Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger der Ukraine!
Sehr geehrter Präsident Selensky, lieber Wolodymyr!
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Keupen!
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Linden, lieber Jürgen!
Sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, liebe Ursula!
Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Mateusz!
Meine Damen und Herren!
„Prezydent
tut. Vsi my tut.” Das waren die Worte, sehr geehrter Herr Präsident,
lieber Wolodymyr, die du in einer der ersten Videobotschaften nach
Russlands Überfall an das ukrainische Volk gerichtet hast: „Der
Präsident ist hier. Wir alle sind hier.“ Am frühen Morgen des 25.
Februar 2022 war das. Gemeinsam mit den engsten Mitstreitern standst du
mitten im Zentrum von Kiew und fügtest hinzu: „Wir alle verteidigen
unsere Unabhängigkeit, und genau so wird es bleiben.“
Wohl selten
in der Geschichte hatten so knappe Worte so große Wirkung.
Augenblicklich war klar: Das ukrainische Volk wird nicht weichen vor
Russlands Gewalt. Das ukrainische Volk wird widerstehen. Und überhaupt
nur deshalb können wir heute gemeinsam hier in Aachen sein. Europa hat
dem ukrainischen Volk und ganz persönlich dem Präsidenten Wolodymyr
Selensky sehr viel zu verdanken.
Als die Gründer des Karlspreises
1950 die Idee zu diesem europäischen Preis hatten, da lagen große Teile
Deutschlands und Europas noch immer in Trümmern. Das Grauen von zwei
Weltkriegen, das Menschheitsverbrechen der Schoah, tiefe Krisen, Not und
Hunger - das alles war noch ganz nah. Ein in Frieden und Freiheit
vereintes Europa - das war eine ferne Vision. Und doch nahm der Traum
der Väter und Mütter des Karlspreises Gestalt an, von Jahr zu Jahr ein
bisschen mehr.
Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger
liest sich wie das Who’s who der europäischen Integration. Sie reicht
von Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman und Simone Veil bis zu
Václav Havel und Bronisław Geremek - Männer und Frauen, die mit Mut und
Weitsicht vorantrieben, was uns Jüngeren dann immer selbstverständlicher
vorkam: den friedlichen Aufbau Europas, der den Wohlstand und das
Wohlergehen unserer Völker überhaupt möglich macht.
Aber heute
tobt wieder ein grausamer Angriffskrieg, Russlands grausamer
Angriffskrieg – ein Krieg, der für die Bürgerinnen und Bürger der
Ukraine Schmerz, Not und Opfer bringt, wie wir uns das kaum mehr
vorstellen konnten, ein Krieg, der sich gegen alles richtet, wofür
Europa heute steht, aber auch ein Krieg, der für die Ukraine, für die
Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten glasklar aufzeigt: Wir stehen
zusammen. Wir gehören zusammen. Und unsere Geschichte wird gemeinsam
weitergehen.
Erstmals überhaupt wird der Karlspreis in diesem
Jahr an einen Präsidenten und an sein Volk verliehen. Das ist, wie ich
finde, eine außerordentlich kluge Entscheidung. Denn das ukrainische
Volk und du, lieber Wolodymyr, leisten gemeinsam seit dem 24. Februar
2022 Unermessliches.
Mit allergrößter Tapferkeit verteidigt ihr
euer Land gegen Russlands brutale Aggression. Mit ungeheurer Kraft
trotzen alle Tag für Tag den russischen Invasoren. Russlands
Angriffskrieg hat die Europäische Union und die Ukraine so eng
zusammengebracht wie nie zuvor. Geschlossen und solidarisch stehen wir
an der Seite der Ukraine.
Deutschland hat mehr als eine Million
ukrainische Bürgerinnen und Bürger aufgenommen. Polen hat zeitweilig
sogar 1,5 Millionen und Tschechien über 500 000 aufgenommen. Die Zahl
der deutsch-ukrainischen Städtepartnerschaften hat sich während des
Krieges verdoppelt, auf heute über 140. Europaweit hat der Krieg eine
klare Einsicht gefestigt: Die Ukraine ist Teil unserer europäischen
Familie.
Das haben Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron,
Italiens damaliger Premierminister Mario Draghi, Rumäniens Präsident
Klaus Johannis und ich vor einem Jahr gemeinsam in Kiew betont, und zu
dieser Aussage stehen wir alle. Russen und Ukrainer sind eben nicht „ein
Volk“, wie es Präsident Putin in seiner imperialistischen und
kolonialistischen Verblendung behauptet. Die ukrainische Nation hat ihre
eigene lange Geschichte, ihre in sich unglaublich vielfältige eigene
Kultur, ihre eigenen Traditionen, ihre eigene Identität.
Schon
seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion pocht die unabhängige Ukraine auf
ihre Freiheit, über den eigenen Weg selbst zu entscheiden. Und die
Ukraine hat ihre Entscheidung getroffen - für Europa.
Lieber
Wolodymyr Selensky, auf dem Weg in die Europäische Union hat die Ukraine
unsere volle Unterstützung. Als Europäerinnen und Europäer wissen wir,
welche Kraft dem demokratischen Willen des Volkes innewohnt. Ich denke
an die Solidarność in Polen, lieber Mateusz Morawiecki. Ich denke an die
Öffnung der Berliner Mauer 1989, erzwungen von mutigen Bürgerinnen und
Bürgern der DDR, an die Vereinigung Deutschlands und Europas in den
Jahren darauf. Und ich denke natürlich an die Orange Revolution in der
Ukraine 2004 und an die Winternächte des Euromaidan Ende 2013, Anfang
2014. In dieser „Revolution der Würde“ wurden die blau-gelbe Fahne der
Ukraine und das blau-gelbe Sternenbanner der EU zu Symbolen für die
Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung der Ukraine.
Alle diese
Volksbewegungen bringen den starken Willen der Bürgerinnen und Bürger
zum Ausdruck, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Russlands Angriffskrieg
hat nicht nur die Entschlossenheit der Ukraine als politische Nation
gestärkt. Er hat die Entscheidung der Ukrainerinnen und Ukrainer, eine
europäische demokratische Nation zu sein, unumkehrbar gemacht.
Falls
Wladimir Putin geglaubt hat, er könnte die ukrainische Nation mit
Gewalt von ihrem Weg nach Europa abbringen, dann hat er mit all seinen
Panzern, seinen Drohnen und Raketenwerfern nichts als das Gegenteil
bewirkt.
Die Europäische Union steht für das friedliche
Zusammenleben der Völker Europas, für das politische und wirtschaftliche
Miteinander ihrer Mitgliedstaaten, für die Schönheit kultureller und
linguistischer Vielfalt.
Die Europäische Union steht für Freiheit
und Demokratie, für den Rechtsstaat und den Schutz der Menschenrechte
und ganz besonders für die friedliche Aussöhnung früherer Feinde. Das
ist gerade mir als deutschem Bundeskanzler sehr bewusst. Und das macht
uns Europäer und Europäerinnen aus. Deshalb haben wir jeden Tag darauf
zu achten, dass wir die Werte von Freiheit, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit auch innerhalb der EU schützen und bewahren.
Dieses
Streben nach Demokratie, nach Freiheit, nach Rechtsstaatlichkeit und
nach Europa teilt auch das ukrainische Volk, lieber Wolodymyr. „Sluha
narodu“ - „Diener des Volkes“: Mit diesem Anspruch bist du als Präsident
der Ukraine angetreten. - Genau das bist du heute, wenn es darum geht,
stellvertretend für das Volk den Karlspreis entgegenzunehmen.
Der
Freiheitswille und die Widerstandskraft in dunkler Zeit spenden
Hoffnung und Inspiration weit über die Ukraine hinaus. An der Spitze des
gesamten ukrainischen Volkes verteidigst du die Werte, für die Europa
steht. Die Ukraine kann sich dabei auf unsere volle Unterstützung
verlassen, humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen, aber vor allem: auf
Dauer.
1986 war das luxemburgische Volk das erste, das mit dem
Karlspreis ausgezeichnet wurde. Der Text auf der Medaille lautete: „Das
Volk Luxemburgs, Vorbild und Beharrlichkeit auf dem Weg zur Einheit
Europas.“ Dieser Satz gilt heute ganz genauso für das Volk der Ukraine.
Deshalb markiert die heutige Verleihung des Karlspreises keinen
Endpunkt, sondern einen neuen Auftakt – den Auftakt für unser weiteres
Zusammenwachsen in Europa, gemeinsam mit der Ukraine, mit den Staaten
des westlichen Balkans, mit Moldau und perspektivisch auch mit Georgien.
Angesichts der Zeitenwende, die Russland mit seinem Angriffskrieg
verursacht hat, ist unsere Botschaft klar: Europa steht geschlossen und
geeint.
Der Karlspreis als europäischer Bürgerpreis bedeutet die
tiefe Verneigung unserer freiheitlichen Gesellschaften vor der
Tapferkeit und Entschlossenheit des ukrainischen Volkes und seines
Präsidenten.
Ukrayina tut. A Ukrayina - tse Yevropa. - Die Ukraine ist hier. Und die Ukraine ist Europa.
Herzlichen Glückwunsch und Slava Ukraini!
Die Bundesregierung
Foto: Bundesregierung/Denzel