Das Gericht sehe die Mandatsrelevanz für die Zweitstimme in allen 78 Wahlkreisen, sagte Selting in der von ihr vorgetragenen ersten rechtlichen Einschätzung. Die Wahlfehler hatten demnach Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament. Bei den bekannten Wahlfehlern handle es sich zudem "nur um die Spitze des Eisbergs".
Laut Selting sollten nach derzeitigem Stand auch die Wahlen zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen vollständig wiederholt werden. Die Volksvertretungen auf Bezirksebene wurden am 26. September 2021 zusammen mit dem Abgeordnetenhaus und dem Bundestag neu gewählt.
Die Richterin kritisierte zudem die Landeswahlleitung. Diese sei "ihrer Kontroll- und Koordinierungspflicht nicht ausreichend nachgekommen". So sei unter anderem die geringe Zahl an Wahlkabinen und Stimmzetteln eine direkte Folge "dieser unzureichenden Vorbereitung gewesen".
Vor dem Verfassungsgerichtshof wurde rund ein Jahr nach den Wahlen am Mittwoch über die Einsprüche gegen das Wahlergebnis verhandelt. Die neun Richterinnen und Richter befassten sich dabei zunächst nur mit vier von 35 eingereichten Einwänden - jenen von der Landeswahlleitung, der Senatsinnenverwaltung sowie von AfD und Die Partei. Diese seien geeignet, "alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen abzudecken", hatte es vom Gericht im Vorfeld geheißen.
Nach der rechtlichen Einschätzung durch Selting hatten die Verfasser dieser vier Einsprüche Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie sehe keine Mandatsrelevanz hinsichtlich der Zweitstimmen und "kein flächendeckendes Versagen", sagte die ehemalige stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann. Fast alle Wählerinnen und Wähler hätten ordnungsgemäß wählen können. Rockmann hatte nur gegen das Erststimmenergebnis in zwei Wahlkreisen ihren Einwand eingelegt.
Ähnliches trug Staatssekretär Torsten Akmann (SPD) für die Senatsinnenverwaltung vor. Der überwiegende Teil der Wählerinnen und Wähler habe die Stimmen abgegeben können, sagte er. Er habe die Sorge, dass bei einer vollständigen Wahlwiederholung die bestehenden Mandate entwertet werden. Die Satirepartei Die Partei und die AfD befürworteten in ihren Stellungnahmen hingegen die rechtliche Einschätzung des Gerichts.
Wegen der vielen Beteiligten wurde in einem Hörsaal der Freien Universität mit Platz für insgesamt 570 Menschen verhandelt. Laut Gericht hatten vorab bereits 200 Beteiligte ihr Kommen angekündigt, es handelt sich deshalb um die bislang größte Gerichtsverhandlung dieser Art in der Hauptstadt.
Eine Entscheidung könnte am Mittwoch fallen, allerdings ist dies unwahrscheinlich. Denn dafür haben die Richterinnen und Richter laut Gesetz drei Monate Zeit. Je nach Entscheidung kann es dann zu einer Wiederholung der Wahl kommen - in Gänze oder in einzelnen Wahlkreisen.
Bei der Wahl im vergangenen September hatte es in der Hauptstadt zahlreiche Pannen gegeben - etwa fehlende Stimmzettel, lange Warteschlangen oder zwischenzeitlich geschlossene Wahllokale. Auch gegen das Ergebnis der Bundestagswahl in Berlin gab es zahlreiche Einsprüche - insbesondere von Bundeswahlleiter Georg Thiel.
Für deren Prüfung ist jedoch der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags zuständig. Das Gremium erarbeitet derzeit eine Beschlussempfehlung, über die am Ende das Bundestagsplenum Parlament abstimmen muss. Diese sollte eigentlich am Donnerstag im Ausschuss verabschiedet werden.
Wegen neuer Erkenntnisse aus der Berliner Gerichtsverhandlung soll dies aber verschoben werden, wie die Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch aus Ausschusskreisen erfuhr. Die Beschlussfassung werde voraussichtlich im Oktober erfolgen. Bundeswahlleiter Thiel hat sich dafür ausgesprochen, die Bundestagswahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise zu wiederholen.
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