Sonntag, 22. Januar 2023 in Paris
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Assemblée nationale!
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin!
Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Emmanuel!
Meine Damen und Herren Minister!
Verehrte Damen und Herren Abgeordnete!
Sehr geehrter Rektor!
Meine Damen und Herren!
„Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird.“
Im Jahr 1950 formulierte Robert Schuman diesen Satz. Er nahm darin das vorweg, was Charles de Gaulle und Konrad Adenauer zwölf Jahre später mit dem Elysée-Vertrag besiegelten: die Überwindung einer über Jahrhunderte währenden Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, den Beginn einer neuen Epoche der Zusammenarbeit, die über die Jahre zu einer unzertrennlichen Freundschaft heranwuchs, zu geschwisterlicher Zuneigung.
Heute sagt sich das so leicht. Doch als der Élysée-Vertrag vor 60 Jahren unterzeichnet wurde, lag der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg mit seinen ungeheuerlichen Verheerungen noch keine 20 Jahre zurück. Seine Wunden waren nicht gestillt, geschweige denn verheilt. Wie auch, angesichts der Menschheitsverbrechen?
Umso bewegter blicken wir Deutschen auf die menschliche Größe des französischen Volkes, das uns „malgré tout“ – allen berechtigten Zweifeln zum Trotz – die Hand zur Versöhnung gereicht hat.
Diese historische Versöhnungsgeste stand am Beginn der europäischen Einigung. Sie steht in ganz besonderer Weise für Frankreichs Rolle als unentbehrliche Nation, als „nation indispensable“, beim Aufbau eines vereinten Europas. Frankreich ist und bleibt das auch heute.
Wir Deutschen empfinden dafür tiefe Dankbarkeit. Und daher vor allem anderen: Merci, Monsieur le Président, merci de tout cœur! Merci à vous, nos frères et sœurs français, pour votre amitié!
Diese Freundschaft, sie bedeutet uns Deutschen sehr viel. Mehr noch: Aus dem Zugehen Frankreichs auf Deutschland, aus den 60 friedlichen Jahren, die unsere Länder seither erlebt haben, erwächst uns Deutschen eine besondere Verantwortung: die Verantwortung, unsere Gemeinsamkeiten zu stärken und keine Spaltung mehr zuzulassen, die Verantwortung, unser Interesse aneinander wachzuhalten und die Kenntnisse übereinander zu vertiefen: über unsere Kulturen, unsere Literatur, unsere Kunst, unsere Sprachen - so wie Millionen Bürgerinnen und Bürger unserer Länder es tun, die durch Städtepartnerschaften, Jugendaustausch und unzählige menschliche Begegnungen in Freundschaft verbunden sind. Wie eng, das habe ich schon in meiner Zeit als Kulturbevollmächtiger der Länder erlebt, bei vielen Besuchen, übrigens auch hier, an der Sorbonne. Und auch in meiner Heimatstadt Hamburg werde ich daran erinnert, denn das dortige deutsch-französische Gymnasium ist ein Kind aus dieser Zeit.
Und nicht zuletzt teilen wir als Deutsche und Franzosen die Verantwortung, unsere Partnerschaft in den Dienst eines friedlichen und vereinten Europas zu stellen.
Dabei leitet uns das Vermächtnis derjenigen, die sich über den Gräbern der beiden Weltkriege die Hand gereicht haben: Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Georges Pompidou und Willy Brandt, Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl. Für sie, die den Krieg noch miterlebt haben, lag gerade in diesem Erlebt-Haben der Ansporn, jegliche nationalistische Überhöhung hinter sich zu lassen. Ihr ursprüngliches Friedensprojekt ist heute vollendet – zu unser aller Glück!
Denn Krieg zwischen unseren Nationen, Krieg zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist für uns, die in Frieden und Freiheit Geborenen, unvorstellbar geworden. So fremd ist uns diese Vorstellung, dass manch einer schon fürchtet, damit schwinde auch unser Antrieb, Europa weiter voranzubringen. Doch das wäre grundfalsch, es wäre fahrlässig.
Die Herausforderungen, vor denen wir Europäerinnen und Europäer stehen, haben sich radikal verändert. Heute geht es nicht mehr darum, einen Krieg im Innern unserer Union zu verhindern und zu vermeiden, sondern darum, unsere europäische Friedensordnung und unsere Werte zu erhalten und zu verteidigen – gegen Fliehkräfte innerhalb unserer Union, vor allem aber gegen Bedrohungen von außen. Das, meine Damen und Herren, ist das europäische Friedensprojekt in der Zeitenwende, die wir erleben.
In der deutsch-französischen Freundschaft hat auch dieses neue europäische Friedensprojekt ein sicheres Fundament. Denn unsere Freundschaft steht für ein geeintes Europa und eine Friedensordnung, die auf den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen beruht; für die Achtung der Grundrechte und Freiheiten eines jeden Individuums, festgeschrieben von Ihren Vorgängern, den Abgeordneten der Assemblée nationale, im Revolutionsjahr 1789; für Rousseaus aufklärerischen Gedanken, dass die Souveränität vom Volk ausgeht, und darauf aufbauend für Kants Idee vom Rechtsstaat als Bollwerk gegen alle staatliche Willkür; für den demokratischen Parlamentarismus, der vor 175 Jahren – aus Frankreich kommend – erste, zunächst leider nur allzu zaghafte Wurzeln auch auf deutschem Boden schlug; und nicht zuletzt für die Idee liberaler und solidarischer Gesellschaften, europäischer Gesellschaften eben, die Eigenverantwortung verbinden mit dem Respekt vor jeder Bürgerin und jedem Bürger.
Griechen, Spanier und Portugiesen sind über die Jahre zu unserer Gemeinschaft gestoßen, nachdem sie ihre Diktaturen abgeschüttelt hatten, Länder in Nord- und Westeuropa, angezogen von den Errungenschaften des vereinten Europas, und schließlich, nach dem Einreißen des Eisernen Vorhangs, auch die Nationen Mittel- und Osteuropas. Ihr Freiheitswille und ihr Verlangen nach Demokratie hat unsere Union belebt und bereichert.
Gemeinsam ist es uns gelungen, das Recht des Stärkeren mit der Stärke des Rechts zurückzudrängen – in der Europäischen Union und auf dem gesamten europäischen Kontinent.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine aber hat diesen kontinentalen Konsens jäh aufgekündigt. Präsident Putin jagt imperialen Zielen nach. Er will Grenzen mit Gewalt verschieben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen dafür einen schrecklichen Preis. Doch Putins Imperialismus wird nicht siegen!
Wir sind es, die gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern die nächsten Kapitel der europäischen Geschichte schreiben. Und wir lassen nicht zu, dass Europa zurückfällt in eine Zeit, in der Gewalt die Politik ersetzte und unser Kontinent von Hass und nationalen Rivalitäten zerrissen wurde. Dafür stehen nicht zuletzt unsere vor einigen Tagen getroffenen Entscheidungen, der Ukraine Schützenpanzer, Spähpanzer und weitere Flugabwehrbatterien zu liefern, eng abgestimmt untereinander und mit unseren amerikanischen Freunden.
Und wir werden die Ukraine weiter unterstützen, so lange und so umfassend wie nötig, gemeinsam als Europäer – zur Verteidigung unseres europäischen Friedensprojekts.
Dieser gemeinsame Wille, diese Entschlossenheit ist ein entscheidender Schritt hin zu einem souveränen Europa, so wie du, lieber Emmanuel, es vor gut fünf Jahren an dieser Stelle gefordert und skizziert hast. Dafür bin ich dir sehr dankbar.
Heute arbeiten wir Seite an Seite daran, Europas Souveränität zu stärken, indem wir unsere Kräfte dort bündeln, wo die Nationalstaaten allein an Durchsetzungskraft eingebüßt haben: bei der Sicherung unserer Werte in der Welt, beim Schutz unserer Demokratie gegen autoritäre Kräfte, aber auch im Wettbewerb um moderne Technologien, bei der Sicherung von Rohstoffen, bei der Energieversorgung oder in der Raumfahrt. Europäische Souveränität bedeutet gerade nicht, nationale Souveränität aufzugeben oder sie zu ersetzen, sondern, sie zu erhalten und zu stärken in einer sich rasant verändernden Welt.
Neue Kraftzentren entstehen. Ganz unterschiedliche Länder und Staatsformen konkurrieren um Macht, Einfluss und Zukunftsperspektiven.
Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende, einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können, in der wir nicht bestehen als ein kleines, verzagtes Europa, das sich nationalen Egoismen hingibt und Gräben aufreißt zwischen Ost und West, Nord und Süd.
Valéry Giscard d’Estaing war es, der auf die Frage nach den Grenzen des vereinten Europas einmal sinngemäß gesagt hat: Im Norden und Westen ist der Atlantik eine natürliche Grenze, im Süden das Mittelmeer; im Osten aber sei diese Grenze offen, unbestimmt.
Deshalb war es so wichtig, dass wir als Europäische Union im vergangenen Sommer geschlossen gesagt haben: Ja, die Ukraine, Moldau und perspektivisch auch Georgien gehören zu unserer europäischen Familie. Ja, die sechs Westbalkanstaaten gehören dazu – schon lange, wenn wir ehrlich sind. Sie alle haben einen Platz in einer erweiterten Europäischen Union, einer Europäischen Union, die unseren Kontinent zu befrieden vermag und die geopolitisch handlungsfähig ist.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wie in früheren Erweiterungsrunden auch gilt es, die Handlungsfähigkeit dieser erweiterten Union auch durch institutionelle Reformen abzusichern. Vor allem aber muss eine geopolitische Europäische Union zu einem starken, glaubhaften Akteur auf der Weltbühne heranwachsen – an der Karls-Universität in Prag, dieser mitteleuropäischen Schwester der Sorbonne, habe ich dazu im Sommer einige Vorschläge gemacht –, etwa in der Sicherheitspolitik. Konkret geht es um ein besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen, eine engere Kooperation unserer Rüstungsindustrien und einen koordinierten Aufwuchs europäischer Fähigkeiten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die kommende Generation europäischer Kampflugzeuge und -panzer gemeinsam entwickeln, in Deutschland und Frankreich, zusammen mit unseren spanischen Freunden.
Ebenso bedeutsam ist, dass wir das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell zukunftsfähig machen, und zwar, ohne dabei denjenigen auf den Leim zu gehen, die von De-Globalisierung sprechen oder De-Coupling predigen. Beides sind Rezepte zur Gefährdung unseres Wohlstands, der doch auf Offenheit, freiem Handel, Innovation und fairem Wettbewerb beruht.
Und zugleich werden wir nicht länger die Augen davor verschließen, dass wir uns in der Vergangenheit manchmal zu sehr auf einzelne Länder, Lieferanten oder Abnehmer gestützt haben. Das gilt ausdrücklich auch für uns in Deutschland.
Die Antwort, die wir als Europäer darauf geben, lautet: Diversifizieren, um so riskante, einseitige Abhängigkeiten zu verringern. Dazu gehört, unsere Rohstoff- und Energieversorgung zu sichern und unsere Handelsbeziehungen global zu stärken – mit Partnern in Nord- und Südamerika, im Indopazifik und in Afrika. Und dazu gehören Investitionen, mit denen wir die Europäische Union zu einem weltweit führenden Standort für Zukunftstechnologien machen und zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt.
Auch das, meine Damen und Herren, ist Teil eines souveränen, geopolitischen Europas. Und ich bin froh, lieber Emmanuel, dass wir uns in diesen Zielen einig sind. Denn wie in der Vergangenheit wird es auch in Zukunft auf die Zusammenarbeit unserer beiden Länder ankommen: als Impulsgeber in einem geeinten Europa, als diejenigen, die Differenzen untereinander und zwischen den Ländern Europas überwinden. Und ich habe keinen Zweifel, dass uns das gemeinsam gelingt – auchn dank deines unerschütterlichen Bekenntnisses zu Europa, lieber Emmanuel, und dank unserer Freundschaft.
Der oft zitierte „deutsch-französische Motor“ läuft nicht nur dann besonders gut, wenn er leise, kaum wahrnehmbar vor sich hinschnurrt, wie das oft der Fall ist; der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine, gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit. Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik, sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln, weil wir wissen: Wenn es uns gelingt, Kompromisse zu finden – trotz unserer unterschiedlichen staatlichen und wirtschaftlichen Verfasstheit, trotz der Verschiedenheit unserer politischen Institutionen, trotz ganz unterschiedlicher historischer Erinnerungen, nationalstaatlicher Traditionen und Geografien –, dann entstehen Lösungen, die auch für andere tragfähig sind, und weil wir wissen: Nur mit dem anderen an unserer Seite – als Freund und engstem Partner, als „couple fraternel“ – hat auch unser eigenes Land eine gute Zukunft.
In der Pandemie war es eine deutsch-französische Verständigung, die den Grundstein für den europäischen Aufbaufonds gelegt hat. Und auch in der aktuellen Lage stehen wir einander bei: indem Strom aus Deutschland nach Frankreich fließt und umgekehrt Gas aus Frankreich nach Deutschland.
So übersetzen wir unsere geschwisterliche Zuneigung in praktische, gelebte Solidarität. Dem dienen die täglichen Abstimmungen zwischen unseren Regierungen; dem dienen die Brüsseler Nachtsitzungen; dem dienen unsere Ministerräte, so wie heute, bei denen es um handfeste Ergebnisse für unsere Bürgerinnen und Bürger geht.
Wenn man es recht bedenkt: Gerade in dieser Alltäglichkeit, in dieser uns in Fleisch und Blut übergegangen Selbstverständlichkeit des Deutsch-Französischen liegt doch sein wahrscheinlich außergewöhnlicher, sein einzigartiger Charakter.
Nutzen wir unsere unzertrennliche Freundschaft, nutzen wir unsere geschwisterliche Zuneigung, um gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die Gegenwart und die Zukunft unseres Kontinents zu gestalten!
Es lebe die deutsch-französische Freundschaft – in einem starken, vereinten Europa! Vive l’amitié fraternelle entre nos peuples!
Titelfoto: Heute gehe es darum, „unsere europäische Friedensordnung und unsere Werte zu erhalten und zu verteidigen – gegen Fliehkräfte innerhalb unserer Union, vor allem aber gegen Bedrohungen von außen“, so Scholz.
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