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Geben wir acht aufeinander!

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Corona-Epidemie am 26. März 2020 in Berlin


Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Abstand halten – von Menschen, die wir lieben, und Orten, die uns wichtig sind. Seit dieser Woche ist das nicht mehr nur eine Empfehlung, es ist das Gebot der Stunde. Doch was bedeutet das? Was bedeutet das, wenn wir wissen: Diese Stunde dauert keine 60 Minuten. Sie dauert womöglich Wochen.

Es bedeutet verzichten. Darauf, die Eltern und Großeltern zu sehen, sich mit Freunden zu treffen, mit ihnen essen zu gehen, zu feiern oder einfach auch nur, nach einem langen Winter gemeinsam in der Sonne zu sitzen. Darauf zu verzichten, das fällt uns allen schwer, auch mir.

Doch nur der Verzicht verhindert, dass wir dauerhaft verlieren, was wir lieben. Die überwältigende Mehrheit in unserem Lande hat das verstanden und handelt danach. Dafür danke ich Ihnen.

Wir spüren miteinander: Unser Einstehen füreinander, unsere Solidarität ist jetzt existenziell wichtig. Aber was heißt das konkret?

Solidarität heißt jetzt: physisch Abstand halten – und einander doch näher sein als je zuvor. Solidarität heißt erkennen: Ja, für uns alle steht der Alltag auf dem Kopf – und doch gibt es die, die besonders hart getroffen sind: Der Taxifahrer oder die Musikerin, denen von einem auf den anderen Tag die Einnahmen wegbrechen; genauso den Kneipenbesitzer und Restaurantbetreiber. Die Alleinerziehende und ihre Tochter, die auf einmal daheim, ohne großes Haus, ohne eigenen Garten sind. Und vor allem sie: die Alten, die Kranken, die besonders gefährdet sind und ausgerechnet jetzt besonders allein sind.

Ich sehe und höre: Viele, sehr viele von Ihnen helfen jetzt; gehen für ihre älteren Nachbarn einkaufen; hängen Tüten mit Lebensmitteln für Obdachlose an "Gabenzäune"; und über 40.000 von Ihnen haben am Wochenende virtuell die Köpfe zusammengesteckt und Hunderte kreative Lösungen für die Sorgen und Nöte dieser Krisenzeit entwickelt.

Sie alle, Sie sind die Heldinnen und Helden in der Corona-Krise. Einige von Ihnen habe ich in dieser Woche am Telefon gesprochen: die Filialleiterin zum Beispiel im Supermarkt, die mit ihrem Team Zwölf-Stunden-Schichten schiebt, damit die Regale nicht leer bleiben. Oder die Grundschullehrerin, die auf dem Dachboden Lernvideos für ihre Schülerinnen und Schüler dreht. Die Sozialarbeiterin, die eine Telefonkette für Menschen organisiert, die sich einsam fühlen. Und der Arzt, die Pflegerin, die Apothekerin, die jenseits der Erschöpfung ihren lebensrettenden Beruf verrichten.

Solidarität heißt auch das: Unser Blick muss weiter reichen als bis zum nächsten Grenzzaun. Uns allen zerreißt es doch das Herz, wenn wir die Bilder aus Italien sehen. Wie gut, dass Krankenhäuser bei uns in Deutschland jetzt auch schwerkranke italienische und französische Patienten behandeln. Ich wünsche mir mehr solche konkrete Solidarität im europäischen Geist.

Nein, das Virus hat keine Staatsangehörigkeit, und das Leid macht nicht vor Grenzen halt. Aber ebenso wenig sollten wir es tun! Weltweit vernetzt arbeiten Forscherinnen und Forscher zusammen, um Impfstoff, Therapien und Gegenstrategien zu entwickeln. Und je besser Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten, desto schneller wird das gelingen.

Nein, unsere Zukunft liegt nicht in Abschottung voneinander, sondern in geteiltem Wissen. So kann aus einem geteilten Leid eine gemeinsame Zukunft werden. Also: Lernen wir voneinander! Bündeln wir weltweit alles Wissen und alle Erfahrung, alle Kreativität und Energie! Das ist mein Appell. Darein setze ich meine Hoffnung.

Alles Gute, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und geben wir acht aufeinander!