Gerade noch stand ich zwischen Sesselecken und Kicker auf dem Dancefloor, da stolpere ich schon aus diesem kleinen Münsteraner Club mit WG-Party-Atmosphäre auf die Straße und in die Nacht hinaus. Verlassen von der eigenen Freundin – da diese müde sei, sie auf den Fußmarsch in die gemeinsame Wohnung lieber verzichten wollte und ihr Fahrrad vorzog – begebe ich mich auf den Nachhauseweg. Müde und angenehm angetrunken suche ich nach einer passenden Unterhaltung. Die Podcast-App wird aufgemacht, aber alle neuen Podcast-Erscheinung wurden bereits gehört und so werden mir, dem müden Wanderer, unter der Kategorie „Shows, die dir gefallen könnten“ der Podcast von Richard David Precht und Markus Lanz vorgeschlagen. Mit dem Drang nach Streit und dem Interesse am „Anderem“ höre ich rein. Nach 34 Minuten – in denen zwei alte weiße Männer meinen, die Jugend von heute noch zu verstehen, da sie unzählige Vorurteile aneinanderreihen können, wenig geistreiche Hypothesen aufstellen und zahllose schwache Vergleiche mit der eigenen Kindheit herbeizitieren – muss ich die Podcast-App schließen. Ich halte, gerade den kühlen Pathos und die selbstsichere Omniszienz, für unerträglich und stehe nun mit einer Frage allein in der Nacht: Wieso gelten diese Menschen als Intellektuelle oder gar anerkannte Philosoph*innen und gehören zur Speerspitze des deutschen Kulturbetriebs?
Und so war
beschlossen, dass ich mich intensiver mit diesem Gefühl der Ablehnung, vor
allem Richard David Precht gegenüber, auseinandersetzen muss. Wie vielen
Menschen begegnete mir Precht das erste Mal in unzähligen Interviews, zum
Beispiel bei „Jung & Naiv“ oder auch in der Sendung seines Podcast-Partners
Markus Lanz, in den er Positionen zu öffentlichen Debatten bezog.
Von Digitalisierung über Tierethik bis hin zu dem bedingungslosen Grundeinkommen – es gab Weniges, zu dem Precht keine Meinung gehabt hätte. In Kritik geriet Precht vor allem im letzten Jahr. Dies lag vor allem an seinen kritischen Kommentaren zur Corona-Krise – so wurde ihm vorgeworfen, „intellektuell abgestürzt“ zu sein und seine andauernden Monologe auf „Querdenker-Niveau“ zu führen (siehe Spiegel, November 2021, Marco Evers) – oder an seiner Einstellung zum Ukraine-Krieg. So unterschrieb er mit diversen – und dies soll nicht im Sinne von „Diversität“ verstanden werden, denn das kann sich diese weiße-heteronormative Gruppierung von Menschen nicht zuschreiben – sogenannten „public intellectuals“ einen der zwei offenen Briefe, in dem sie forderten, den Krieg durch Verhandlungen mit Putin schnellstmöglich zu beenden. Der erste Brief erschien in der von Alice Schwarzer geführten Zeitschrift „Emma“ und der zweite Brief in der „Zeit“. Den Unterschreibenden wurde flächendeckend gefährliche Naivität im Umgang mit dem Diktator Putin vorgeworfen. Achtundzwanzig und später einundzwanzig FilmemacherInnen, PhilosophInnen, LiteratInnen und WissenschaftlerInnen unterzeichneten diesen Brief. Menschen, denen nach diversen Medienauftritten zugeschrieben wird, „Intellektuelle“ zu sein. Aber auch hier wieder die Frage: Was bedeutet es, Intellektuelle/r zu sein? Was ist ein/e Intellektuelle/r – und wenn ja, ist Richard David Precht einer?
Um mich bei dem, als er diese
Zeilen schrieb, inhaftierten Antonio Gramsci zu bedienen: „Alle Menschen sind
Intellektuelle […], aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die
Funktion von Intellektuellen.“ Das Ziel, das Gramsci nach diesen Zeilen
formuliert hat, ist, dass der Intellektuelle derjenige/diejenige sein soll, der/die
aus dem Elfbeinturm hinabsteigt und die Massen lehrt, um notwendige
gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen.
Aber wer macht die/den Intellektuelle/n
zu einem solchen? Intellektuelle unterliegen einer intersubjektiven
Zuschreibungspraxis. Sie gewinnen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
Richtigkeit ihrer Aussagen und in die Bedeutsamkeit ihrer gesellschaftlichen
Ziele, der Massen, die ihre Ideen und deren Richtigkeit abnicken. So soll es
nach Gramsci sein, aber wie ist es nun? Intellektuelle verkaufen ihre Ideen in
der Kulturindustrie. Ideen werden zur Ware fetischisiert und an ihrem
ökonomischen Wert gemessen; nicht an ihrem Inhalt.
So geht es mehr um eine gelungene Kommunikation und Marketing als um ein gesellschafts-förderndes Neudenken oder gar um Richtigkeit. So soll an der aktuell-explodierenden Preisentwicklung und an der Inflation nach Richard David Precht vorrangig die zirkulierende Geldmenge Schuld sein. Dass dies ein Arschtritt für die Wirtschaftswissenschaft ist, da dies Realitäten, wie zum Beispiel der, der preissetzenden und ihre Eigeninteressen vertretenden Großkonzerne, die trotz Krisen Übergewinne einstreichen, des aktuellen Angriffskrieges in der Ukraine und der Nachwehen der Coronapandemie, ignorieren. Prechts Aussage ist wissenschaftlich falsch. Dass mehr Geld, das in stabilen Staaten im Umlauf ist, nicht gleichzusetzen ist mit einer höheren Inflation, verlegen wir auf eine Kolumne, in der ich – wie in der aktuellen feuilletonistischen Bubble so unangenehm häufig besprochen – die Modern Monetary Theory (kurz MMT) erklären und an diesem Versuch scheitern werde. Es sei noch zum Ende dieses Abschnittes gesagt, dass dieses Beispiel exemplarisch für die Oberflächlichkeit – einer ähnlichen Oberflächlichkeit, die ich aus Platzgründen in dieser Kolumne an den Tag legen muss – von Richard David Prechts Äußerungen stehen soll, die zwar häufig möglichst intellektuell klingen, das Gefühl des „das habe ich schonmal gehört“ beim Zuhörer auslösen, und in medial wichtigen Plattformen ausgespielt werden, aber zumeist wenig Richtiges und wenig Inhalt enthalten. So wird ihm durch die mediale Aufmerksamkeit eine scheinbare fachliche Expertise und damit einhergehend das Intellektuellentum zugeschrieben.
Eine weitere Thematik, die sich von seinem Dasein als Intellektueller kaum trennen lässt, ist die Motivation eines Richard David Prechts und seines Daseins als Philosoph gewidmet. So zieren in der Regel die Namensbanner der einschlägigen TV-Sendung die Worte „Philosoph“. Precht wird häufig als „Weltbegriffsphilosoph“ verstanden, und mit diesem Verständnis geht eine Menge Sympathie einher. So soll er die Person sein, die die Philosophie nicht nur in den Händen eines elitären, akademischen Zirkels lässt, sondern versucht, diese den Massen zugänglich zu machen, während er vom akademischen Zirkel als "Sophist" beschimpft wird. Diesem hehren Ziel geht Richard David Precht nach und ich glaube, dass er dies ernst meint. Hiermit gehen auch Probleme einher: Richard David Precht wird unter anderem von einem Großteil seiner Gefolgschaft – diese immunisieren jegliche Kritik, zum Beispiel durch akademische Philosophie, wie Daniel Pascal Zorn, der versucht, ein neues Bewusstsein für die soziale Rolle Prechts, in den sozialen Medien mit eben diesem Argument zu schaffen – als akademischer Philosoph gesehen, da dieser als Honorarprofessor an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und an der Leuphana Universität Lüneburg geführt wird. Weder hat Richard David Precht in der Philosophie promoviert, noch hat er relevante wissenschaftliche Beiträge in der Philosophie veröffentlicht. Als Honorarprofessor ist dies allerdings von Nöten. So sind wissenschaftliche oder künstlerische Beiträge und eine Eignung als Dozent notwendig, um diese Stelle zu erhalten. Seine drei philosophischen Werke, die auf der Universitätsseite geführt werden, sind die Werke zur Geschichte der Philosophie, die als oberflächlich und in Teilen fehlerhaft verrufen sind. Seine Honorarprofessur erhielt er somit mutmaßlich nicht aufgrund seiner fachlichen Expertise, sondern aufgrund seines Rufes. Dieser Titel ermöglicht ihm eine Zuschreibung von fachlicher Expertise, die ihm gar nicht zu eigen ist. Es gibt gerechtfertigte Kritik an der von außen kaum zu durchdringenden akademischen Philosophie. Sich aber als Gegenstück zur akademischen Philosophie – ohne relevante Beiträge zu eben dieser beizutragen oder sich gar als innerphilosophisches Korrektiv zu sehen – wäre euphemistisch. Ich glaube nicht, dass diese gesellschaftliche Rolle von Richard David Precht böswillig beabsichtigt wird, oder ihm diese überhaupt bewusst ist, sondern dass ihm diese extern zugeschrieben wird.
Wer kann es Richard David Precht verübeln, dass er mit vermutlich guten Absichten in seine Rolle geworfen wurde. Tag ein und Tag aus wird einem gesagt, dass man zur Speerspitze der deutschen Intellektuellen gehöre und ein brillanter Volksphilosoph sei. Man wird zu großen etablierten TV-Sendungen eingeladen – den Monolithen der deutschen Presselandschaft – und es wird erwartet, dass man, da man Philosoph ist, zu allem eine weltverändernde Meinung haben soll. Die Buchbranche reißt sich darum, ein Buch von Precht verlegen zu dürfen, da man weiß, dass dies jegliche Bestenlisten dominiert. Universitäten wollen sein Ansehen und verleihen ihm Amt und Würde. Seine eigene riesige Gefolgschaft trägt ihn auf Händen. Dies alles stützt auch sein eigenes Selbstverständnis. Es beruht auf einer externen Zuschreibungspraxis als Volksphilosoph und Intellektueller, der er sich selbst nicht entziehen kann. Wer kann ihm das verübeln? Würden wir nicht alle gerne in diese Rolle hineinwachsen?
Auch ich sehne mich nach Aufmerksamkeit und Bestätigung für meine Fähigkeiten. Ansonsten würde ich wohl kaum an meinem Schreibtisch sitzen und daran scheitern, einen gemäßigten Kolumnenbeitrag über Richard David Precht und das deutsche Intellektuellentum zu schreiben. Einen Beitrag, aus dem man den permanenten Argwohn gegen jene Personen rauslesen kann, die einen fragen, ob man Richard David Precht kennt, wenn man sich gerade für sein Studienfach Philosophie rechtfertigen muss. Eine Frage, deren emotionaler Schmerz gleichzusetzen ist mit der Frage: „Was macht man damit beruflich?“ Die Beantwortung dieser beiden Fragen ist nicht Teil des Studiums.
Ich hoffe, dass der heutige Beitrag nicht als böswillig und gemein verstanden wurde. So sollte er nicht gemeint sein. Ich glaube, dass Richard David Precht eine besondere Rolle bekleidet, der er sich besser bewusst sein sollte, gerade wenn er sich zu Themen wie den Angriffskrieg auf die Ukraine oder die Corona-Pandemie äußerst. Habe ich etwas während des Schreibprozesses dieser Kolumne gelernt? Dieses Bewusstsein der eigenen gesellschaftlichen Rolle und eine andauernde Selbstreflektion eben dieser sollte ein Teil jedes öffentlichen Intellektuellen sein. Denn gerade die Verantwortung, die mit dieser Außenzuschreibung einhergeht, mag größer sein, als man ahnt. Um Cicero, einen Großteil der Intellektuellen während der französischen Revolution und Onkel Ben zu zitieren: „With great power comes great responsibility.“
Text- und Bildrechte: Marcel Guthier