Nach der ersten Runde der Präsidentenwahl steuert die Türkei auf die
erste Stichwahl in ihrer Geschichte zu.
Nachdem in der Nacht zum Montag
fast alle Stimmen ausgezählt waren, erreichten laut staatlicher
Nachrichtenagentur Anadolu weder der islamisch-konservative Amtsinhaber
Recep Tayyip Erdogan noch sein säkularer Herausforderer Kemal Kilicdaroglu die nötige Mehrheit von mehr als 50 Prozent. Sie dürften
damit am 28. Mai in einer zweiten Runde gegeneinander antreten.
Aus Deutschland gab es Kritik an einem unfairen Wahlkampf sowie Hinweise auf Wahlmanipulation.
Rund 64 Millionen Menschen waren am Sonntag in der Türkei aufgerufen, bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl ihre Stimme abzugeben - die Wahlbeteiligung lag vorläufigen Angaben zufolge bei 90 Prozent. Die endgültigen Ergebnisse der Wahl standen am Montagmittag noch aus.
Nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Wahlzettel lag laut Anadolu Erdogan mit 49,4 Prozent der Stimmen vor Kilicdaroglu, der demnach 44,95 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Zu Beginn der Auswertung hatte Erdogan den Angaben zufolge noch bei 54,3 Prozent gelegen. Offensichtlich waren anfangs aber vor allem Stimmen aus Hochburgen des islamisch-konservativen Präsidenten ausgezählt worden. Erdogan reklamierte zudem eine klare Mehrheit für seine islamisch-konservative AKP und ihre Bündnispartner bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl.
Während der Auszählung hatte es unterschiedliche Angaben aus verschiedenen Quellen gegeben. So lagen dem oppositionsnahen Nachrichtenportals Anka zufolge Erdogan und Kilicdaroglu nach Teilauszählungen fast gleichauf - und beide unterhalb von 50 Prozent.
In den Umfragen hatte Kilicdaroglu vor der Wahl zwei bis zehn Prozentpunkte vor Erdogan gelegen. Oppositionelle hatten vor Wahlmanipulation gewarnt und einen unfairen Wahlkampf angeprangert, bei dem die Regierung die Medien und die finanziellen Mittel kontrollierte und der Opposition kaum Sendezeit eingeräumt wurde.
Für Kilicdaroglu und sein Oppositionsbündnis aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien, die zuvor versichert hatten, die Wahl bereits "in der ersten Runde" für sich zu entscheiden, könnten angesichts des Erdogan-Vorsprungs nun zwei schwierige Wochen bis zur Stichwahl bevorstehen.
Dennoch gab sich Kilicdaroglu siegesgewiss: "Wenn unsere Nation eine zweite Runde will, dann werden wir die zweite Runde unbedingt gewinnen", sagte er in der Nacht zum Montag. Tatsächlich hätten in der Türkei mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den "Willen zur Veränderung".
Amtsinhaber Erdogan verwies nach der Wahl vor Anhängern in Ankara auf seine "klare Führung", zeigte sich aber ebenfalls bereit zur Stichwahl. Auf dem Balkon der Parteizentrale der AKP verkündete er in der Nacht: "Wir wissen noch nicht, ob die Wahl in der ersten Runde zu Ende sein wird, aber wenn die Menschen uns in eine zweite Runde schicken, werden wir das auch respektieren."
Der dritte Kandidat um die Präsidentschaft, Sinan Ogan, kam Anadolu wie dem oppositionsnahen Nachrichtenportal Anka zufolge auf etwa fünf Prozent der Stimmen. "Im Falle einer Stichwahl werden wir schwierige 14 Tage vor uns haben", sagte Ogan am Wahlabend ohne einen Hinweis darauf, für welchen Kandidaten er im Fall einer Stichwahl eine Empfehlung aussprechen würde. Allerdings steht der Rechtsnationalist Erdogan politisch näher als dessen Herausforderer.
Aus Deutschland kam am Montag Kritik an der Wahl. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) betonte, dass es im Wahlkampf keine fairen Bedingungen für die Opposition gegeben habe. "Fairness heißt auch, dass man Zugang hat zu den Medien. Davon konnte keine Rede sein", sagte Özdemir im Bayerischen Rundfunk am Montag. Ein Teil der Oppositionspolitiker und Journalisten sei im Gefängnis oder im Exil.
Nach Angaben der Linken-Chefin Janine Wissler gab es im Vorfeld der Wahl Verhaftungen und Einschüchterung. Zudem seien Wahlbeobachter aus Deutschland teils an ihrem Einsatz in der Türkei gehindert worden, wie Wissler der Nachrichtenagentur AFP sagte. Beobachter einer Delegation der Linken seien durch bewaffnete Polizisten am Betreten von Wahlbüros gehindert worden.
Die türkische Wahlkommission hatte vorab versichert, für eine faire Wahl zu sorgen. Die Opposition und unabhängige NGOs hatten erklärt, hunderttausende Wahlbeobachter zu stellen; auch rund 400 Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verfolgten die Wahl. Der Abschlussbericht der OSZE wurde für den Nachmittag erwartet.
kbh/ju Remy Banet / © Agence France-Presse