Der griechische Dichter Äsop, der im 6. Jahrhundert vorchristlicher Zeit lebte, wirft mit seiner tradierten Fabel von der Heuschrecke und den Ameisen einen Aspekt auf, der besonders heute während der Coronakrise wichtig ist: Systemrelevanz. Die Ameisen haben den ganzen Sommer lang gearbeitet, indem sie Futter herbeischafften, die Heuschrecke hingegen hatte nur gesungen und getanzt. Im Winter sind die Ameisen versorgt und die Heuschrecke muss sich vorwerfen lassen, ihre Zeit verschwendet zu haben.
In der antiken Version scheint die Fabel kein gutes Ende für die Heuschrecke zu nehmen. Die Ameisen verweigern sich der Mithilfe. Die Heuschrecke stirbt, weil sie nicht systemrelevant ist.
Walt Disney hatte 1934 eine fröhlichere Vision: bei ihm leidet die Heuschrecke im Winter auch, aber ihre Geigenkünste kann die Ameisenkönigin davon überzeugen, dass die Musik im Ameisenbau von Nutzen sein kann, während sie im Sommer eher als störend wahrgenommen wurde. Als Unterhalter ist der Musiker plötzlich systemrelavant und darf leben.
1967 betont der amerikanische Autor Leo Lionni in seinem Bilderbuch "Frederick" diesen Aspekt. Ihm ist das System so wichtig, dass er die Unterteilung in Ameise und Heuschrecke gleich vollständig weglässt und es bei ihm nur um die Gesellschaft der Feldmäuse geht. Bei ihnen ist der Faulpelz kein Fremder, keine andere Spezies, sondern einer von ihnen, Frederick. Während sie Futter beschaffen, tut er vermeintlich gar nichts. Er musiziert nicht einmal, so wie es die Heuschrecke tat.
Doch wenn der Winter kommt, dient Frederick, anders als Disneys Grashüpfer, nicht nur als Musiker oder als Dichter, in unterhaltendem Sinn. Die Vorräte der Mäuse sind knapp geworden und Fredericks Fähigkeiten muntern die Gesellschaft auf.
Er ist somit kein Unterhalter, sondern trägt aktiv zum Überwintern der Feldmäuse bei. Fredericks augenscheinliches Nichtstun im Sommer wird retrospektiv genauso systemrelevant, wie seine Erzählungen im Sommer. Er muss dafür nicht einmal ein Instrument spielen können, es reicht die Fantasie.
Heute, bedroht uns nicht der Winter, sondern die Coronakrise.
Anders als bei Äsops Fabel und Lionnis Adaption ist auch die Tatsache, dass diejenigen, die im Sommer hart gearbeitet haben, sich jetzt nicht ausruhen können, sondern sogar noch schwerer dran sind. Dies gilt besonders für Frauen, die dafür sogar immer noch weniger Geld bekommen als Männer.
Besonders im Einzelhandel und in den Krankenhäusern gibt es zur Zeit kein Überwintern, sondern nur ein Überarbeiten. Schnell hieß es von Seiten der Regierung #Flattenthecurve und #Bleibtzuhause. Diese Bitte und moralische Forderung für das Wohl aller, aber besonders der Risikogruppen social distancing zu betreiben, ist an den Teil der Gesellschaft gerichtet, der nicht mehr arbeiten muss oder gar darf.
Frederick konnte sich auf den Winter vorbereiten, die Heuschrecke hat ihn einfach ignoriert. Da aber COVID-19 nicht wie eine kalkulierbare Jahreszeit daherkommt, trifft das Virus die Mehrheit der Gesellschaft unvorbereitet. Viele konnten keine Sonnenstrahlen aufsammeln und nun abgeben, daher klatschen sie jetzt dem Krankenhauspersonal vom Fenster aus zu. Aus der Heuschrecke mit Geige wird Balkonmusik.
Vielen Menschen, die Überstunden im Krankenhaus machen, reicht das nicht. Erst recht nicht, wenn sie vom Fenster aus glückliche Menschen im Park grillen sehen. Das ist verständlich. Doch was soll man tun?
Die Debatte über Systemrelevanz ist fehlgeleitet. Wir können nicht alle Virologinnen, Krankenpflegerinnen oder Ärztinnen sein. Deshalb heißt es für diejenigen, die jetzt im Homeoffice arbeiten, anzuerkennen, dass sie gerade wichtig sind, indem sie ihre Ohnmacht anerkennen. Für sie ist jetzt Sommer. Während Frederick Sonnenstrahlen sammelte, bleiben sie zu Hause. Sie singen, sie tanzen. Sie gehen nur noch einkaufen, wenn es nötig ist.
Die größte Solidarität mit denen, die jetzt härter arbeiten müssen und systemrelevanter erscheinen denn je, ist nicht nur, dass man sich und andere vor Corona schützt, sondern sich komplett zurückzuhalten. In den USA, wo es keine gesetzliche Krankenversicherung gibt und durch die drohende Niederlage in den Vorwahlen von Bernie Sanders auch vorerst nicht geben wird, gilt das grausame und zynische Kredo des Nichtkrankwerdens. Dieses muss es jetzt auch bei uns geben. Nicht, weil wie in den USA der finanzielle Bankrott droht, sondern eine Überfüllung der Krankenhäuser.
Aus #Flattenthecurve wird so auch eine Vermeidung der Triage, wie sie in Italien durch eine Überforderung ungeahnten Ausmaßes nun durch Ärztinnen zum Einsatz kommt. Denn dadurch, dass man jetzt nicht schnell Autofährt, den Ast absägt, auf die alte Leiter steigt, schützt man nicht nur sich, sondern auch das Krankenhauspersonal. Mein gebrochener Arm, den ich mir unnötiger Weise bei der Gartenarbeit zugezogen habe, soll keine Zeit im Krankenhaus in Anspruch nehmen müssen. Ich will kein Atemgerät in Anspruch nehmen müssen, was einer 84-jährigen Frau das Leben retten könnte, weil ich beim Rasen einen Unfall hatte, der meine Lunge beschädigte.
Ich werde systemrelevant, indem ich gerade so aussehe, als würde ich gar nichts tun. Nicht einmal vom Balkon aus klatschen.