Vor dem 1000. Länderspiel heute (ab 18 Uhr, live im ZDF) gegen die Ukraine in Bremen spricht der 26 Jahre alte Defesivspieler mit DFB.de über den Titelgewinn mit West Ham United, das Benefizspiel in Bremen und die Heim-EM 2024.
DFB.de: Herr Kehrer, Sie haben mit West Ham United gerade nicht nur einen Titel für die Ewigkeit gewonnen, sondern vor allem auch einen Titel nach einer Ewigkeit. Den ersten europäischen Titel seit 58 Jahren, im ersten europäischen Finale seit 47 Jahren und den ersten Titel überhaupt für West Ham seit 43 Jahren. War Ihnen das vor dem Finale in der UEFA Conference League bewusst?
Thilo Kehrer: Auf jeden Fall. Es wurde in den Tagen vor dem Finale sehr viel darüber gesprochen, in den Medien, im Verein, unter den Fans. Bei unserem Training war mehr los, wenn ich mit dem Auto zum Trainingsgelände gefahren bin, haben die Menschen auf der Straße uns zugejubelt und gerufen: "Bringt den Pokal nach Hause." Man hat gemerkt, wie viel ihnen das alles bedeutet.
DFB.de: Ein weiteres Mal haben Sie diese überragende Bedeutung für den Klub und seine Fans dann so richtig nach Abpfiff gespürt, oder?
Kehrer: Es waren nicht nur sehr viele Fans beim Endspiel in Prag, sondern viele Klubmitarbeiter, die normalerweise überhaupt nicht mit der Mannschaft reisen. Die Unterstützung war riesig. Und nach Abpfiff war nur noch Ekstase. Da hat niemand mehr nachgedacht. Einfach Jubel und komplette Euphorie.
DFB.de: Den acht Klubtiteln von West Ham stehen Ihre mehr als zehn persönlichen Titelgewinne gegenüber. Welchen Stellenwert nimmt in Ihrer beeindruckenden Sammlung, die unter anderem aus drei französischen Meisterschaften, zwei französischen Pokalsiegen und vor allem einer U 21-Europameisterschaft besteht, dieser erste Europacup-Titel ein?
Kehrer: Das ist mit einer der schönsten Titel. Gerade auch, weil ich ihn mit West Ham geholt habe und dieser Verein ewig kein Endspiel gewinnen konnte. Mit diesem Verein einen Titel zu gewinnen, ist echt speziell. Dieser Klub hat eine große Fangemeinde, und der bedeutet dieser Titel alles. Das hat man auch auf der Parade gespürt, als wir mit dem Bus durch East London gefahren sind. Das war schon extrem.
DFB.de: Können Sie nach dem Empfang am vergangenen Donnerstag eigentlich noch Seifenblasen sehen?
Kehrer: Ja, klar, die gehören in West Ham einfach dazu. (lacht) Das alles fühlt sich aber jetzt erst real an, mit ein bisschen Abstand. Mehr zu greifen. In dem Moment selbst spürt man pure Emotion und Freude, und jetzt begreift man erst, wie schön, wie einzigartig das war.
DFB.de: Sie haben sich bei der Feier als einer der Einpeitscher hervorgetan. Fühlen Sie sich auch in dieser Rolle wohl?
Kehrer: Überwinden muss ich mich dazu nicht. Dabei fühle ich mich schon ganz wohl. Ich bin generell eher der ruhigere Typ, der nicht so viel redet. Aber innerhalb der Mannschaft, in der Kabine oder auf dem Platz rede ich schon über das, was ich sehe, und versuche auch so, der Mannschaft zu helfen. Auf so einer Parade ist es einfach cool, mit den Fans zu interagieren und zusammen zu feiern.
DFB.de: Sie haben den Sieg mit Deutschland-Fahne um die Schultern gefeiert. Hatten Sie die für den Fall der Fälle schon im Gepäck?
Kehrer: Nein, die habe ich im Stadion bekommen. Von einigen deutschen Fans, die dabei waren, die West Ham und mich unterstützt haben.
DFB.de: Haben Sie mit angezogener Handbremse feiern müssen, weil Sie am Freitag zur Nationalmannschaft angereist sind?
Kehrer: In dieser Saison mit West Ham haben wir als Mannschaft auch schwierige Phasen durchgemacht. Die Ergebnisse haben nicht immer gestimmt, es sind viele neue Spieler gekommen, die sich erst mal finden mussten. Und dann den Titel zu holen, da sind die Emotionen einfach aus einem rausgekommen. Da kann man sich gar nicht bremsen. Ich habe die Party einfach nur genossen. Und mich auf die Nationalmannschaft gefreut. Ich bin einer, der weiß, wie man feiert und wie man genießt, ohne es gleich zu übertreiben.
DFB.de: Was ist das für ein Gefühl, hier als Europapokalsieger anzureisen?
Kehrer: Erst mal ist es immer schön, hier zur Nationalmannschaft anzureisen und die Jungs zu sehen. Auch das Team hinter dem Team. Wir verstehen uns alle sehr gut. Und zwischen den Länderspielen liegen meistens ein paar Monate, deshalb macht es immer Spaß, die bekannten Gesichter wiederzusehen und sich auszutauschen. Natürlich ist es noch ein bisschen besser, mit einem Titelgewinn anzureisen, der erst ein paar Tage her ist.
DFB.de: Wie haben Ihre Nationalmannschaftskollegen Ihnen gratuliert?
Kehrer: Viele Umarmungen, viele Glückwunsche, alle haben sich gefreut. Das fühlt sich gut an.
DFB.de: Müssen Sie jetzt einen ausgeben?
Kehrer: Darüber wurde schon gescherzt. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür. Ich kann einen ausgeben, wenn wir nächstes Jahr eine erfolgreiche EM gespielt haben.
DFB.de: Ihre Siegesparade mit West Ham startete in London an der "Champions Statue" an der Barking Road, errichtet für die englischen Weltmeister von 1966. Die deutsche Nationalmannschaft feiert heute als erster europäischer Verband nach dem englischen das 1000. Länderspiel. Was bedeutet es Ihnen, Teil dieses Jubiläums zu sein?
Kehrer: Es ist eine Ehre, ein Privileg für Deutschland spielen zu dürfen. Jedes Mal. Darauf bin ich stolz und weiß, wie viel Arbeit dahintersteckt, wie hart wir alle uns das verdienen mussten. Jetzt Teil dieser besonderen, großen Geschichte des Verbandes und der Nationalmannschaft zu sein, ist noch mal besonders. Ich hoffe, dass wir gegen die Ukraine auch ein gutes Spiel machen werden und mit den Fans zusammen das Jubiläum feiern können.
DFB.de: Wenn Sie zurückdenken an die Länderspiele, die Sie gesehen, erlebt, gespielt haben: Welches kommt Ihnen auf Anhieb in den Sinn?
Kehrer: Ich erinnere mich an das Finale der WM 2002, das war das erste Spiel, das ich bewusst im Fernsehen gesehen habe. Dann natürlich die WM 2006, damals bin ich zur Schule gegangen, mit meinen Freunden habe ich viele Public Viewings in der Stadt besucht, das Eröffnungsspiel zu Hause mit meiner Familie gesehen. Auch an die WM 2014 denke ich natürlich. Das sind sehr viele, sehr schöne Erinnerungen.
DFB.de: Und an welche Spieler denken Sie sofort?
Kehrer: Oliver Kahn, Michael Ballack, dann natürlich die ganze Ära um Manuel Neuer, Thomas Müller, Mesut Özil, Schweini, Poldi, Philipp Lahm, Toni Kroos, Miro Klose.
DFB.de: Sie könnten nicht nur Teil des 1000. Länderspiels sein, sondern auch der Europameisterschaft in Deutschland im kommenden Jahr. Sie leben jetzt seit fünf Jahren im Ausland, wie sehr freuen Sie sich auf die Heim-EM?
Kehrer: Extrem, extrem. Ein Turnier im Heimatland ist unfassbar groß. Unfassbar spannend als ganzes Event. Ich habe die Szenen von der WM 2006 noch im Kopf. Welche Euphorie diese WM ausgelöst hat, das ganze Land war im Turniermodus. Ich freue mich extrem darauf.
DFB.de: In England bekommen Sie hautnah zu spüren, was Fanbegeisterung ist. Glauben Sie, dass im kommenden Jahr auch in Deutschland wieder richtig Stimmung im ganzen Land aufkommt wie während der WM 2006?
Kehrer: Ich bin auf jeden Fall optimistisch. Die letzten Turniere sind nicht so gelaufen, wie sich das alle gewünscht hatten. Durch die erfolgreichen Turniere davor war die Erwartungshaltung groß. Wenn man sich aber die Zeit vor der Heim-WM 2006 anschaut, war auch nicht alles perfekt. Es geht jetzt darum, allen bewusst zu machen, dass es wichtig ist zusammenzurücken, eine Einheit zu bilden, um dann eine Euphorie zu entfachen. Denn für ein erfolgreiches Turnier braucht man eine begeisternde Mannschaft - und natürlich die Fans.
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