
Und ich habe es vorhin gesagt: Es war nicht nur für die Preisträgerinnen und Preisträger sehr schade, dass wir das letztes Jahr nicht physisch machen konnten. Auch für die Jury war es nicht einfach, das Ganze digital zu organisieren. Und deshalb einen außerordentlichen Dank an die überaus ehrenamtliche Jury unter Leitung von Anke Glenz, der Behindertenbeauftragten des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald, für die Sie bitte nochmal applaudieren sollten, stellvertretend für ihr Team. Ich darf jetzt tatsächlich die Preisträger zu mir bitten!
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Bulletin 75-3