Das klassische Souveränitätsverständnis – alle Staaten sind gleich und souveräne Staaten haben absolute Macht über ihr eigenes Territorium – entspringt dem westfälischen Frieden. Dieser wurde in Münster im Jahr 1648 geschlossen, am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Dies zählt als Geburtsstunde des modernen Völkerrechts und dient heute dem G7-Gipfel als Symbolbild gegen den russischen Angriffskrieg. Dass das moderne Völkerrecht und der Souveränitätsbegriff als Rechtfertigungsgrund der kolonialen Unterdrückung der europäischen Kolonialmächte assistierte und noch heutzutage die nachkolonialen Verhältnisse bestimmt, darf hierbei jedoch nicht vergessen werden.
Der Universalitätsanspruch (=internationale Allgemeingültigkeit, die für alle Menschen gilt) des eurozentrischen Konzeptes der Souveränität stellt die Kolonialmächte vor eine große rechtswissenschaftliche Herausforderung: Wie können sie andere kulturelle Gemeinschaften auf dem afrikanischen Kontinent unterdrücken und ausbeuten, wenn sie ihnen eigentlich universelle Menschenrechte zuschreiben? Dies gelingt ihnen anhand der kulturellen und ethnischen Differenz, einer Art der einschließenden Ausschließlichkeit, indem sie ihnen zwar gewährleisten wollten, zu dem Punkt zu kommen, nicht mehr als etwas „Minderes“ gesehen zu werden, aber es in der Praxis nicht gewährleisten. Ausgesprochenes Ziel der Kolonialmächte ist es somit, die indigene Bevölkerung zu zivilisieren und dies soll durch große kirchliche Missionierungsprojekte gelingen. Unausgesprochen bleibt die Unerreichbarkeit der Egalität (=Gleichheit). Diese vermeintliche Inkorporation bleibt ein Schein.
Diese völkerrechtliche Auslegung ermöglichte es den Kolonialmächten, ihre Unterdrückung und Völkermorde zu rechtfertigen. Nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich diese Dynamik sukzessiv. Es wird nicht mehr anhand rassistischer und kultureller Kategorien unterschieden, sondern anhand der ökonomischen, westlichen und zutiefst neoliberalen Kategorien „fortschrittlich“ und „rückständig“. So soll es nun gelten, dass eine politische Souveränität ohne eine korrespondierende Unabhängigkeit bedeutungslos sei. Unter dem Schlagbegriff „Neokolonialismus“ kritisieren afrikanische Vertreter und KolonialismusforscherInnen, dass in Form der „good governance“ und „human rights law“ westliche Länder sich in die inneren Angelegenheiten der ehemaligen Kolonien einmischen, um – durch ökonomische Zwänge und neoliberale Strategien der westlichen Welt – ihre Interessen zu vertreten. Diese Verhältnisse halten bis heute an und sind Teil von dekolonialen Diskursen in den Sozialwissenschaften. Die Erreichbarkeit dieser Ziele werden ebenfalls hinterfragt.
Das Völkerrecht, das noch heute als europäisches Leuchtturmprojekt gilt, und unter dessen Lichte der G7-Gipfel in Münster steht, verdunkelt noch immer seine kolonialen Hintergründe. Die Ansprache der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock ließ zumindest verlauten, dass sich in der internationalen, wirtschaftlichen Zusammenarbeit, bei Fragen der Ernährungssicherheit und bei den Fragen des Klimaschutzes afrikanische Vertreterin in beratender Funktion zu Wort kommen werden. Ein vollständiges Einbeziehen, außerhalb einer nur beratenden Tätigkeit, entgegen der europäischen Hegemonie lässt noch immer auf sich warten.
Text- und Bildrechte: Marcel Guthier.