Meine Sozialisierung bietet den optimalen Nährboden für ein toxisches Verständnis von Männlichkeit; für einen personalen Chauvinismus (im Sinne einer allgemeinen Überlegenheit) getreu einer vermeintlichen Virilität. Ob meine langjährige Kampfsporterfahrung, in der ich einen ungesunden Drang zu Gewinnen und eine zu große Selbstsicherheit in jeglicher Form von körperlichen Auseinandersetzungen entwickelt habe. Ob meine geringe Körpergröße in Jugendzeiten, die mir nicht bloß einen hohen Grad an Mobbingerfahrungen einbrachte, sondern auch einen daraus resultierenden Drang, anderen überlegen sein zu wollen, um diese Erfahrung kein weiteres Mal durchmachen zu müssen. Ob meine Körperfülle und die Konfrontation mit unrealistischen Körperbildern, die zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung meines Körpers führten und mich bis heute Unmengen an Sport treiben lässt. Ob mein Interesse an der Philosophie Nietzsche im Alter von 17 Jahren, aus einem tiefen Drang des Anderssein wollen und auf der Suche nach einer Philosophie, die mir erlaubt, mich selbst zu rechtfertigen besser sein zu können als andere. Oder ob mein dörfliches Großwerden, das mich in die toxischen Fänge der Freiwilligen Feuerwehr, des lokalen Schützenvereins oder der örtlichen CDU-Fraktionen hätte treiben können, dem meine Eltern sich glücklicherweise mit ihrer vollen erzieherischen Autorität entgegensetzten und was eher eine tiefe Abscheu gegenüber diesen reaktionären Organisationen in mir auslöste. An dieser Stelle klingt schon an, wieso der Nährboden für ein toxisches Verständnis von Männlichkeit in langer Sicht nicht allzu fruchtbar gewesen ist.
Denn entgegen chauvinistischen Idealen – wie die der (Körper-)Kraft, Dominanz, Aggression und Eigensinn (im Denkmantel der Rationalität) – stehen zwischenmenschliche, als weiblich-gelesene Verhaltenspraxen, wie die der Zärtlichkeit, der Warmherzigkeit, der Friedfertigkeit und der Einfühlsamkeit. Das erstere Ideal scheint einen neuen Aufschwung in der zeitgenössischen Internetkultur zu genießen. Dies in Form der Manosphere einem antifeministischen Netzwerk, das sich thematisch zwischen Selbstoptimierung, hegemonialer Männlichkeit bis hin zur absoluten Kontrolle über die weibliche Sexualität wiederfindet. Sie ist ein loser und noch undefinierter Rahmen von Männerrechtsbewegungen, rechtsradikalen Gruppierungen, Incels (also junge Männer, die der Frauenwelt vorwerfen, dass sie keinen Geschlechtsverkehr erfahren und sich im Internet organisieren), der MFTOW-Bewegung (eine Gruppierung, die jeglichen Kontakt zu Frauen ablehnt), Pick-Up Artists Community, neoliberale bis hin zu anarchokapitalistische Unternehmertum-Influencer und vieler weiterer Gemeinschaften, die sich seit den 2010er Jahren im Internet organisieren. In den vergangenen Jahren schlagen diese Gruppierungen immer politischere Töne an. Aus diesen Gruppierungen entspringen reale Ereignisse, wie riesige Online-Belästigungskampagnen bis hin zu Amokläufen. Charaktere wie Jordan B. Peterson – der als konservativer Bestseller-Autor, kanadischer Psychologe und aufgrund seiner faschistischen und chauvinistischen Thesen auffiel – und Andrew Tate – der als professioneller Kickboxer, mutmaßlicher Menschenhändler, Missbrauchstäter und Online-Influencer bekannt ist – gelten als die Aushängeschilder der Manosphere. Beide beschweren sich über eine vermeintliche Verweichlichung junger Männer in modernen Zeiten. Als kleine Anekdote: Im selben Moment schreibt Jordan B. Peterson über seinen Traum, in dem er von seiner Oma sanft mit einem Pinsel aus ihrem Schamhaar gestreichelt wird oder bricht in jeder zweiten Interviewsequenz in Tränen aus. Der reaktionäre Topos einer vermeintlichen Verweichlichung der Männer ist an sich eine historische Tradition. Man findet diesen mit großer medialer Präsenz in den vergangenen 100 Jahren und er wurde von reaktionären Gruppierungen rezipiert, um einen vermeintlichen Zerfall der Gesellschaft zu prognostizieren. Häufig mit dem zirkulären, pseudowissenschaftlichen und längst überholten Motto: „Hard times create strong men. Strong men create good times. Good times create weak men. And, weak men create hard times.” Jordan B. Peterson kann gar als deren Chefideologe oder zumindest als „Gateway-Droge“ in die Manosphere verstanden werden. Beide erreichten ihre mediale Omnipräsenz aufgrund ihrer Möglichkeit, in Talkshows, Podcasts und andere etablierte Medien eine Stimme zu finden. Sie erreichten so Millionen von jungen Männern.
Dieser Nährboden des Frauenhasses trifft auf eine vermeintliche Krise der Männlichkeit und die Vertreter der Manosphere wissen diese präzise zu instrumentalisieren. Sie treffen auf unzählige zutiefst unsichere und hierdurch beeinflussbare junge Männer. Diese Krise bezieht sich vor allem auf weiße, heterosexuelle Männer aus der Mittelschicht, die sich selbst – ob berechtigt oder nicht – verunsichert und ohnmächtig im Angesicht der Herausforderungen und sozialen Veränderungen fühlen. Diese definieren sich selbst, wie ihre Väter zuvor, über ihren ökonomischen und sozialen Status in der Gesellschaft. Diese Anerkennung erfahren sie allerdings nicht in ihrem erwarteten Ausmaß. Der ökonomische Raum wird im modernen Kapitalismus stetig umkämpfter, sodass Klassen, außer der Bourgeoisen, nicht mehr im gleichen Maße partizipieren können. Sie leben häufig in Armut. Auf diesen ökonomischen Statusverlust folgt ein scheinbar sozialer: Eine geringfügige gesellschaftliche Verschiebung der hegemonialen Männlichkeit, also des Verständnisses, was die Gemeinschaft als „männlich“ versteht, hin zu einem progressiveren Verständnis von Männlichkeit scheint ein Momentum der Verletzung der Identität des jungen Mannes zu sein. Dies ist die Kerbe, in die die Manosphere strategisch einschlägt und einen Kulturkampf zwischen den Geschlechtern ausruft, um die Unterdrückung des wahren Mannes in der Gesellschaft zu bekämpfen. Auch wenn die VertreterInnen nicht mehr Teil ihrer sozialen Klasse sind oder je waren, und vermutlich die realen Bedingungen der Probleme dieser jungen Männer nicht wahrnehmen, geschweige denn lösen können, scheinen sie diese Bedingungen präzise zu verstehen. Diese entfremdeten jungen Männer finden in diesen sozialen Gefügen ein Momentum der Zugehörigkeit und ein höheres Ziel.
Wie so viele extremistische Ideologien bedienen sie sich einfacher Argumente für komplexe Sachverhalte. Beispielsweise dient die popkulturelle Matrix-Metapher der roten und blauen Pille als simple Binarität, eine Entscheidung zwischen Unwissenheit oder Versklavung, zwischen dem rationalen Denken oder einem sorglosen Leben, zwischen der Emanzipation von der Frau oder der Unterdrückung durch eben diese. All dies endend in einem Kulturkampf. Einer Schlacht um Zion? Gerade diese Kriegsrhetorik scheint mir ein besorgniserregendes Momentum dieser Gruppierung zu sein. Charaktere wie der Christchurch Attentäter nannte bekannte reaktionäre MännerrechtlerInnen (Ja, es gibt auch Frauen, die Teil der Manosphere sind), als ImpulsgeberInnen für seinen Anschlag, der Amokfahrer in Toronto tötete 10 Menschen, verordnet sich als Teil der Incel-Community und rief gar eine Rebellion aus. So auch am vergangenen Sonntag, als ein 22-jähriger US-Amerikaner im LGBTQ-Club „Q“ in Colorado Springs Amok lief, fünf Menschen tötete und 25 verletzte. Die genauen Gründe sind noch unklar, aber die Stimmung in Amerika und die lauten Stimmen der Reaktionäre gegen „Queer-rights“, und die Installierung eines solchen Feindbildes durch die RepublikanerInnen befeuern eine Stimmung im Land, die solche Anschläge keine Seltenheit bleiben lässt.
Wie geht man nun mit Menschen um, die sich in einer Phase der Extremisierung befinden oder gar schon extremisiert sind? Die Dämonisierung der jungen Männer, die Gruppierungen anheimgefallen sind, die sie für politische oder „bloß“ ökonomische Zwecke ausbeuten, bringt uns meines Erachtens nicht weiter. Das einfühlsame Wahrnehmen ihrer Sorgen und Ängste scheint mir ein Antrieb der Veränderung zu sein. Ein Antrieb des Entgegentretens gegen die Viralität der Manosphere. Dieser Kampfplatz sollte nicht diversen toxischen Online-Communitys überlassen werden, sondern sollte Arena eines neuen Verständnisses von Männlichkeit werden. Einfühlsame Männlichkeit?
Auch mit der Angst, Gefahr zu laufen, zu selbstreferentiell nach diesen doch schwerwiegenden Themen zu wirken, möchte ich zum Anfang zurückkommen. Ich möchte euch nun von einem potenziellen Ausweg überzeugen. Andererseits werde ich nach dem Schreiben dieser Kolumne wieder beginnen Sport zu treiben, um einem unrealistischen Körperbild nachzueifern. Ich ächze nach wie vor unter der Last der Gewichte, die ich mir gleich um den Bauch binden werde, um mich daraufhin an einer Klimmzugstange hinaufzuziehen oder werde versuchen, eine viel zu schwere Kugelhantel möglichst schnell über meinen Kopf zu befördern. Dabei höre ich kaum auf meinen Körper, sondern versuche meine eigene Fleischlichkeit zu überwinden. Hierbei weiß ich präzise, wie ich meine Ziele zu erreichen habe. Es ist einfach und muss „bloß“ getan werden, im Gegensatz zur Komplexität meines „echten“ Lebens, in dem ich nach wie vor durch den Nebel der Erreichung meiner Träume waten muss. Auch ich, wie vermutlich viele andere Menschen, fühle mich entfremdet und ziellos und eine Form der Selbstoptimierung dient mir als Anker in unsicheren Zeiten. Im selben Moment scheint mir bewusst, dass, entgegen herkömmlicher Meinung, dieser Drang nach Exzellenz und ihre Toxizität schon immer die Bremsen meiner Kreativität war. Das andauernde Vergleichen übermannte mich und ließ mich sozial gelähmt zurück. Der wahre Moment des Flows trat nie ein. Diese tiefe Verunsicherung scheint auch bei mir ein Momentum der Empfänglichkeit zu sein. Ein Momentum, das bei genauer Selbstbetrachtung in den meisten von uns wiederzufinden ist.
Und so komme ich zurück zum Anfang der Kolumne: Wieso war der Nährboden der toxischen Männlichkeit nicht allzu fruchtbar, trotz der sozialisierten, ökonomischen und verunsicherten Zusammensetzung der Nährflüssigkeit (um unangenehmerweise innerhalb der Metaphorik zu verweilen)? Kurzer Einschub: Hierbei spreche ich nicht über ihre Überwindung, denn auch der alte, toxische Männlichkeitskult trübt meinen Alltag nach wie vor, sondern über ihre Reflexion. Mir wurde durch die Einfühlsamkeit von Freunden, Weggefährten oder meiner Familie und der Auseinandersetzung mit bestimmten, weltoffenen Philosophien Werte vermittelt, die unabhängig einer Geschlechterdichotomie zu verstehen sind. Sie ermöglichten mir, außerhalb einer chauvinistischen Doktrin zu denken. Sozialisierung trumpft Sozialisierung.
Moderne Denker*innen wollen von einer generellen Geschlechtlichkeit in Kultur und Gesellschaft abkommen und diesem Ideal möchte ich auch entsprechen. Aber wenn wir von Geschlechtlichkeit und ihrer Dichotomie wegwollen, wieso sollten wir dann noch Männlichkeit definieren? Solange wir noch, beispielsweise in der sozialen Erkenntnistheorie, von männlichen Quellen des Wissens sprechen, müssen wir, um Ungerechtigkeiten feststellen und abbauen zu können, an einer Dichotomie festhalten. Erst in einer Ausdifferenzierung und der daraus entstehenden Progressivität lösen sich diese in nicht feste Kategorien auf. Wenn wir aber nun im Feminismus neue Wege der Weiblichkeit erforschen, sollte dies auch für die Männlichkeit stattfinden. Ein progressives und neues Verständnis von Männlichkeit ist vonnöten, um reellen gesellschaftlichen Fortschritt in der Frage der Geschlechtlichkeit zu ermöglichen.
Entgegen dem reaktionären Ideal, des Festklammerns an Althergebrachtem, steht eine neue progressive Männlichkeit. Der vermeintlich natürliche Archetyp des starken Kriegers scheint mir in modernen Zeiten längst überholt und unter die Räder des kulturellen Fortschrittes gekommen zu sein. Je weniger die Armut im gesellschaftlichen Miteinander eine Rolle spielt, desto geringer ist die Gefahr von Verbrechen. Wir brauchen nicht mehr Kontrolle und Dämonisierung, wir brauchen mehr Warmherzigkeit. Wir brauchen keine starke Hand, wir brauchen eine Einfühlsame. In diesen Zeiten sind keine starken Krieger mehr gefragt, sondern Menschen, die ihr Anliegen kommunizieren können, während sie gleichsam strotzen vor vermeintlich bloß weiblichen Stereotypen. Stereotypen, wie Sorgsamkeit, Verantwortung und Einfühlungsvermögen. Die Aufgabe, „moderne Männlichkeit“ zu definieren, gerade im Angesicht der Manosphere, aber auch der alltäglichen Erscheinungen des Patriacharts, scheint mir ein notwendiges Anliegen für das Gelingen unserer Gesellschaft zu sein.
Dieses Kolumnenkapitel – die, wie in der ersten Episode angekündigt, nun meine letzte sein sollte (es tut mir leid, ich werde mich noch gebührend verabschieden) – fiel mir über die vergangenen Wochen äußerst schwer und ich schob diese Thematik viele Male auf. So war es eigentlich geplant, dass die Manosphere bereits in Kapitel V erscheint. Die schiere Fülle der Thematik, der in großen Teilen noch ungewisse wissenschaftliche Stand und meine eigene Verwobenheit verweigerten mir einen präzisen Zugang. Trotzdem scheint mir das Thema eines neuen Verständnisses von Männlichkeit am Herzen zu liegen. Spätestens nach einem Philosophie-Seminar zum Thema Dekolonialismus im nahegelegene Rothenberge in einem kolonialen Herrenhaus – und ja, die Ironie ist mir durchaus bewusst, und wurde mir durch die Columbus-Büste im Kaminzimmer des Hauses in mein Gedächtnis eingebrannt – als bei einem Bier im angesprochenen Kaminzimmer von einer Juristin, die zur Thematik der offenen Grenzen promovierte (an dieser Stelle tut es mir leid, dass ich ihr Doktorarbeitsthema so unpräzise darstellen muss), gefragt wurde, ob es eigentlich aktuelle „Männerbücher“ gäbe. Beispielsweise Romane, mit denen junge Männer sich identifizieren könnten. Aus denen sie ein Wertgerüst ableiten könnten, dass außerhalb einer reaktionären oder kapitalistischen Logik funktioniert. Auf diese Frage konnte ich in Teilen aus Unwissenheit, in Teilen aus der Faszination für die reaktionäre Gegenseite, aus einem Motiv der Gegneranalyse heraus, in Teilen aus Ignoranz keine zufriedenstellende Antwort finden. Dennoch entzündete es als angehender Schreiberling eine Flamme der Zugkraft für dieses Thema. Diese Kolumne soll somit als kleines Niederlegen meiner Gedanken oder gar als kleiner Impuls zu dieser Thematik dienen.
Text- und Bildrechte: Marcel Guthier.