Bevor ich es geschafft habe, dieser Akkumulation von Lebensentwürfen, zu entfliehen, die sich Wohngemeinschaft schimpft, um nun das Dasein eines „Zusammengezogenen“ zu fristen, entstand die Streitfrage, ob Double Denim nun als Stilsünde zu werten ist, oder nicht. Soll heißen: Diesen Text bin ich einem alten Mitbewohner schuldig.
Dieser Diskurs entbrannte im Herbst 2020. Die Coronazahlen begannen wieder zu steigen und das Wetter wurde kälter. Nur war ich nicht der Meinung, dass ich meine, erst im Sommer erworbene Jeansjacke, bereits wieder an den Nagel hängen sollte. Ich wappnete mich mit einem Arrangement aus weißen Sneakern, schwarzen Wollsocken, einem schweren Norweger Pullover und einer Kombination aus Jeans und der besagten Jeansjacke gegen die Kälte. Ganz zum Missfallen meines stilbewussten Mitbewohners. Dieser wetterte – nach dem er hoffte, sie nachdem Sommer nicht wiedersehen zu müssen – gegen die vermeintliche Stilsünde namens „Double Denim“.
Um auch die Lesenden abzuholen, die Fachtermini aus der Modebranche in eine völlige Apathie verfallen lassen, ordnen wir dies ein. Double Denim, auch „Jeans-zu-Jeans-Look“ oder „Canadian Tuxedo“ genannt, gilt seit seinen Anfängen als ein Aufrütteln gegen die bestehende Kleiderordnung. So soll 1951 der Schauspieler und der alle Plattenrekorde einholende Sänger Bing Crosby in einem kanadischen Hotel abgewiesen worden sein, da er ganz in Denim auftauchte. Auch Elvis Presley trug, wenn er nicht gerade die Moral der Jugend unterminierte, in seinem Alltag und nicht selten auf der Bühne eine Kombination aus Jeans und Jeansjacke, die als Provokationen gegen die obere, konservative Mittelklasse verstanden werden konnte: Elvis Presley als sichtbares Arbeiterkind auf den Bühnen Amerikas.
Als Zeichen eines radikalen Nonkonformismus ließ sich der „Canadian Tuxedo“ lange Zeit deuten. Als Zeichen der Solidarisierung mit dem Prekariat, durch die Menschen, die dieser seit einer langen Zeit nicht mehr angehörten. Debbie Harry, Robert Redford, Marilyn Monroe, George Harrison, Sade, Drew Barrymore, Naomi Campbell und viele mehr nutzten diesen Stilbruch als bewusstes Statement. Aber wie so häufig verwaschen (Wortspiel beabsichtigt) diese ehemaligen Intentionen in der Modebranche schnell. Um nun Georg Simmel und seinen Aufsatz „Philosophie der Mode“ zu rekurrieren, entsteht Mode in einem zwischenmenschlichen, bedürfnisorientierten Spannungsverhältnis, in einem Dualismus zwischen der Absonderung und der Nachahmung. Die Reaktion auf die gesellschaftlichen Umstände der Kunstschaffenden durch die Mode haben wir schon erfasst, aber dort hört die Eigenlogik der Modeindustrie nicht auf. Fans aus der ganzen Welt beginnen diese Stile nachzuahmen und die Jeans-zu-Jeans-Kombo entledigt sich der gesellschaftlichen Rolle und geht in der Marktlogik auf. Die eigentliche Intention des Tragenden wird durch den Markt pervertiert. Double Denim wird vermarktbar und die Kunstschaffenden benötigen neue Modestile, um sich abzusondern, bloß um wieder nachgeahmt zu werden. Ein nicht zu entkommender Zirkel.
Zur Vollständigkeit: Georg Simmel glaubte Mitte der 1910er Jahre, dass Mode sich von der höheren Klasse in die niedrigere Klasse übertragen lasse und dass dieses horizontale Merkmal das Einzige sei, dass Weiterentwicklungen in der Mode vorantreibe. Dies mag heutzutage nicht mehr so einfach innerhalb einer Klassendialektik zu erklären sein. Mode überträgt sich aus den verschiedensten Subkulturen und dem kreativen Milieu, das zumeist finanziell bessergestellt ist, in das kollektive Bewusstsein. Charaktere wie der Modedesigner Virgil Abloh gehören zwar aus finanzieller Sicht zur Oberschicht, aber nicht bloß deswegen formen sie Kultur. Sie müssen Outliers in der Modeindustrie sein und werden zumeist erst daraufhin vermögend. Mode entsteht in einer gesellschaftlichen Vertikalen. Alte Modedynastie gehören größtenteils der Vergangenheit an. Die Monarchie der Mode liegt im Sterben.
Zurück zur Nietenhose: Viele Jahrzehnte dominierte der Jeans-zu-Jeans-Look in regelmäßigen Abständen die Modeindustrie, angefeuert durch eine im breiten Sinne klassenbewusste Abwendung vom kulturellen Mainstream. Jeans als Revolution.
Bis zum 08.01.2001, dem Tag, an dem Britney Spears und Justin Timberlake – mit einer Abendgarderobe aus Denim, inklusive einem Fedora und einer Clutch aus dem Jeansstoff – die Revolution beendet und als Musterbeispiel der Stilsünde in die Zeitgeschichte der Mode eingingen. Auch Simmel sollte hiernach klarwerden, dass der höchste soziale Status kein Freifahrtschein für die Erschaffung von Modetrends ist. Dieser Sündenfall und sein persönliches Geschmacksempfinden genügen meinem ehemaligen Mitbewohner, seine Antipathie gegen diese Modestile argumentativ zu untermauern. Trotz dieses schlagkräftigen Arguments behauptete ich, einen neuen Bewusstseinswechsel in der Modewelt wahrzunehmen. Zwar noch weit ab von dem revolutionären Charakter des Jeansstoff drängt sich eben dieser nach einer fast zwanzigjährigen Zwangspause zurück in die Öffentlichkeit. Charaktere wie Zoe Kravitz, Gigi Hadid, Rihanna und Liu Wen beginnen ihn wieder zu tragen, aber gerade Cliff Booth aus dem 2019er Tarantino-Drama „Once Upon a Time… in Hollywood“, gespielt von Brad Pitt, spült den Stil in meinen Kleiderschrank. Lockeres, schwarzes T-Shirt, ausgewaschene Jeans und eine etwas zu enge Jeansjacke werden zu meiner Wahl im Sommer. Die extragroßen, inneren Jackentaschen fassen alle Taschenbücher. Und so wird, wie vorhin beschrieben, dieser Stil winterfest gemacht – zum Leidwesen meines Mitbewohners, der nun seinem Unverständnis Luft machen musste.
Mit einem Sprung ins Jahr 2022 fällt der nächste Abschnitt unter den Begriff „Foreshadowing“, oder auch: meine Fähigkeit Modetrends vorauszusehen. Anfang dieses Jahres bringen Ye (früher Kanye West) und Julia Fox die Jeanskluft auf den roten Teppich, Emily Ratjkowski auf die Straßen Los Angeles und Katie Holmes auf die New Yorks. Designer wie Balenciaga, Rag&Bone, Loewe oder Max Mara bringen Denim auf den Laufsteg. Esquire und die Vogue betiteln ihn als den „Stil des Sommers“. Double Denim ist in der Modewelt zurück und ich bin ihm bereits wieder entwachsen. (Ich möchte kurz zwischenschieben: Dieser Abschnitt tat mir beim Recherchieren, beim Schreiben und noch mehr beim Lesen weh. Die Beschäftigung mit der Klatschpresse der Modewelt schmerzt.)
Ich könnte nun behaupten, dass ich selbstverständlich dem kreativen Milieu angehöre und mich durch eine gewisse Form der Absonderung vom aktuellen Modetrend distanzieren möchte, und deshalb bereits zu neuen Ufern aufgebrochen bin. Oder ich könnte behaupten, dass mir der revolutionäre Charakter der Jeanskluft bereits vor dem Schreibprozess dieser Kolumne bewusst gewesen sei, und dass der inflationäre Gebrauch des Jeansstoffes in der Modewelt die eigentliche Message verwaschen würde, wodurch ich sie nicht mehr tragen könnte. All diese Behauptungen wären gelogen. Die Realität ist, dass ich mich sattgesehen habe und zusammen mit meinem breitkrempigen Fedora nicht mehr aussehen wollte, als würde ich zurück auf die Weide müssen, um meine Kühe zur nächsten Wasserstelle zu treiben. Mal sehen, wann ich das rebellierende Kulturgut des Klassenkampfs wieder aus meinem Kleiderschrank befreie.
Was heißt dies nun für den Diskurs meiner alten Wohngemeinschaft? Ich wünschte, ich hätte die Recherche, die ich nun für diese Kolumne unternahm, schon damals begonnen. Es hätte dem Diskurs einiges mehr an Grundlage bieten können. Dem ästhetischen Empfinden meines alten Mitbewohners wäre ich zwar nicht gerecht geworden, aber ich hätte die Diskussion um den revolutionären Gehalt erweitern können und mich so auf einer unfassbar unsympathischen Weise erhaben fühlen können. Meine Hoffnung: Diese Kolumne hat einen eindeutigen Adressaten. Ich hoffe, dass mein ehemaliger Mitbewohner diesen oberflächlichen Beitrag zum popkulturellen Gehalt des Jeansstoffes in seiner nun Hamburger Wohnung zumindest kurz nostalgisch werden lässt und er sich, wenn auch nur kurz, an seine Münsteraner Zeit zurückerinnert. Viva la tenuta di jeans!
Text- und Bildrecht: Marcel Guthier.