„[Limonows Tischnachbar,] einem Bärtigen, der ihm unter dem Namen Alexander Dugin vorgestellt wird, […] scheint überhaupt alles zu wissen. Er ist Philosoph, mit nur fünfunddreißig Jahren Autor von einem halben Dutzend Büchern, und es ist ein wahres Vergnügen, mit ihm zu diskutieren.“ Mit diesem Satz begegnet mir das erste Mal Alexander Geljewitsch Dugin. Ein Satz aus dem biografischen Roman „Limonow“, von dem französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère, der sich auf die autobiografischen Werke des russischen Literaten Eduard Weniaminowitsch Limonow stürzte. Eduards Tischnachbar Dugin erzählte ihm langatmig von Ungern von Sternberg, einem lettischen Aristokraten, den er für seine Tapferkeit und Grausamkeit in den Steppen der Mongolei lobte und wie dieser, gefürchtet von den Mongolen und seinen eigenen Männern, in die Arme der sowjetrussischen Arbeiter- und Bauernarmee, der sogenannten Rotarmisten, lief und hingerichtet wurde. „Die Geschichte ist eines von Dugins Bravourstücken, [so Limonow in den Worten Carrères] und er nimmt sich Zeit, um sie im Detail auszuarbeiten, hier und da Effekte einzusetzen und die Nuancen mit tiefer, klangvoller Stimme auszuspielen. Denn dieser Akademiker, dieser Mann des Schreibtischs, der Bücher und der Theorie ist gleichzeitig ein orientalischer Erzähler, der fähig ist, seine Zuhörerschaft zu betören, und Eduard, der gewöhnlich für Intellektuelle nur Verachtung empfindet, steht in seinem Bann. Er wäre begeistert, wenn jemand eines Tages sein Leben auf ein solche Weise erzählen würde.“ Diese Geschichte und der Erzählende beeindruckten Limonow so sehr, dass Dugin und er wenige Monate später die „Nationalbolschewistische Partei Russlands“ (Nazboly) gründeten. Ein Versuch, nationalsozialistische Inhalte mit Kommunistischen zu verknüpfen. Dieser Versuch einer rechtsextremistischen und zugleich nationalbolschewistischen Partei ziert auch ihr Banner: Das Hakenkreuz der NSDAP-Flagge wurde gegen Hammer und Sichel getauscht.
Dugin verließ 1998 dieses gemeinsame Projekt, da die Mitglieder den Taten Limonows nacheiferten und weniger seinen Ideen zuhören wollten. Später, als beide Parteivorsitzenden versuchen, ehrenwert zu werden, wälzen sie die Idee der Nazboly aufeinander ab. Die Nazboly wurde zwar, aufgrund von Verfassungsfeindlichkeit, 2005 verboten, ging damals allerdings in den Untergrund und besteht heute im Parteienbündnis „Das andere Russland“. Die neofaschistischen und neo-eurasistischen Narrative publizierte Dugin weiterhin und sucht sich neue Bühnen. Er schrieb für Zeitschriften, trat rechtsextremen Denkfabriken bei und wurde Berater des Sprechers der Duma, dem russischen Unterhaus, dem höchsten gesetzgebenden Organ Russlands. Er gewann mit seinen Narrativen mehr und mehr an politischem Einfluss.
Weitere Anerkennung erlangt Dugins Gedankenwelt, bestehend aus esoterischen und okkulten Ideen, anti-liberalen Werten, neurechten Revolutionsfantasien und seinem Neo-Eurasismus – unter Neo-Eurasismus versteht Dugin, dass Europa von Amerika befreit werden müsste, um ein eurasisches Imperium von Dublin bis Wladiwostok zu gründen, unter der Führung Russlands, und diese Vereinigung ermöglicht es, gegen die verhassten, angloamerikanischen Seemächte in den Krieg zu ziehen – nicht bloß bei russischen Politikern und Intellektuellen, sondern auch bei der europäischen und amerikanischen Neuen Rechten (wie zum Beispiel bei Trumps ehemaligem Berater Steve Bannon oder bei großen Teilen der identitären Bewegung in Europa), bei rechten Verschwörungstheoretikern, sowie bei deutschen Burschenschaften und Anthroposophen.
Dugin wird regelmäßig mit dem russischen Wanderprediger und Zarenflüsterer Rasputin verglichen, da er der ideologische Souffleur Putins sein soll. In seinem Denken hinsichtlich des russischen Imperialismus sehen viele seine Anschlussfähigkeit an Putin. Während Dugin allerdings zutiefst ideologisch denkt, handelt Putin maßlos materialistisch und nutzt das duginsche Denken als philosophische Rechtfertigung für seinen Angriffskriegs. Auch entgegen Dugins eigenen Aussagen war er nie Berater des russischen Staatschefs und aufgrund seiner lautstarken medialen Äußerungen ist die Beziehung zu Putin ambivalent. So erlangte Dugin einen neuen Grad der gesellschaftlichen Anerkennung mit der renommierten Professur an der Lomonossow-Universität. Dort leitet er den Lehrstuhl für Soziologie der internationalen Beziehungen. Ein eindeutiges Zeichen der politischen Akzeptanz des Großmachtdenkers. In Kommentaren hinsichtlich der Annexion der Krim 2014 ruft Dugin mit den Worten „Töten, töten, töten, das ist meine Meinung als Professor“ zum Mord an Ukrainern auf. Wenige Monate später wird seine Professorenstelle auf Geheiß Putins nicht verlängert. Er selbst mutmaßt, dass dies an seiner politischen Position hinsichtlich des Föderativen Staates Russlands, also der Erweiterung Russlands durch die ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk, lag. Diese Gebiete wurden nun 2022 im Angriffskrieg gegen die Ukraine von Russland erobert, wodurch er auch als Vordenker des russischen Angriffskriegs gelten könnte.
Aber bevor wir zum aktuellen Zeitgeschehen und der Beziehung des politischen Philosophen mit diesem kommen, möchte ich meine Schwierigkeiten mit dem Zugang zur duginschen Philosophie zwischenschieben. Hierbei meine ich nicht meine moralischen Hemmnisse mit seinem Denken – das dieses nicht bloß abzulehnen, sondern auch aktiv zu verurteilen gilt, ist keine Frage – sondern mein kognitiver Zugang zu seinem Denken. Es scheint mir – neben dem von kontradiktorischen Argumenten durchzogenen und konfusen Schreibstil, der den direkten Zugang zu seinen Schriften kaum möglich macht – eine wirre Anhäufung von neurechten Philosophien zu sein, in denen es weniger darum geht, ein akkurates Bild der Wirklichkeit abzuzeichnen, sondern sich selbst in der Intensität und Aggressivität zu übertreffen. Auch wenn mir bewusst ist, dass ein biografischer Roman eines französischen Schriftstellers, der Dugins Weltsicht durch die Brille des neofaschistischen und egozentrischen Literaten Limonow wahrnimmt, nicht die bestmöglichste Quelle darstellt, um ein akkurates Bild von Dugin zu zeichnen, möchte ich an dieser Stelle noch einmal Carrère ins Feld führen. So beschreibt dieser, die Szene in der Dugin seinen philosophischen Göttertempel vorstellt: „Zu [Dugins] Pantheon hat eine bunte Mischung an Persönlichkeiten Zutritt: Lenin, Mussolini, Hitler, Leni Riefenstahl, Majakowski, Julius Evola, Jung Mishima, Groddeck, Jünger, Meister Eckart, Andreas Baader, Wagner, Laotse, Che Guevara, Sri Aurobindo, Rosa Luxemburg, Georges Dumèzil und Guy Debord. Um zu sehen, wie weit man gehen kann, schlägt Eduard vor, auch noch Charles Manson aufzunehmen: Kein Problem, man rückt ein bisschen zusammen und macht Platz.“ Dieses Pantheon ließe sich noch um seine philosophischen Vordenker erweitern: den Okkultisten Aleister Crowley, den Traditionalisten René Guénon, den metaphysischen Rassentheoretiker Julius Evola, die philosophische Allzweckwaffe Friedrich Nietzsche, den Vordenker des Nationalsozialismus Karl Haushofer und Carl Schmitt und den im Nationalsozialismus engagierten Phänomenologe Martin Heidegger. Dieses philosophische Smörgåsbord – ein Begriff, der sich auf ein schwedisches Buffet bezieht, eine bunte Mischung von Sammelsurien beschreibt und den meine beiden Lektorinnen aufgrund seiner Unbekanntheit rausstreichen wollten, woraufhin dieser Einschub entstand – kommt als Chiffre seines Neo-Eurasismus daher und dieser rosinenpickenden Erlösungsideologie mutet wenig Eigenständigkeit an. All so sprach auch die Politikwissenschaft, die sich mit seinem Denken auseinandersetzt.
Nun zum Zeitgeschehen, das diese Kolumne beziehungsweise mein Interesse an Dugin neu entfacht hat. Am 20. August 2022 starb Darja Alexandrowna Dugina im Alter von 29 Jahren im Moskauer Vorort Bolschije Wjasjomy, durch eine Autobombe, die unter der Fahrerseite des Autos ihres Vaters montiert war. Ihr Vater Dugin sollte sie auf dieser Fahrt begleiten, und man kann davon ausgehen, dass der Anschlag ihm galt. Sie waren gemeinsam auf der von der russischen Regierung gesponserten nationalistischen Tagung „Tradition“. Putin stilisierte die prorussische Aktivistin, RT-Journalistin und Befürworterin des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine zur nationalen Märtyrerin und verlieh ihr posthum den russischen Tapferkeitsorden. Dugin sprach sich auf ihrer Trauerfeier für die Wichtigkeit des russischen Siegs und die Vereinigung Eurasiens aus. Es wurde zwei Tage später eine Ukrainerin zu der Täterin des Anschlages erklärt und die russische Regierung behauptet, dass sie Teil des ukrainischen Geheimdienstes sei. Die Ukraine bestreitet jegliche Teilhaberschaft. Die Täter sind unklar.
Es sei zwar gesagt, dass Mordanschläge grundsätzlich zu verurteilen sind, aber diese eigene moralische Debatte interessiert mich an dieser Stelle nicht. Mich fesselt das Nachdenken über die neue politische Rolle Dugins nach der Ermordung seiner Tochter. So ließ er über Telegram ausrichten: „Unsere Herzen dürstet es nicht einfach nach Rache oder Vergeltung. Das wäre zu klein, nicht russisch. Wir brauchen nur unseren Sieg. Auf dessen Altar hat meine Tochter ihr mädchenhaftes Leben gelegt. Also siegt bitte!“ Die Trauerfeier selbst nutzt er nicht bloß, um den russischen Angriffskrieg zu befeuern, sondern um seine eurasischen Großmachtgedanken erneut kundzutun. Ich würde mich verbürgen, dass Dugin in den nächsten Monaten, oder gar Jahren, eine essenzielle Rolle im russischen Selbstverständnis und der politischen Kommunikation Russlands spielen wird. Der Märtyrertod seiner Tochter wird der Startschuss eines rasanten Wiederaufstiegs Dugins, gerade aufgrund seines Anklangs in der politischen Elite Russlands, und der Instrumentalisierung seiner Narrative durch Putin.
Eine kleine dem Text nicht direkt zugehörige Reflexion: Ich entschuldige mich. Eines meiner Ziele für diese Kolumne war es, für mich interessante Themen innerhalb eines autobiografischen Stils zu besprechen, um diese auf besondere Art zugänglich zu machen. Dies ist mir in diesem zu kurzen Text über das Denken Dugins nicht gelungen. Gerade die wirre Komplexität seiner kontradiktorischen Gedankenwelt, die Ernsthaftigkeit des Themas im Angesicht der Kriegsrealitäten in der Ukraine und die Rolle, die seine Ideologien hierbei spielen, erschweren einen zynischen und leichtfüßigen Umgang mit der Thematik. Ich hätte mich nicht wohl gefühlt, meinen inneren Kyniker auf ein Feld zu führen, dass eine gewisse Seriosität erwartet. Um meine Reflexion noch etwas fortzuführen, möchte ich sagen, dass mich diese philosophisch-politische Betrachtung des russischen Faschisten Alexander Geljewitsch Dugin – im Sinne einer Analyse der Feinde moderner Demokratien – fasziniert hat und ich nun ein neues Interessengebiet zu erforschen habe. Eine Ironie ist, dass ich durch diese Reflexion meinen autobiografischen Stil vielleicht doch noch treu geblieben bin.
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