Nach der Verurteilung des Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu hat der Deutsche Anwaltverein (DAV) die türkische Justiz als "Spielball der Politik" kritisiert. Der Prozess und das Urteil seien eine "neue traurige Zäsur" und zeigten einmal mehr, "dass es derzeit in der Türkei keine unabhängige Justiz gibt", erklärte der DAV-Vizepräsident Stefan von Raumer.
Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr in der Türkei sei eine weitere Verschärfung der Missstände leider absehbar gewesen, fügte er hinzu.
Am 14. Dezember hatte ein Istanbuler Gericht Imamoglu zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt und ihm ein ebenso langes Politikverbot auferlegt. Der Bürgermeister gehört der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP an und gilt bei den Wahlen im kommenden Jahr als möglicher Herausforderer des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ihm wird zur Last gelegt, Beamte rund um die Kommunalwahlen im Jahr 2019 öffentlich beleidigt zu haben. Imamoglus Anwalt hatte Berufung gegen das Urteil angekündigt.
Mit Blick auf das Berufungsverfahren forderte der DAV die türkische Justiz auf, sich "auf ihre internationalen Verpflichtungen zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten - insbesondere aus der Europäischen Menschenrechtskonvention - zu besinnen". Mit politisch motivierten Urteilen gegen mögliche Wahlkontrahenten würden "nicht einmal die Mindeststandards freier und fairer Wahlen respektiert", erklärte von Raumer. Sollte Imamoglu tatsächlich abgesetzt werden, "wäre das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht mehr vereinbar".
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