Sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen,
meine Damen und Herren,
ich
denke, ich spreche uns allen aus dem Herzen, wenn ich nach dieser Rede
von Präsident Selensky zunächst in Richtung Kiew antworte: Lieber
Wolodymyr, wir hätten dich heute sehr gern in unserer Mitte gehabt, denn
die Ukraine gehört hierher, an unsere Seite, in ein freies, vereintes
Europa. Aber wir verstehen, wo dein Platz ist ‑ in diesen Tagen sein
muss ‑: in Kiew, im unermüdlichen Einsatz für dein Land. Dafür wünschen
wir dir von hier aus München weiter viel Kraft und Zuversicht!
(auf Englisch)
Ich darf die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten hier sehr herzlich
willkommen heißen. Herzlichen Dank, dass Sie heute bei uns sind –
wieder einmal, kann ich hinzufügen! Es ist für uns eine Ehre, dass Sie
hier sind und zwar gemeinsam mit so vielen Kollegen aus dem
amerikanischen Senat, dem Repräsentantenhaus und der amerikanischen
Regierung. Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier in München!
(auf Deutsch)
Ihnen, lieber Herr Ischinger, war es immer ein Anliegen, dass hier in
München nicht nur Reden gehalten werden, sondern dass miteinander
geredet wird. Und ich weiß, auch Ihnen, lieber Herr Heusgen, ist das
sehr wichtig. Deshalb will ich mich auf einige Thesen beschränken ‑
sozusagen als Kick-off für unsere Diskussion.
Erstens: Putins
Revisionismus (Wikipedia) wird nicht siegen. Im Gegenteil: Die Ukraine ist geeinter
denn je. Die Europäische Union steht geschlossen zusammen ‑ und hinter
einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Die NATO wächst um zwei
neue Mitglieder.
Zugleich haben tausende junge Russen Putins
Krieg mit ihrem Leben bezahlen müssen; viele weitere haben dem Land den
Rücken gekehrt.
Unter großen Opfern und mit absolut
beeindruckender Entschlossenheit verteidigen die Ukrainerinnen und
Ukrainer ihre Freiheit. Und wir unterstützen sie dabei ‑ so umfangreich
und so lange wie nötig.
Allein Deutschlands Hilfe für die Ukraine
belief sich im vergangenen Jahr auf über 12 Milliarden Euro. Wir haben
mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen ‑ mit vollem
Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, unseren Schulen, unseren Universitäten.
Wir liefern hochmoderne Waffen, Munition und andere militärische Güter ‑
mehr als jedes andere Land in Kontinentaleuropa. Das entspricht nicht
nur den ‑ wohlgemerkt: berechtigten ‑ Erwartungen unserer Partner und
Verbündeten. Wir übernehmen damit auch die Verantwortung, die ein Land
von der Größe, Lage und Wirtschaftskraft Deutschlands in Zeiten wie
diesen zu schultern hat.
Dabei haben wir mit jahrzehntelangen
Grundsätzen bundesrepublikanischer Politik gebrochen ‑ zum Beispiel
damit, keine Waffen in ein solches Gebiet zu liefern. Ich verstehe, wenn
einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen
hinterfragen. Ihnen möchte ich sagen: Nicht unsere Waffenlieferungen
sind es, die den Krieg verlängern. Das Gegenteil ist richtig ‑ und das
ist meine zweite These ‑: Je früher Präsident Putin einsieht, dass er
sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer ist die Chance
auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstruppen.
Das
ist auch das Ziel der Ukraine ‑ so hat es Präsident Selensky bei
unseren Treffen vergangene Woche in Paris und in Brüssel bekräftigt, und
eben ja auch noch einmal. Dieses Ziel verfolgen wir in großer
europäischer, transatlantischer und internationaler Einigkeit.
Dazu
zählt übrigens, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, die Russen in der Ukraine begehen, zu dokumentieren und
zu ahnden. Gut, dass die Munich Security Conference dieses Thema
aufgreift, denn ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden.
Zugleich
tragen wir Sorge dafür, dass es nicht zu einem Krieg zwischen der NATO
und Russland kommt. Daher lautet meine dritte Botschaft: Die Balance
zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung
einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin halten. Und ich
bin froh und dankbar, dass Präsident Biden und viele andere Verbündete
das genauso sehen wie ich. Denn der Kurs, den wir gemeinsam
eingeschlagen haben, verläuft durch unkartiertes Gelände. Zum ersten Mal
in unserer Geschichte führt eine Nuklearmacht hier auf europäischem
Boden einen imperialistischen Angriffskrieg. Für das, was in dieser Lage
zu tun ist, gibt es keine Blaupause.
Ich meine: Wir tun gut
daran, alle Konsequenzen unseres Handels sorgfältig abzuwägen und alle
wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern. Denn es geht
um einen Krieg in unserer Nähe, in Europa ‑ einen gefährlichen Krieg.
Und bei allem Handlungsdruck, den es ohne Zweifel gibt: In dieser
entscheidenden Frage gilt: Sorgfalt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor
Solovorstellung. Und es gilt, unsere Unterstützung von Anfang an so
anzulegen, dass wir sie lange durchhalten. Das war bislang unser Maßstab
bei der Lieferung neuer Waffensysteme: bei den Haubitzen und
Mehrfachraketenwerfern, bei den Flugabwehrwaffen, den Schützenpanzern,
Patriot-Batterien und zuletzt auch bei den westlichen Kampfpanzern. Und
so halten wir es auch in Zukunft.
Dazu gehört, dass alle, die
solche Kampfpanzer liefern können, dies nun auch wirklich tun. Dafür
werben Verteidigungsminister Pistorius, Außenministerin Baerbock und
ich ‑ auch hier in München ‑ intensiv. Was Deutschland beitragen kann,
um unseren Partnern diese Entscheidung zu erleichtern, das werden wir
tun, etwa indem wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland ausbilden
oder bei Nachschub und Logistik unterstützen.
Übrigens: Für mich
ist das ein Beispiel für die Art von Leadership, die jede und jeder von
Deutschland erwarten kann und die ich unseren Freunden und Partnern
ausdrücklich anbiete.
Und damit bin ich bei Botschaft Nummer
vier: Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung für die
Sicherheit Europas und des NATO-Bündnisgebietes, ohne Wenn und Aber.
Von
diesem Podium aus war in den vergangenen Jahren oft davon die Rede,
dass Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht
werden muss. Ich teile diesen Anspruch nicht nur, wir lösen ihn ein: mit
einer zusätzlichen Brigade zum Schutz Litauens, durch die Unterstützung
Polens und der Slowakei bei der Flugabwehr und durch Air Policing,
durch den Schutz kritischer Infrastruktur in Nord- und Ostsee und, indem
wir die NATO-Speerspitze führen und dafür 17 000 Soldatinnen und
Soldaten in Bereitschaft halten.
Um das und künftig noch mehr
leisten zu können, machen wir Schluss mit der Vernachlässigung der
Bundeswehr. Mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für
die Bundeswehr haben wir das Fundament dafür gelegt. Wir haben dafür
unser Grundgesetz geändert, mit Unterstützung auch der größten
Oppositionspartei im Land. Diese Mittel erlauben uns einen dauerhaften
Spurwechsel beim Aufbau der Fähigkeiten unserer Bundeswehr. Natürlich
steigen mit neuen Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Schiffen und Panzern
auch die Kosten für Munition und Ausstattung, für Unterhalt, Übungen,
Ausbildung und Personal. Deshalb will ich hier die Aussage bekräftigen,
die ich drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag gemacht habe:
Deutschland wird seine Verteidigungsausgaben dauerhaft auf zwei Prozent
des Bruttoinlandsprodukts anheben.
Um diese Mittel sinnvoll und
nachhaltig zu investieren, brauchen wir eine leistungs- und
wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie in Deutschland und in ganz Europa.
Deshalb lautet meine fünfte These: In der Rüstungspolitik muss die Europäische Union strategisch an einem Strang ziehen.
Gemeinsam
mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das künftige Future Combat
Air System, mit Frankreich zudem das Main Ground Combat System. Auch bei
der gemeinsamen Entwicklung europäischer Fähigkeiten kommen wir voran.
Dafür steht die von Deutschland initiierte European Sky Shield
Initiative zur Stärkung Europas Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Das
sind Schritte hin zu einem Europa der Verteidigung und Rüstung, wie ich
es letztes Jahr an der Prager Karlsuniversität skizziert habe.
Das
sind zugleich Schritte hin zu einem geopolitisch handlungsfähigeren
Europa, zu einem Europa, das auch ein stärkerer transatlantischer
Verbündeter ist. Dazu gehört, dass wir mehr tun, um Konflikte in unserer
Nachbarschaft zu lösen. Darum geht es bei dem europäischen Vorschlag
für einen Grundlagenvertrag zwischen Serbien und Kosovo, den Präsident
Macron und ich initiiert haben. Ich hoffe, dass Belgrad und Pristina
diese historische Chance wahrnehmen, im Interesse der Stabilität des
Westlichen Balkans und ganz Europas.
Weitere Schritte müssen für
ein geopolitisches Europa hinzukommen. Denn in unserer digitalen,
technologisierten, globalisierten Welt lässt sich Sicherheit nicht
allein mit militärischer Stärke erreichen.
Darum lautet meine
sechste These: Für uns Europäerinnen und Europäer und, wie ich meine,
letztlich für alle demokratischen, offenen Gesellschaften wie unsere
geht es darum, dass wir insgesamt resilienter werden.
Das gelingt
nicht durch Deglobalisierung, nicht, indem wir der Welt den Rücken
zukehren. Dies wäre ein Verrat an unseren eigenen Werten und auch
wirtschaftlich ein Kurzschluss. Sondern das gelingt, indem wir
einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden und unsere politischen und
wirtschaftlichen Beziehungen breiter und robuster aufstellen. Wir
Deutschen wissen, wovon wir reden. Schließlich haben wir uns in
Deutschland in den vergangenen zwölf Monaten von russischer Energie
unabhängig gemacht. Das war ein Kraftakt.
Auch in anderen
Bereichen werden wir solche kritischen Abhängigkeiten reduzieren, etwa
was strategisch wichtige Rohstoffe oder Zukunftstechnologien angeht.
Auch dieses Ziel gehört für mich übrigens in unsere Nationale
Sicherheitsstrategie. Schon jetzt stärken wir eigene
Produktionskapazitäten, zum Beispiel bei Halbleitern. Schon jetzt
diversifizieren wir unsere Lieferketten und erschließen uns neue
Lieferanten und Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in
Mittel- und Südamerika.
Zugleich geht es immer auch darum, diesen
Regionen größere politische Mitsprache zu ermöglichen, ja diese
Mitsprache auch einzufordern. Denn es liegt auch in ihrem Interesse,
dass grundlegende Prinzipien unserer Friedensordnung und der Charta der
Vereinten Nationen nicht unter die Räder kommen. Auch deswegen bin ich
übrigens im vergangenen Herbst nach Peking gereist. Bei der Verteidigung
bestimmter Grundprinzipien der internationalen Ordnung sind alle
gefordert, auch China. Ich bin froh, dass Präsident Xi bei dieser
Gelegenheit klargestellt hat, dass er sich klar gegen jede Drohung mit
Atomwaffen oder gar deren Einsatz im Krieg Russlands gegen die Ukraine
stellt.
Zugleich mache ich mir keine Illusionen darüber, was wir
allein durch Dialog bewegen können, auch bei unseren demokratischen
Partnern in Asien, Afrika und Lateinamerika. „Europe has to get out of
the mindset that Europe’s problems are the world’s problems, but the
world’s problems are not Europe’s problems”, so wird der indische
Außenminister im diesjährigen Munich Security Report zitiert. An dem
Satz ist etwas dran. Zwar wäre es nicht allein Europas Problem, wenn
sich das Recht des Stärkeren in den internationalen Beziehungen
durchsetzte. Aber um als Europäer oder als Nordamerikanerin in Jakarta,
New Delhi, Pretoria, Santiago de Chile, Brasilia oder Singapur
glaubwürdig zu sein und etwas zu erreichen, reicht es eben nicht,
gemeinsame Werte zu beschwören. Dafür braucht es eine ehrliche
Beschäftigung mit den Anliegen dieser Länder als Grundvoraussetzung für
gemeinsames Handeln.
Deshalb war es mir so wichtig, beim
G7-Treffen letzten Juni Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerikas
nicht nur mit am Verhandlungstisch zu haben, sondern auch gemeinsam
Lösungen für die Herausforderungen zu erarbeiten, die in diesen Regionen
im Fokus stehen: wachsende Armut und Hunger, auch als Konsequenz aus
Russlands Krieg, aber eben auch die Folgen von Klimawandel und
Coronapandemie.
Damit bin ich bei meiner siebten und letzten
These: Wenn die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts eine Ordnung sein
soll, die auf Recht basiert und die Unrecht ahndet, dann brauchen wir
neue Formen internationaler Solidarität und Mitsprache.
Das hat
auch die MSC erkannt, lieber Herr Heusgen, indem sie den Austausch mit
allen Ländern sucht, die unser Interesse an einer Welt teilen, in der
Macht an Regeln gebunden ist, die nicht revisionistisch ist. Dafür werbe
auch ich; daran arbeite auch ich. Ich bin froh, viele von Ihnen dabei
an meiner Seite zu wissen, und freue mich jetzt auf unsere Diskussion.
Foto: Bundesregierung/Denzel