Die deutsche Wirtschaft ist im vierten Quartal 2022 erstmals in der Ukraine-Krise geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent zurück. Besonders die privaten Konsumausgaben, welche die Wirtschaft bislang gestützt hatten, nahmen ab, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte. Die Aussichten für das Jahr 2023 trüben sich damit weiter ein.
Über das ganze Jahr 2022 gesehen sei die Wirtschaft um preisbereinigt 1,8 Prozent gewachsen, erklärte das Bundesamt weiter. Mitte Januar 2023 waren die Statistiker in einer ersten Schätzung von 1,9 Prozent Wachstum ausgegangen - zu diesem Zeitpunkt hatten sie für das vierte Quartal noch eine Stagnation des BIP W erwartet.
Die privaten Konsumausgaben - etwa fürs Reisen und Ausgehen nach Aufhebung der Corona-Beschränkungen - legten über das Jahr gesehen stark zu und waren die wichtigste Wachstumsstütze der Wirtschaft. Zum Jahresende flaute die Konsumlaune jedoch wieder ab. Wirtschaftsexperten gehen insbesondere deshalb in diesem Jahr wenn überhaupt nur von einem schwachen Wachstum aus.
Die deutsche Wirtschaft hatte infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der Energiekrise zwar stark an Wachstum eingebüßt. Im zweiten und dritten Quartal 2022 verbuchte sie dennoch jeweils ein leichtes Plus.
Im Vergleich mit dem vierten Quartal 2021 blieb laut Statistischem Bundesamt weiterhin ein BIP-Zuwachs von 0,5 Prozent. Dies ist jedoch bedeutend weniger als die Zunahme im Jahresvergleich der Vorquartale.
"Eine zumindest kurzfristige Rezession wird wahrscheinlicher", kommentierte Jens-Oliver Nikasch, Analyst bei der Bank LBBW (Seite), die aktuellen Zahlen. "Im laufenden Quartal ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem weiteren Rückgang zu rechnen, der noch etwas größer ausfallen dürfte", erklärte Timo Wollmershäuser vom Ifo-Institut. Nach gängiger Definition würde Deutschland dann in eine Rezession W eintreten.
Der Ifo-Experte geht davon aus, dass ein kräftiger Anstieg der Autozulassungen zum Jahresende einen noch stärkeren BIP-Rückgang verhinderte: Durch das Auslaufen und Absenken staatlicher Förderprämien für Plug-in-Hybride W und Elektrofahrzeuge seien die Neuzulassungen um 20 Prozent im Vergleich zum Vorquartal angestiegen. "Für das laufende Quartal dürfte es bei den Autokäufen zu einem kräftigen Rückpralleffekt kommen, da die vorgezogenen Käufe nun wegfallen", erklärte Wollmershäuser.
Insgesamt hat die Wirtschaft den hohen Energiepreisen bislang unerwartet gut standgehalten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zufolge ist dies maßgeblich auf staatliche Maßnahmen wie die Entlastungen für Energieverbraucher zurückzuführen. Auch der milde Winter sowie die deutlich entspannte Lage in den globalen Lieferketten, etwa bei Halbleitern, hätten wohl geholfen.
"Die wirtschaftlichen Aussichten für Deutschland in diesem Jahr sind, gelinde gesagt, kompliziert, mit einer noch nie dagewesenen Anzahl von Unwägbarkeiten und Entwicklungen in entgegengesetzte Richtungen", warnte nach vorne blickend der ING-Analyst Carsten Brzeski. "Die heutigen BIP-Zahlen zeigen einmal mehr, dass Vorsicht der beste Ratgeber für die Vorhersage des deutschen und europäischen Wirtschaftswachstums ist."
pe/bk© Agence France-Presse