Die Ukraine hat nach eigenen Angaben weitere Geländegewinne in der östlichen Region Charkiw gemacht und die strategisch wichtige Stadt Kupjansk (Wiki) von der russischen Armee zurückerobert. Moskau sprach derweil am Samstag von einer "Neuaufstellung" seiner Truppen: Soldaten würden aus dem Gebiet abgezogen, um weiter südlich die Truppen in der Region Donezk zu verstärken. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sicherte der Ukraine bei einem Besuch in Kiew anhaltende Unterstützung zu.
Russische Truppen seien in den vergangenen drei Tagen verlegt worden, um die "Bemühungen entlang der Donezk-Front zu verstärken", erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau am Samstag. "Um die Ziele des militärischen Sondereinsatzes zur Befreiung des Donbass zu erreichen, wurde beschlossen, die in den Regionen Balaklija und Isjum stationierten russischen Truppen zu verlegen", hieß es weiter. Nur einen Tag zuvor hatte Moskau noch eine Verstärkung seiner Truppen in der Region Charkiw angekündigt.
Der Anführer der Separatisten in Donezk, Denis Puschilin, berichtete von heftigen Kämpfen in der Region. Die Lage in der Ende Mai von russischen Soldaten eingenommenen Stadt Lyman sei "ziemlich schwierig, ebenso wie in einer Reihe anderer Orte im Norden der 'Volksrepublik'", sagte Puschilin in einem im Onlinedienst Telegram veröffentlichten Video.
Die Ukraine hatte zuvor deutliche Geländegewinne bei ihrer Gegenoffensive gemeldet. Demnach gelang es den ukrainischen Streitkräften, die für den Nachschub der russischen Truppen wichtige und schon zu Beginn des russischen Angriffskriegs besetzte ostukrainische Stadt Kupjansk (Wiki) zurückzuerobern.
In Onlinediensten veröffentlichte Aufnahmen zeigten am Samstag zudem offenbar ukrainische Soldaten in der Stadt Isjum, die ebenfalls zuvor in russischer Hand war. Nach ukrainischen Angaben rückten ukrainische Truppen am Samstag zudem auf die östliche Stadt Lyssytschansk vor, die russische Soldaten im Juli nach erbitterten Kämpfen eingenommen hatten. "Ukrainische Truppen rücken im Osten der Ukraine vor und befreien weitere Städte und Dörfer", erklärte Außenamtssprecher Oleh Nikolenko in Kiew.
Aus dem gerade zurückeroberten Dorf Grakowe berichteten Journalisten der Nachrichtenagentur AFP von Schäden wie umgestürzten Strommasten und zerstörten Häusern. "Es war furchtbar, überall gab es Bombardierungen und Explosionen", sagte der 61-jährige Anatoli Wassiliew der AFP. Andernorts sahen die Journalisten zurückgelassene russische Panzer.
In seiner täglichen Videoansprache am Samstag sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, die ukrainische Armee habe in diesem Monat bereits "2000 Kilometer Gebiet" von den russischen Truppen zurückerobert. Unklar blieb zunächst, ob der Präsident über Quadratkilometer sprach. "In den vergangenen Tagen hat uns die russische Armee ihre beste Seite gezeigt - ihre Rückseite", sagte Selenskyj.
Die russischen Streitkräfte fügten zwar der Stadt Charkiw sowie der Donbass-Region weiterhin schwere Schäden durch Beschüsse zu. Doch der neue ukrainische Vorstoß könnte Russlands Möglichkeiten erheblich einschränken, seine Stellungen an der ukrainischen Ostfront mit Nachschub und logistischer Unterstützung zu versorgen. Russland könnte gezwungen sein, sich vollständig aus der Region Charkiw zurückzuziehen.
Einem Sprecher der ukrainischen Streitkräfte zufolge rückten ukrainische Truppen auch im Süden des Landes in Gebiete vor, die von russischen Soldaten gleich zu Beginn ihrer Invasion eingenommen worden waren. Kriegsverlauf auf der Karte (Wiki)
In Kiew versprach Bundesaußenminister Baerbock unterdessen, Deutschland werde der Ukraine auch künftig "mit der Lieferung von Waffen, mit humanitärer und finanzieller Unterstützung" helfen. Das Auswärtige Amt in Berlin forderte am Samstag zudem dazu auf, den Beschuss auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja einzustellen. Auch müsse eine dauerhafte Präsenz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ermöglicht werden. "Russland bricht elementarste Regeln" und mache die russisch besetzte Anlage "zum Kriegspfand im Kriegsgebiet", hieß es.
oer/yb Emmanuel PARISSE / © Agence France-Presse