Der ältere Herr tappt buchstäblich im Dunkeln. Der sehbehinderte Mann mit der leuchtend gelben Jacke und der markanten Armbinde, die ihn als Blinden ausweist, stochert hilflosmit seinem Stock über den Wochenmarkt. Da, wo er den Marktwagen mit seinem Lieblingsbrot vermutet, ist: Nichts und niemand. Denn der Wagen steht ganz woanders.
Den verzweifelten Mann zu
einem Brotstand zu geleiten erweist sich als eine Herausforderung. Normalerweise
würde man sich unterhaken und losmarschieren, aber in Zeiten von Corona? Doch
man lässt sich etwas einfallen. Die Besucherin geht vor und redet ohne
Unterlass, so dass sich der Blinde an sie heften kann als befände er sich auf
einer Fährte, um schließlich vor dem mobilen Bäcker zu stehen. So geht Hilfe!
Der Wochenmarkt scheint auf den Kopf gestellt. Die gewohnte Ordnung und Reihenfolge ist aufgelöst. Man hat dafür gesorgt, dass die Stände weit auseinander stehen. Die Kunden sollen sich möglichst nicht direkt begegnen und ihren Abstand von zwei Metern immer und überall aufrechterhalten können. Das Gebot der Stunde lautet: Abstand halten!
Man reibt sich die Augen. So
etwas hat es noch nie gegeben. Der Wochenmarkt hat sich räumlich ausgedehnt. Der
Prinzipalmarkt wurde zu einer Einkaufsmeile der anderen Art. Zwischen
Michaelisgasse und Lamberti Kirche stehen rechts und links der Straße die
Marktwagen und erwarten die Kunden. Das pfiffige und kreative Motto an diesem
Tag dürfte die Fortsetzung des Marktes in den kommenden Wochen sichern: „Sie
sind mit Abstand die Besten“ – ein wunderbares Lob verbunden mit einer klaren
Ansage. So geht kreative Kommunikation, die ankommt!
Dass dies alles möglich wurde, ist dem Verein der Marktbeschicker zu verdanken, die für die Fortsetzung ihres Marktes gekämpft und mit dem Ordnungsamt verhandelt haben. Vereinsvorsitzender Sebastian Bussmeyer – selber Martkbeschicker mit einem Fischhandel – hat noch immer rote Ohren vom vielen Telefonieren. „Ich habe Tag und Nacht telefoniert, damit das alles klappt“, stöhnt er und ist dabei auch ein bisschen stolz und glücklich. Denn es hat alles geklappt. Gefühlt hat er in diesen Tagen mehr als 100 Packungen Zigaretten geraucht.
Wenn er heute über den Markt
läuft, winken ihm die Kollegen zu und zeigen ihm deutlich, wie froh sie sind,
dass er und einige der Kollegen aus dem Verein das Krisenmanagement in die
Hände genommen haben. Und Sebastian Bussmeyer grüßt zufrieden zurück. Der
Zusammenhalt unter den Händler ist größer geworden. Daran haben die größeren
Zwischenraum und breiteren Gassen ganz offensichtlich nichts geändert. Einige
Stände findet man an gewohnter Stelle, andere haben neue Stammplätze eingenommen.
Schnell hat man die neue Ordnung durchschaut, schnell findet man seine
gewohnten Einkaufsmöglichkeiten.
Einige Händler bieten jetzt
auch einen eigenen komplikationslosen Bestellservice an. Eine Gruppe von
Marktbeschickern um Sebastian Bussmeyer offeriert einen kostenlosen
Lieferservice für all diejenigen, die sich in diesen Tagen nicht raus trauen –
oder nicht raus dürfen, weil sie in Quarantäne sind. Niemand braucht also auf
frischen Fisch, Käse und Fleisch zu verzichten. Ein Anruf genügt oder man ordert per Mail über die Homepage. Gebracht werden frische Fische, Räucherfisch, Salate und Muscheln von Fischspezialitäten Bussmeyer, frisches Fleisch und Wurst von der Fleischerei Hof Bernd Holstiege, Wild, Lamm und Geflügel von Frank Steinhoff und Käsespezialitäten von Ralf Kürten.
Die einen machen den Service ab einem Bestellwert von 30 Euro möglich, andere wie der Metzger und Fleischsommelier Andreas Madl bietet diesen Service schon ab 25 Euro Bestellwert an. Andere werden nachziehen und sich ebenfalls etwas einfallen lassen. In der Stadt etabliert sich gerade ein Dienst unter dem Namen „Münster bringt’s“. Auch dort kann man sich über die Homepage informieren und zu den einzelnen Händler Kontakt aufnehmen. Das Angebot wächst beinahe stündlich. Super. In der Krise werden die Menschen erfinderisch und kreativ. Denn das Leben geht weiter, gottseidank!
Noch müssen sich die Kunden
auf die neue Ordnung und die damit verbundene Etikette einstellen. Längst
stehen die allermeisten mit gebührendem Abstand vor den Ständen an, um sich
dann der Reihe nach Bedienen zu lassen. Einige haben ihre Waren mit Flatterband gesichert, denn an jedem Stand und in jeder Auslage steht der Hinweise: Die
Finger von den Waren zu lassen. Selbstbedienung ist out. Sicherheit geht vor.
Das betrifft auch den Umgang mit Geld. Die einen Händler haben das Kassieren
delegiert, andere tragen Gummihandschuhe und einige reichen ein Schälchen oder
einen kleinen Karton. So muss niemand mit etwaig belastetem Geld in Berührung
kommen: Safety First.
Der Betrieb auf dem Markt ist auffallend und wohltuend entschleunigt. Aber Achtung: Schon macht sich auch typisch deutsche Blockwart-Mentalität bemerkbar. Da wird glatt der Zollstock gezückt, um die Abstandsregel durchzusetzen. „Bitte, halten Sie ihren Abstand ein. Danke!“, knurrt ein älterer Herr mit zornigem Unterton durch seinen aufgeblähten Mundschutz und macht glaubhaft, dass er im Zweifel auch seine Faust einsetzen wird. Ganz virtuell und virenfrei selbstverständlich.