Die Impfpflicht und das damit verbundene Verbot einer Betreuung im Fall der Verweigerung sei zum Schutz der Bevölkerung vor der ansteckenden Viruskrankheit "im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich", erklärte das Gericht in seinem am Donnerstag veröffentlichen Beschluss.
Mit seiner Entscheidung lehnte es mehrere Verfassungsbeschwerden von Eltern ungeimpfter Kinder ab, die gegen die Impfpflicht vorgegangen waren. Bereits im Mai 2020 hatte das Gericht die Maßnahme im vorgeschalteten Eilverfahren vorläufig bestätigt und eine Aussetzung abgelehnt. Der nun veröffentlichte Beschluss im zugehörigen sogenannten Hauptsacheverfahren (Wiki) ist abschließend.
"Sowohl die Eingriffe in das Elternrecht als auch die in die körperliche Unversehrtheit sind unter Berücksichtigung der verfassungskonformen Auslegung verfassungsrechtlich gerechtfertigt", erklärte das Gericht in Bezug auf die entsprechende Regelung im Infektionsschutzgesetz. Der Gesetzgeber habe dem Schutz der durch eine Maserninfektion gefährdeten Menschen "ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht" Vorrang vor den Interessen der Kläger und ihrer Kinder eingeräumt. Die Folgen bei Nichtbeachtung seien diesen "zuzumuten".
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach von einer "guten Nachricht für Eltern und Kinder". Eine Masernerkrankung sei für Infizierte und ihr Umfeld "lebensgefährlich", erklärte er in Berlin. Es sei daher Aufgabe des Staats, Infektionen in Kitas und Schulen zu vermeiden.
Die Masernimpfpflicht war zum 1. März 2020 eingeführt worden, um den Schutz gegen die hochansteckende Virusinfektion zu verbessern. Für Kinder ab einem Jahr ist der Besuch von Kitas oder einer Tagesbetreuung seither nur noch nach Vorlage eines Impf- oder Immunitätsnachweises möglich. Für Jüngere gibt es keinen Impfstoff. Die Impfpflicht gilt zugleich auch für die Beschäftigten.
Sie gilt zudem grundsätzlich auch in Schulen. Ein Ausschluss von ungeimpften Kindern ist dort wegen der gesetzlichen Schulpflicht aber nicht möglich. Die Schulen informieren aber die Gesundheitsämter, es drohen Bußgelder für Eltern.
Das Verfassungsgericht stufte sowohl die Impfpflicht selbst als auch das bei Verstößen folgende Betreuungsverbot als verfassungsrechtlich angemessen und verhältnismäßig ein. Der Gesetzgeber habe sich dabei auf eine "gesicherte Erkenntnislage" gestützt. Er habe "im Einklang mit der Verfassungslage von einer Gefahrenlage durch eine Masernerkrankung für verletzliche Personen" ausgehen dürfen. Dazu zählten insbesondere auch Säuglinge.
Die Masernimpfpflicht diene insgesamt "dem Schutz eines überragend wichtigen Rechtsguts" in Form des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit anderer Menschen, führte das Gericht weiter aus. Aus diesem leite sich eine staatliche Schutzpflicht gegenüber vulnerablen Dritten ab. Die darauf weiter aufbauenden Überlegungen, die zur Einführung der Impfpflicht führten, seien nicht zu beanstanden. Die damit verbundenen Grundrechtseingriffe seien den Klägern zugunsten dieses Gemeinwohlbelangs "von hohem Rang" derzeit zuzumuten.
Das Gericht stellte seine Billigung zugleich aber unter den Vorbehalt einer verfassungskonformen Auslegung der Masernimpfpflicht. Dies bezieht sich auf die Frage, ob die Impfpflicht auch gilt, wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Laut Gericht ist das der Fall, solange es sich bei dem fraglichen Mehrfachimpfstoff um ein Vakzin handelt, dass außer gegen Masern zusätzlich noch gegen Mumps, Röteln und Windpocken wirkt. Dies entspricht laut Gericht der Lage bei Verabschiedung des fraglichen Gesetzes.
Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich demnach auch die "grundrechtlichen Wertungen" des Gesetzgebers. Sollte die Pflicht in der Zukunft auch angewandt werden, wenn ausschließlich Mehrfachimpfstoffe zur Verfügung stünden, die weitere Vakzinkomponenten enthielten, läge ein Verstoß gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts vor, betonte das Gericht.
Der Beschluss zur Masernimpfpflicht ist das zweite grundlegende Urteil des Verfassungsgerichts zu Fragen der Immunisierung innerhalb weniger Monate. Im Mai billigten die Karlsruher Richterinnen und Richter die Coronaimpfpflicht für Beschäftigte in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen.
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