Eine bundesweite Kampagne soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen oft im eigenen Umfeld stattfindet. "Nur wenn ich den Gedanken zulasse, dass auch Kindern in meinem persönlichen Umfeld sexuelle Gewalt angetan wird, kann ich notfalls handeln", erklärte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) am Donnerstag bei der Vorstellung der Initiative "Schieb den Gedanken nicht weg" in Berlin.
Die auf mehrere Jahre angelegte Kampagne soll mit einer Vielzahl von Informationsmaterialien lokale Netzwerke und kommunale Initiativen stärken und mit einem Kampagnenbüro unterstützen. Durch die Zusammenarbeit von Fachpraxis, Politik und Zivilgesellschaft sollen Bündnisse vor Ort zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt erreicht werden.
"Wir alle müssen uns bewusst machen, dass Missbrauch nicht nur in Institutionen, sondern in den meisten Fällen im vertrauten Umfeld der Kinder vorkommt", sagte Ministerin Paus. "Ich muss kein Profi sein, um helfen zu können. Aber ich kann und sollte wissen, an wen ich mich wenden kann, wenn ich einen Verdacht habe."
Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, sagte bei der Präsentation der Kampagne: "Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt woanders stattfindet, dient der eigenen Beruhigung – kann aber blind machen für möglichen Missbrauch im eigenen Umfeld." Wer Kinder besser schützen wolle, dürfe diese mögliche Realität nicht länger wegschieben. "Erst wenn wir diesen Gedanken zulassen, fangen wir an, unsere eigene Hilflosigkeit zu überwinden."
Anlass für die Vorstellung der Kampagne war der Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt am Freitag. Beim sexuellem Kindesmissbrauch wird nach wie vor von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums wird geschätzt, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse von sexueller Gewalt betroffen sind. Bei rund drei Viertel der Fälle geschehe das in der eigenen Familie oder im sozialen Nahfeld.
Von den meisten Menschen werde dieses reale Risiko im eigenen Umfeld allerdings weitgehend verdrängt: 90 Prozent der Bevölkerung halten es zwar für wahrscheinlich, dass sexuelle Gewalt vor allem in Familien stattfindet, wie aus einer Forsa-Umfragen für die Unabhängige Beauftragte hervorgeht. 85 Prozent halten es demnach aber für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass sexuelle Gewalt in ihrer eigenen Familie passiert.
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