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Kapitel VIII: Do I have to be invested in pop culture?

Popkulturelle Phänomene, ihr kultursprengender Gehalt und ihre inhärente Kontradoktrin: Kanye West und seine Politisierung. Eine Kolumne.


Eine regelmäßige Praxis meinerseits ist ein interessierter, aber skeptischer Blick in die Top 10 Global Charts. So auch an dem Morgen, an dem ich um Tage verspätet begonnen habe, diese Kolumne schreiben. Alle Plätze wurden von dem neuen Album von Taylor Swift in Anspruch genommen, und so hielt ich mich nicht weiter mit der Chartliste auf und hörte mir direkt das neue Album an. Ziemlich schnell stellte ich mir die Fragen: Warum bin ich so sehr in popkulturelle Phänomene investiert? Woher kommt dieses unbändige Interesse an solchen Marginalien? Und sind es überhaupt Marginalien?

               Gerade diese neue Selbsterkenntnis, dass etliche, kulturverändernde/-beeinflussende Berühmtheiten, und dies fokussiert sich vor allem auf kontroverse Persönlichkeiten, – und nein, Taylor Swift gehört eigentlich nicht hierzu, sie diente bloß als morgendliche, erkenntnistheoretische Methode, also lasst mich in Ruhe, Swifties – in mir nahezu eine Obsession auslösen können, scheint mir ein passender Anlass für eine Kolumne zu sein, und das bereits erarbeitete Kolumnenthema erst einmal zu verschieben.

               Auch in der vergangenen Woche überfiel mich eine mehrtägige Manie nach diversen antisemitischen Statements Ye’s, früher bekannt als Kanye West – ich werde beide Namen in dieser Kolumne verwenden, da nach den Ausfällen Wests mir es schwerfällt, Kanye den Gefallen zu tun, ihn bloß noch mit Ye anzusprechen. Der US-amerikanische Rapper und das Modephänomen war früher bekannt, aufgrund seiner revolutionären Kraft im Musik- und Modebetrieb. Er besaß die unfassbare Fähigkeit, eine gewaltige Menge an Stile in seine Musik einfließen zu lassen – so lässt sich über die Jahre von Avantgardemusik, über Progressiv Rock, bis hin zu klassischen Hip-Hop Beats eine Fülle an stilistischen Manieren in seinen unterschiedlichen Alben wiederfinden – und diese durften, trotz ihres avantgardistischen Charakters, einen übermäßigen kommerziellen Erfolg genießen. Textlich machte er völlig kontradiktorische Welten auf und sang über Themen wie Verletzlichkeit, Arroganz und Gesellschaftskritik. All so etablierte Ye sich – auch für mich – als popkulturelle Ikone und vermutlich gar als den besten Produzenten aller Zeiten. Aber gerade in seinen gesellschaftskritischen Alben rezipierte er bereits früh verschwörungstheoretische Komponenten – wie zum Beispiel der Verweis auf die Neue Weltordnung, nach der eine Elitengemeinschaft eine autoritäre Weltregierung schaffen möchte und die durchzogen ist von antisemitischen Elementen – genau genommen ab seinem 2013 erschienenen Industrial und Trap Album „Yeezus“.

Dies dient als optimale Überleitung zu meinem „rabbit hole“ der vergangenen Woche: Bereits am Anfang Oktober erschien Ye auf der Pariser Fashion Show, genau genommen auf einer Veranstaltung von Balenciaga, mit einem „White Lives Matter“-Shirt zusammen mit der rechtsnationalistischen Aktivistin Candace Owens. Der Slogan wurde als rechtsradikale Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Bewegung geschaffen – ähnlich wie der Schlüsselbegriff der Neonaziszene „White Power“ als Provokation des Ku-Klux-Klans gegenüber der Bürgerrechtsbewegung und deren „Black Power“-Slogan verstanden wird, und eine Vorherrschaft der „weißen Rasse“ propagiert – und sorgte für die Ächtung Ye’s der sich selbst als Modegenie bezeichnet, und bekannt für seinen anhaltenden Hass gegen den 2021 verstorbenen Modedesigner Virgil Abloh ist.

Dieses Event und seine hieraus resultierende Ächtung führte zu einer Medienkampagne Ye’s, die seinen Absturz auf dramatische Art und Weise dokumentiert. Ob sein Interview beim paläokonservativen und rechtsextremen Fox News Liebling Tucker Carlson, in der Sendung „Uncensored“ des konservativen und britischen Moderator Piers Morgan, im Hip-Hop Podcast „Drink Champs“, oder beim Bruder des ehemaligen Gouverneurs und Parteimitglied der Demokraten von New York Andrew Cuomo – der wegen sexueller Belästigung im Amt Mitte 2021 zurücktrat, welche er zu Beginn abtat und auf seine italienische Art verwies – Chris Cuomo: Ye fiel durch (1) seinen grenzenlosen Antisemitismus, (2) seinen erstaunlichen Rassismus und (3) einer sexistischen Abtreibungspolemik auf.

(1) Kanye West verweist immer wieder darauf, dass er „bad business“ mit Personen jüdischer Abstammung gemacht hätte, um seine scheinbare Erfahrung daraufhin auf alle Juden zu Universalisieren, da dies Teil einer Verschwörung gegen schwarze Kunstschaffende sein soll. Sein Plan: „I’m going death con 3 On JEWISH PEOPLE“. Dass die Ausbeutung schwarzer Kunstschaffenden, gerade wenn sie aus prekären Verhältnissen stammen, ein systemisches Problem eines modernen und zutiefst rassistischen Kapitalismus ist, übersieht das „Genie“ Ye, der sich für einen der fünf größten Menschen der Weltgeschichte hält, und in seinem eigenen Label dafür bekannt ist, seine Künstler*innen auszubeuten. (2) So leugnet Ye in den Interviews, im selbstrechtfertigenden Zuge seines „White Live Matter“-Auftritts, dass der Mord an dem 46-jährigen George Floyd durch den weißen Polizeibeamten Derek Chauvin ein rassistisch-motivierter Mord war. Er behauptet, dieser sei an einer Überdosis Fentanyl gestorben. Ein längst durch mehrere unabhängige Gerichtsmediziner widerlegter Verschwörungsglaube, der auch Teil der Dokumentation „The Greatest Lie Ever Told: George Floyd & the Rise of BLM“ ist, vom rechts-konservativen Politsenders „The Daily Wire“ ausgestrahlt wird und deren Schafferin die bereits erwähnte und anscheinende Chefideologin Ye’s Candace Owens ist.  (3) Er proklamiert zudem in den Interviews, dass er „Pro-Life“ sei. So reagiert er beispielsweise auf den Vorschlag des Gründers der Modefirma „Los Angeles Apparel“ Dov Charney, Ye solle ein Holocaust Museum bereisen, um sich weiterzubilden und sensibler gegenüber dem historischen Leid der jüdischen Bevölkerung zu werden, damit, dass dieser doch bitte Planned Parenthood – eine Non-Profit-Organisation, die medizinische Aufklärung bezüglich Familienplanung, Sexualmedizin und Abtreibung betreibt – besuchen soll. Er bezeichnet diese Organisation als „unser Holocaust Museum“.

Seine andauernd wiederholte Verteidigung: (1) Er sei selbst jüdischer Abstammung, da er zu den zehn verlorenen Stämmen Israels gehört, (2) er könne nicht rassistisch sein, da er eine PoC ist und (3) er sei ein liebender Familienvater. In den Momenten, in dem er argumentativ herausgefordert wird – hierbei muss man sagen: je politisch-rechter seine Gegenüber, desto seltener passiert dies – und dies scheinbar auch merkt, steckt er sich die Finger in die Ohren und beendet den Beitrag des Gegenübers mit einem lauten „lalala“, um nach dieser abschätzigen Guerillataktik das Wort wieder an sich zu reißen.

               Öffentlich verteidigt wird Ye von bekannten Charakteren wie Ben Shapiro, der öffentlich bekannt ist für seine libertären Ansichten, seine Transfeindlichkeit, als Abtreibungsgegner und als Gründer des Nachrichtensenders „Daily Wire“, oder Steven Crowder, der unter anderem bekannt ist für sein „Georg Floyd Reenactment“, wie viele weitere grausame rechtsradikale Spinner des amerikanischen Ödlands. Im gleichen Moment wird Ye geächtet. Das Modeunternehmen Adidas und Kollaborateur mit Ye und seiner Modemarke „Yeezy“ kündigt die gemeinsame Zusammenarbeit auf und ähnliches geschieht mit anderen Kooperationen des Musikers. JPMorgan, die größte Bank Amerikas, lässt ihren Klienten, den selbst proklamierten Multimilliardär Ye, aufgrund von persönlichen Auseinandersetzungen, fallen. Dies wird der Bank schwergefallen sein, da sie unter anderem gerne das Geld von Kriegsverbrechern verwalten, aber der öffentliche Druck nach Ye’s Aussagen ließ sie vermutlich umdenken. Unmenge an amerikanischen Superstars, beispielsweise Ye’s Exfrau und Mutter seiner Kinder Kim Kardashian, sprechen sich gegen den Künstler aus.

               Es sei am Ende des Absatzes zu Ye’s Knurren der vergangenen Wochen gesagt, dass, neben dem tiefgreifenden Antisemitismus, den rassistischen Ausfällen und den sexistischen Abtreibungspolemiken, die psychische Erkrankung des Künstlers durchaus eine Rolle für die Person Ye spielt, aber die Ermächtigung durch rechtsradikale Netzwerke, die über Kanye West eine neue Öffentlichkeit für ihre chauvinistische Sache finden, überschattet dies. Wir können die Person, die 18,3 Millionen Instagram Follower hat – dies sind mehr Personen, als es jüdische Menschen auf der Welt gibt (aktuelle Schätzung vermuten 15 Millionen) – und zudem vermutlich eine noch größere Fangemeinschaft besitzt – geschweige denn all die Neuankömmlinge, die sich von seinen antisemitischen, rassistischen und abtreibungsfeindlichen Äußerungen angezogen fühlen – nicht bloß als psychisch krank abtun. Ob er nun inmitten einer manischen Phase seiner bipolaren Störung ist, als geschiedener und von seinen Kindern getrenntlebender Mann dem Klischee folgt und sich politisch radikalisiert oder er bloß seinem Gottkomplex frönt. In den gegenwärtigen Zeiten, in denen der Antisemitismus ein neues Hoch in der amerikanischen Öffentlichkeit erlebt und die alltägliche Verletzbarkeit der jüdischen Bevölkerung wie eine offene Wunde klafft, muss dem ye’schen Denken öffentlich entgegengetreten werden.

               Ich glaube, diese „kurze“ Herleitung lässt mich einerseits von dem Thema „Popkultur“ abkommen – verdunkelt gar ihre Bedeutung – aber legt anderseits vieles über mein Interesse über dieses Thema offen. Wieso bin ich nun so investiert in popkulturelle Phänomene? Und in welche bin ich investiert (investiert, da ich mich an dieser Stelle an dem englischen Begriff „invested“ orientiere, der auch schon seinen Platz in der Überschrift gefunden hat)?

               Ich bin durch und durch ein politischer Mensch, der unter anderem seine Kunsterfahrungen immer im politischen Sinne und in sozialen Kategorien mitdenkt. Und gerade, wenn diese sich so klaffend und verletzlich offenlegen, wecken sie mein Interesse. Hierbei interessieren mich nicht die Repetitionen meines eigenen, bereits bestehenden Standpunktes, sondern ich gehe gerade in den mir völlig fremden Antagonismen auf. Dabei meine ich nicht die Kontradiktion, also die simple Widersprüchlichkeit von Meinungsbildern, sondern ein Phänomen, für welches ich mir eine noch ungenaue Wortneuschöpfung erlauben muss – und keine Sorge, ich erwarte für diesen mittelmäßigen, gar ungenügenden Definitionsversuch keine Ehrerbietung im ye’schen Sinne. Das Phänomen der Kontradoktrin, also die bewusste und gelebte Ästhetik des Kontradiktorischen; des mir völlig Fremden.

               Dieses Momentum findet sich in besonderer Weise in der amerikanischen Politik und Kultur wieder, da die politischen Grundfesten sich viel mehr an der Repetition des Popkulturellen, unter dem fragwürdigen Schlagbegriff des Kulturkampfes abarbeiten. Fragwürdig, da dieser Begriff häufig innerhalb einer identitätspolitischen Polemik von einer Neuen Rechten verwendet wird. Popkultur wird nicht bloß mit abwertendem Unterton, als simples Massenmedium ausgerufen, wie beispielsweise im deutschen Diskurs – dieser weißt eine andere Dynamik auf und ob dies an der bei weitem größeren Wirkmacht amerikanischer Kulturprodukte liegt, oder ob es inhärente Unterschiede in den landestypischen Glaubensmuster lässt sich bloß erahnen – sondern es besteht ein Bewusstsein für ihre sowohl im negativen als auch im positiven Sinne kulturverändernde Sprengkraft. Sie dient als antagonistisches Wechselspiel zwischen dominanten und marginalisierten sozialen Schichten. Unvermeidbar, übermächtig und bedrängend tritt sie auf, kann sich selbst aber nicht ihrem gesellschaftlichen Gehalt entziehen. Popkulturelle Phänomene und all ihre Antagonismen dienen als Spiegel der politischen Gegenwart.

Text- und Bildrechte: Marcel Guthier.