Kommentar von Friedrich Roeingh zur Coronakrise
Mainz - (ots) - Nein, wir haben noch keinen Beleg dafür, dass die einschneidenden Maßnahmen die Verbreitung des Coronavirus abgeflacht haben. Ja, die Bewährungsprobe steht uns erst noch bevor, wenn auch in Deutschland die medizinische Infrastruktur an ihre Grenzen stoßen sollte. Und doch müssen wir schon jetzt damit beginnen, uns Gedanken über den Weg zurück zu machen.
Das Primat der Gesundheit war notwendig, um so etwas
Unvorstellbares wie den aktuellen Shutdown durchzusetzen. Notwendig, um
die Einsicht der ganzen Gesellschaft darin zu erreichen, was auf dem
Spiel steht. Die Unwirklichkeit dieses Shutdowns hat aber auch das
Verständnis dafür geweckt, was neben unserer Gesundheit noch auf dem
Spiel steht. Die Wirtschaft, unsere Arbeit, unser soziales Leben, die
Psyche jedes Einzelnen. Pandemien sind Ereignisse, die um den Erdball
kreisen.
Und die Corona-Pandemie wird bis zur Entwicklung eines
Impfstoffes weltweit immer wieder neu aufflammen.
Das ist kein Grund, in Fatalismus zu verfallen - so schwer die Opfer
auch sein mögen. Es ist erst recht ein Grund zu erkennen, dass wir uns
nicht allein auf die Bekämpfung der Pandemie konzentrieren dürfen. Denn
die Corona-Moral - Geld oder Leben - verkürzt die Debatte auf
gefährliche Weise.
Wenn die Folgen des jetzigen Stillstands allein in
Deutschland im Laufe von drei Monaten 500 Milliarden Euro verschlingen
werden, wird klar, dass wir diesen Zustand nicht ein oder gar eineinhalb
Jahre aufrecht erhalten können. Zumal der Niedergang der Wirtschaft
nicht nur Erwerbs-Existenzen vernichtet. Er würde Stück für Stück unsere
sozialen Verbindungen auffressen. Er würde unsere Bildungsziele
gefährden. Und er würde ebenso Menschenleben kosten wie das Virus
selbst: Die Leben psychisch labiler Menschen. Die Leben armer Menschen -
im Süden Europas stärker als im Norden. Im Besonderen in vielen
Schwellenländern, in denen schon eine normale Rezession für die Ärmsten
der Armen ein Todesurteil sein kann.
Wer sich diese Folgen vor Augen führt, versteht, dass wir eine
Exit-Strategie entwickeln müssen - auch wenn noch keine Impfung gegen
das Coronavirus in Sicht ist. An diese Exit-Strategie müssen wir uns
genauso ernsthaft heranmachen, wie wir uns an die Beschränkungen unserer
Freiheit heranmachen mussten.
Die schrittweise Wiederaufnahme des
Bildungsbetriebs in Kitas, Schulen und Universitäten hat Vorrang vor
Volksfesten und Jahrmärkten. Das Hochfahren der industriellen Produktion
hat Vorrang vor der Rückkehr der Spaßkultur. Die Eröffnung von
Restaurants, Kulturzentren und Sportstätten - vielleicht mit halber
Besetzung - haben Vorrang vor der Wiederaufnahme von Kreuzfahrten.
Und
die Risikogruppen der Hochbetagten und Vorerkrankten werden sich länger
auf den Rückzug in die schützende Isolation begeben müssen als die
Jüngeren, die dafür noch lange Zeit das Abstandsgebot verfolgen müssen.
Das Verständnis für eine solche schrittweise Rückkehr noch bevor die gesundheitliche Krise ausgestanden ist, ist bei den Bürgern ausgeprägter als die Debatte darüber. Was nicht heißt, dass es ein Patentrezept gäbe. Wer jetzt politische Verantwortung trägt, trägt die Last der Welt auf seinen Schultern. Die Politik muss nun dringend nicht mehr nur den Austausch mit den besten Virologen suchen. Sie muss sich über den Weg zurück auch mit den besten Experten anderer Disziplinen austauschen - der Wirtschaft, der Bildung, der Soziologie und des Rechts. Es geht jetzt um fast alles.