Ein Jahr ist vergangen, doch wir alle haben noch die Bilder im Kopf als sich verzweifelte Menschen an Flugzeuge klammerten und Kabul ins Chaos stürzte. Seither hat sich die Herrschaft der Taliban wie ein dunkler Schleier über Afghanistan gelegt. Heute haben viele Afghaninnen und Afghanen nicht genug zu essen, leben in täglicher Furcht vor Verfolgung und werden in ihren Grundrechten beschnitten.
Für Frauen und Mädchen bedeutet dies ein Leben wie im Gefängnis. Die Vorstellung, dass Mädchen im 21. Jahrhundert keinen uneingeschränkten Zugang zu Bildung erhalten und sich Frauen ohne männliche Verwandte nicht frei bewegen können, ist kaum zu ertragen, aber in Afghanistan für viele bittere Realität.
Der 20-jährige Einsatz in Afghanistan sollte Afghaninnen und Afghanen die Chance auf ein Leben in Freiheit ermöglichen. Unzählige Deutsche haben sich über die Jahre dort unter großem persönlichen Risiko engagiert, 59 Bundeswehrsoldaten haben dafür mit ihrem Leben bezahlt, ebenso wie mehrere deutsche Polizisten und Mitarbeitende der Entwicklungszusammenarbeit. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass dieses Engagement nicht umsonst war.
Auch deswegen hat die internationale Gemeinschaft eine Verantwortung für die afghanische Zivilgesellschaft und all diejenigen, die für Menschenrechte und demokratische Werte in Afghanistan einstehen. Sie sind die Hoffnungsträger für eine friedlichere Zukunft. Wir werden diese Menschen nicht im Stich lassen.
Trotz vieler Hürden konnten bereits über 70 Prozent der Schutzbedürftigen mit Aufnahmezusage evakuiert werden. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Zivilgesellschaft wäre dies undenkbar gewesen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, weiteren Menschen die Ausreise zu ermöglichen. In Kürze werden Innenministerin Nancy Faeser und ich dazu das Bundesaufnahmeprogramm vorstellen, das sich auf die am meisten gefährdeten Menschen konzentriert, vor allem Frauen und Mädchen.
Aber es geht nicht nur darum, Menschen aus Afghanistan herauszubringen. Auch diejenigen, die bleiben, brauchen dringend Hilfe. Deswegen hat Deutschland seine humanitäre Hilfe für die Menschen in Afghanistan erneut aufgestockt.
Um aus Fehlern der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, bleibt eine lückenlose Aufarbeitung unerlässlich. Ich bin froh, dass der Bundestag einen Untersuchungsausschuss und eine Enquete-Kommission (Wiki) eingesetzt hat. Zugleich möchte ich all denjenigen danken, die bei der Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und Ortskräften im vergangenen August mit Herzblut im Einsatz waren.
Ein Regime, das Menschenrechte mit Füßen tritt, werden wir unter keinen Umständen anerkennen. Aber die Menschen in Afghanistan dürfen wir nicht vergessen, auch nicht ein Jahr nach Machtübernahme der Taliban.