Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich möchte Ihnen heute Abend von Kindern erzählen, die ich vor einigen Tagen getroffen habe: fünfzig Mädchen und Jungen, die mit ihren Müttern vor dem Krieg in der Ukraine zu uns nach Deutschland geflohen sind. Sie haben ihre Heimat und sie haben ihr Zuhause verloren, viele von ihnen haben Schreckliches erlebt. Sie sind so verängstigt, dass schon der Knall einer zufallenden Tür sie zittern lässt.
Ich traf diese Kinder in Freiberg in Sachsen, wo sie in die Grundschule gehen. Ihre Lehrerin erzählte, wie oft sie die Kinder trösten muss. „Manchmal möchte ich mitweinen“, sagte sie, „aber ich kann nicht, denn ich muss ja stark bleiben.“ Eine andere Lehrerin kam selbst erst im Mai aus der Ukraine zu uns, damals sprach sie kein Wort Deutsch – heute kann sie es so gut, dass sie ukrainische Kinder auf Deutsch unterrichtet. Wie schafft man das alles? Die Schulleiterin sagte mir: „Da waren so viele, die unsere Hilfe brauchten – also haben wir es einfach gemacht.“
Ich erzähle Ihnen diese Geschichte nicht nur, weil ich dankbar bin für die Mitmenschlichkeit und Liebe, die diese Kinder erlebt haben, sondern weil ich heute Abend allen danken will, die sich in diesem Jahr für andere eingesetzt haben.
Ich weiß, wie viel diese Krise Ihnen allen abverlangt; dass viele sich einschränken müssen. Aber unsere Großherzigkeit im Umgang miteinander, die kann uns niemand nehmen. Ein freundliches Wort, eine kleine Geste der Aufmerksamkeit, Verständnis für andere, Offenheit gegenüber Fremden: Sie selbst, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sie alle, die in unserem Land leben, helfen mit, das Leben für andere ein wenig heller zu machen.
Meine Frau und ich wünschen Ihnen ein schönes Weihnachtsfest! Ein Weihnachten, an dem Sie für einen Moment Abstand gewinnen können zu dem, was Sie in diesem Jahr erschreckt, geängstigt, aufgewühlt hat. Ein Weihnachten, an dem Sie sich freuen können über Begegnungen, das Zusammensein mit der Familie, über die Ruhe nach einem anstrengenden Jahr.
An Weihnachten feiern wir Christen die Ankunft des Kindes, das Hoffnung bringt in eine düstere Gegenwart. Und auch viele Nichtchristen feiern mit und lassen sich berühren von den Verheißungen der Weihnachtsgeschichte: Wärme und Schutz, Nähe und Eintracht, Zuversicht und Frieden.
Ja, in diesem Jahr ist wohl unser sehnlichster Wunsch, dass wieder Friede herrscht. Der brutale russische Überfall auf die Ukraine, die Rückkehr des Krieges nach Europa, das entsetzliche Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, auch die Furcht vor einer Ausweitung der Kämpfe, all das verstört und verängstigt viele Menschen in unserem Land.
Auch die Grundschulkinder aus Freiberg und ihre Familien in der Ukraine wünschen sich Frieden, viel dringlicher noch als wir. Aber dieser Friede ist noch nicht greifbar. Und es muss ein gerechter Friede sein, der weder den Landraub belohnt noch die Menschen in der Ukraine der Willkür und Gewalt ihrer Besatzer überlässt. Bis Friede einkehren kann, ist es ein Gebot der Menschlichkeit, dass wir den Angegriffenen, den Bedrohten und Bedrückten beistehen. Auch damit setzen wir im Dunkel des Unrechts ein Licht der Hoffnung.
Liebe Landsleute, auch Sie spüren die Folgen dieses Krieges, vor allem die wirtschaftlichen Folgen. Aber Sie tragen die Lasten, weil Ihnen das Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer nicht gleichgültig ist; weil Ihnen ihr Kampf für die Freiheit nicht egal ist; weil Sie solidarisch und mitmenschlich sind.
Ja, dies sind raue Zeiten. Wir stehen im Gegenwind. Und dennoch: Gerade Weihnachten ist der richtige Moment, auf das zu schauen, was uns Zuversicht gibt. Und das gibt es! Die Ukraine behauptet sich mit großem Mut. Europa steht zusammen. Und unser Land wächst in der Herausforderung wieder einmal über sich hinaus. Wir sind nicht in Panik verfallen, wir haben uns nicht auseinandertreiben lassen. Unser demokratischer Staat mildert die härtesten Belastungen. In den Unternehmen arbeiten viele daran, gestärkt aus der Krise zu kommen. Und Sie alle haben mitgeholfen.
Wenn dieses Jahr ein Gutes hatte, dann doch die Erfahrung: Gemeinsam kommen wir durch diese Zeit. Und deshalb ist es mein Weihnachtswunsch, dass wir diese Zuversicht mitnehmen ins neue Jahr. Dass wir alles stärken, was uns verbindet.
So sehr uns andere Sorgen augenblicklich beschäftigen mögen: Auch der Kampf gegen den Klimawandel hat nichts an Dringlichkeit verloren. Er kann nicht warten, er braucht uns alle. Ich wünsche mir, dass die Älteren auch spät im Leben noch einmal bereit sind, sich zu verändern. Und dass die Jüngeren sich engagieren, dass sie kritisch sind – ohne der Sache des Klimaschutzes zu schaden, indem sie andere gegen sich aufbringen. Wir brauchen doch beides: den Ehrgeiz der Jungen und die Erfahrung der Alten. Denn wir alle haben doch ein gemeinsames Ziel: dass die Jüngeren nicht die „letzte Generation“ sind, sondern die erste Generation einer klimafreundlichen Welt.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir waren in diesem Jahr zu so viel mehr fähig, als wir uns womöglich selbst zugetraut hatten. Wir haben beherzt gehandelt, als unsere Hilfe erforderlich war. Wir sind füreinander eingestanden. Ich bin stolz auf unser Land, in dem so viele Menschen anpacken – nicht weil sie müssen, sondern weil sie Verantwortung empfinden für andere und für die Gemeinschaft. Was uns im Kern ausmacht, was uns immer stark gemacht hat, das hat Bestand: Wir sind kreativ, fleißig und solidarisch. Und daraus können wir die Kraft und die Hoffnung schöpfen für das neue Jahr.
Ich möchte ganz besonders all jenen danken, die auch heute und über die Feiertage arbeiten, in den Krankenhäusern und Altenheimen, auf den Polizeiwachen und bei den Feuerwehren, überall dort, wo es im Dienst für andere keine Pause gibt. Ich danke Ihnen sehr dafür!
Ihnen allen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, frohe Weihnachten!
Bulletin 164-1
Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler