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Völkermord an Jesiden anerkannt

Annalena Baerbock, Bundesministerin des Auswärtigen, hält zur Anerkennung und zum Gedenken an den Völkermord an den Êzîden 2014 am 19. Januar 2023 vor dem Deutschen Bundestag in Berlin eine Rede:

Frau Präsidentin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf der Tribüne!

Liebe Jesidinnen und Jesiden!

Wir gedenken heute dessen, was Ihrem Volk, was Ihren Schwestern, Müttern, Vätern, Brüdern, Kindern angetan worden ist. Dieses Gedenken ist für uns aber auch Auftrag – Auftrag, nicht nachzulassen, nach denjenigen zu suchen, die weiterhin vermisst und verschleppt sind, wahrscheinlich 3.000. Viele von uns waren selber vor Ort, ich auch, und deswegen ist für mich dieser Auftrag, nicht nachzulassen, das Allerwichtigste des heutigen Tages.

Als ich vor drei Jahren dort in einem der Camps war, zeigte mir eine Frau ihr zersplittertes Handy, darauf Bilder zweier Mädchen, eines ungefähr drei, das andere neun Jahre alt, und sagte: Das sind meine Töchter, die nicht befreit werden konnten. 

Diese Frau wurde verschleppt, als Sexsklavin gehalten, musste das Schlimmste erleben, was eine Frau, was eine Mutter erleben kann. Dann hat der Peiniger irgendwann gesagt: „Du kannst gehen und deinen kleinen Sohn mitnehmen“, weil er sich eine andere Frau beschafft hatte. Aber ihre Töchter mussten bleiben. Dieses zersplitterte Handy, das ist für uns Auftrag, nicht nachzulassen, nach all den Mädchen weiter zu suchen, die mittlerweile Teenager oder Erwachsene sind. Deswegen bin ich so dankbar, dass wir gemeinsam als Bundestag heute hier fraktionsübergreifend diesen Auftrag annehmen, indem wir diese Verbrechen beim Namen nennen: den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden.

Es ist für uns Auftrag, nicht nur zu gedenken, nach Vermissten zu suchen, sondern im Sinne unserer gemeinsamen Außenpolitik immer wieder zu reflektieren: Was hätten wir tun können? Was können wir tun, um zukünftige Völkermorde zu verhindern?

Neben dem zersplitterten Handy lässt mich ein Satz nicht los. Er steht im Übrigen auch in dem Buch von Shirin „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“: „Ihr wusstet doch, wo wir waren.“ Als Tausende von Frauen in einer Schule eingepfercht waren, wurden GPS-Daten verschickt. Ja, wir wussten, wo sie waren. Wir wussten, wo die Frauen waren. Deswegen sollten wir uns auch fragen: Warum haben wir nicht gehandelt?

Natürlich ist alles Militärische immer eine Abwägungsfrage. Aber haben wir nicht gehandelt aufgrund der Herkunft der Opfer oder des Geschlechts der Opfer? Ich kann die Frage nicht beantworten; aber ich finde wichtig, dass wir uns dieser Frage immer wieder aufs Neue stellen, um diese Verbrechen in Zukunft zu verhindern.

Ich möchte daher stellvertretend einigen von Ihnen auf der Tribüne danken, Necla Mato, Jihan Alomar und so vielen anderen, dass Sie trotz der Furchtbarkeit – und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man darüber sprechen kann, was einem selber angetan wurde, oder darüber, was es mit einem macht, wenn der Bruder oder der Vater vor den eigenen Augen erschossen wird – dennoch darüber gesprochen haben, dass Sie uns, dass Sie die Welt wachgerüttelt haben, damit wir heute gemeinsam diesen Parlamentsbeschluss fassen und wir das benennen können, was Ihnen angetan wurde: ein Völkermord, passiert an den Jesidinnen und Jesiden.

Ich möchte auch anderen danken, weil es deutlich macht, dass Politik immer auch von Einzelnen lebt, von Einzelnen, die den Mut haben, über das Leid zu sprechen, aber auch von den Einzelnen, die in einem Parlament von über 700 den Mut haben, zu sagen: Wir haben noch gar keinen fraktionsübergreifenden Antrag, wir sind vielleicht in der Fraktion noch gar nicht alle einer Meinung, und wir sprechen trotzdem Dinge an.

Daher erinnere ich an dieser Stelle auch an unseren verstorbenen Kollegen Thomas Oppermann, der gemeinsam mit Volker Kauder in der vergangenen Legislatur zusammen mit anderen – ich war auch dabei; deswegen weiß ich es so genau – tagtäglich versucht hat, zu erreichen, dass diejenigen, die Opfer dieser Versklavung geworden sind, Kinder, die nicht in ihre Familien zurückkehren konnten, rausgeholt werden.

Ich danke auch dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und gegen die Stimmen derjenigen, die gesagt haben: „Das geht doch alles gar nicht, dass ein Bundesland plötzlich aktiv wird“, gesagt hat: Wir machen das jetzt, weil es um das Wichtigste geht, für was wir als Politikerinnen und Politiker eine Verantwortung haben: im Namen der Menschlichkeit zu handeln. Dafür herzlichen Dank auch an diejenigen in Deutschland, die als Aktivistinnen und Aktivisten oder als Ärzte oder Soziologen aktiv waren, so wie Düzen Tekkal und Jan Ilhan Kizilhan. Dieser Beschluss heute hier ist nicht nur der Beschluss von Politikerinnen und Politikern, sondern er steht stellvertretend für unser ganzes Land. Deutschland erkennt den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden an, als Gesellschaft. Dafür danke schön!

Als Gesellschaft ist es für uns Auftrag – das ist die Aufgabe für uns als Politikerinnen und Politiker –, dafür zu sorgen, dass wir dies nicht nur anerkennen, sondern dass wir Gerechtigkeit für die Opfer schaffen. Auch deswegen ist es so wichtig, immer weiterzumachen, nicht nachzulassen in all den Foren unserer Gesellschaft.

Es wurde bereits angesprochen: Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt ist so wahnsinnig wichtig, weil eben nicht nur Terrorismus angeklagt wurde, sondern Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil die einzelnen Verbrechen an Opfern gehört und zur Strafe gebracht worden sind. Das ist ein Meilenstein im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit. Und darauf aufzubauen, auch das ist, glaube ich, wichtig. Hier können wir gemeinsam als Parlament, als Bundesrepublik Deutschland ein Zeichen setzen, indem wir jetzt beim Internationalen Strafgerichtshof die Verfolgung dieser Verbrechen weiter vorantreiben, um deutlich zu machen, dass es nicht um die Täter geht, sondern vor allen Dingen um die Gerechtigkeit für die Opfer, damit sich – ich komme zum Schluss – in Zukunft Völkermord nicht über Generationen vererbt; denn das ist der dritte Auftrag von den Jesidinnen und Jesiden gewesen.

Wir können diesen Völkermord nicht rückgängig machen. Aber wir können dafür sorgen, dass die Opfer Gerechtigkeit erhalten, damit der Völkermord nicht vererbt wird. Herzlichen Dank.


Die Bundesregierung