Bei neuen russischen
Luftangriffen auf die Ukraine sind in der Nacht auf Dienstag mindestens
zehn Menschen in der Stadt Kryvyi Rih getötet worden. Der
griechisch-katholische Priester Ivan Talaylo ist Direktor der Caritas im
Geburtsort von Präsident Selenskij. Er berichtet uns, dass bereits die
Folgen des Dammbruchs von vergangener Woche eine Tragödie sei und es
immer schwieriger und gefährlicher werde, in der Region Cherson zu
leben. Svitlana Dukhovych und Mario Galgano - Vatikanstadt
Bomben, Wassermangel, Überschwemmungen… die Liste an unerfreulichen Nachrichten ist für den Priester Ivan Talaylo lang: „Am Sonntag waren wir in Cherson. Das Wasser schien zum Halt gekommen zu sein, es stieg nicht mehr und an einigen Stellen begann es zurückzugehen“, berichtet der griechisch-katholische Priester und Leiter des Caritas-Büros in Kryvyi Rih im Südosten des Landes, über die Folgen der Explosion im Wasserwerk von Kakhovka in der Nacht des 6. Juni. „Wir haben uns auch in die Dörfer in der Nähe von Cherson begeben und planen, dort ein Zentrum zu schaffen, um den Menschen Hilfe zu bringen. In Cherson können wir das nicht tun, denn es ist ein sehr gefährliches Gebiet wegen der Angriffe der Russen, gestern wurde sogar ein Mensch getötet. Und wir müssen auch versuchen, unsere Mitarbeiter und Freiwilligen zu schützen.“
Zum Nachhören - die Lage in der Ukraine Das Engagement der Caritas
Der Priester erklärt, dass die Caritas Ukraine eine Einsatzzentrale
eingerichtet habe, um die Situation im Zusammenhang mit der Explosion im
Wasserwerk zu überwachen, die in verschiedenen Siedlungen in der Region
Cherson große Überschwemmungen verursacht hat. „Ich habe gesehen, dass
viele Organisationen lebensnotwendige Güter bringen, und wir liefern
auch Trinkwasser an mehrere Dörfer in der Region. Aber wir wollen die
Situation auch genau beobachten, um zu sehen, was die Menschen in ein
paar Wochen brauchen werden, wenn der Bedarf am größten ist. Am Sonntag
habe ich zum Beispiel in einem Dorf in der Nähe von Cherson mit eigenen
Augen gesehen, wie ein Privathaus durch die Überschwemmung völlig
zerstört wurde. Es war ein ziemlich altes Haus mit einem nicht sehr
soliden Fundament, und es stürzte ein. Die Menschen standen vor dem
Nichts. Innerhalb einer Stunde kam das Wasser ins Dorf, und sie flohen
mit ihren Papieren und einer kleinen Tasche aus dem Haus. Sie brauchen
also wirklich alles.“Ivan Talaylo erklärt auch, dass Polizei, Zivilschutz und Freiwillige
auch jetzt noch versuchen würden, Menschen und Tiere aus den
überfluteten Gebieten zu evakuieren. „Aber die Menschen wollen sich
nicht weit von ihren Häusern entfernen“, fügt er hinzu. „Sie ziehen es
vor, in den nahe gelegenen Dörfern zu bleiben, wo sie Freunde, Bekannte
und so weiter haben, und darauf zu warten, dass das Wasser zurückgeht,
um zurückkehren zu können. Aber selbst dann bleibt die Gegend sehr
gefährlich, weil sie ständig von den Russen angegriffen wird. Als wir
zum Beispiel in Cherson waren, flogen Drohnen über unsere Köpfe hinweg,
wir hörten Schüsse, also versuchten wir, sehr vorsichtig zu sein. Aber
die Menschen, die dort leben, haben sich an all das gewöhnt. Und das ist
schlecht, denn die Menschen nehmen die Gefahr nicht mehr wahr, und so
verlieren sie leider manchmal ihr Leben.“
Nach Angaben der Behörden in der Region Dnipropetrowsk seien noch mehrere Menschen unter den Trümmern eines mehrstöckigen Wohnhauses in der Stadt Kryvyi Rih verschüttet, die Suchmaßnahmen gingen weiter. Insgesamt seien bis zur MIttagszeit zehn Menschen für tot erklärt worden, 28 verletzt. Auch aus der Hauptstadt Kyiv und aus Charkiw wurden russische Drohnen- und Raketenangriffe gemeldet. Die Luftangriffe erfolgten, nachdem die Ukraine nach eigenen Angaben im Zuge ihrer Gegenoffensive mehrere Dörfer zurückerobert hatte.
„Es gibt keine Worte, um diese Aktionen zu beschreiben“
Auch Talaylo wachte mitten in der Nacht auf, als es zu fünf Explosionen kam. Das getroffene Wohngebäude befinde sich praktisch im Stadtzentrum, so der Caritas-Direktor am Dienstagvormittag. Schon am frühen Morgen sei er dann mit anderen Caritas-Vertretern vor Ort gewesen. „Wir haben mit Leuten gesprochen, die vor Ort waren, und sie haben uns erzählt, dass eine Mutter ihr Kind aus dem zweiten Stock geworfen hat, um es vor den Flammen zu schützen, und die Leute draußen haben es aufgefangen, und dann ist es der Mutter auch noch gelungen, herauszuspringen.“ Neben der Caritas seien auch andere internationale Organisationen vor Ort, berichtet der Priester. Den Betroffenen habe man erste Nothilfepakete gegeben und werde ihnen beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Wohnungen helfen, verspricht er.
„Diese Situation ist für die Menschen sehr ermüdend, sie leiden, sie
sind sehr besorgt. Es gibt keine Worte, um diese Aktionen zu
kommentieren, denn das Gebäude, das getroffen wurde, ist ein normales
Gebäude, in dem Zivilisten leben, es war kein militärisches Gebäude oder
in irgendeiner Weise mit dem Krieg verbunden.“ Auch am Nachmittag werde
er sich wieder zum Ort der Tragödie begeben, denn die Menschen kämen
automatisch mit der Bitte um Trost und Gebet auf ihn zu, wenn sie in ihm
einen Priester erkannten.Mit Blick auf den zerstörten Staudamm erklärt der Priester, dass es
in Kryvyi Rih und den umliegenden Dörfern bereits Probleme mit dem
Trinkwasser gebe. Es sei wie eine tickende Zeitbombe: „Wenn nicht in
anderthalb Monaten eine Lösung gefunden wird“, warnt er, „laufen vier
Stadtteile mit insgesamt etwa 300.000 Einwohnern, die bisher Wasser aus
dem Kachowka-Stausee bezogen, Gefahr, ohne Wasser dazustehen. Schon
jetzt ist der Wasserdruck in den Wohnhäusern dieser Stadtteile
niedriger, und um Geld zu sparen, hat die Verwaltung dazu aufgerufen,
die Wasserversorgung nachts für einige Stunden zu unterbrechen. In
einigen Dörfern rund um Kryviy Rih haben wir Anrufe von Menschen
erhalten, die berichten, dass das Wasser in ihren Brunnen verschwunden
ist, und die uns um Trinkwasser bitten. Wir, die Caritas von Kryvyi Rih,
bringen es ihnen. Deshalb versuchen wir, so viel Trinkwasser wie
möglich zu kaufen, denn wir wissen, dass sich die Situation in naher
Zukunft noch verschlimmern wird.“
Die Präsidentin der Caritas Ukraine, Tetiana Stawnychy, bezeichnete
ihrerseits die Zerstörung des Damms von Kachowka als „Krise in der
Krise“. Schätzungen zufolge seien über 17.000 Menschen direkt von der
Zerstörung des Damms betroffen, mit steigenden Zahlen. Insgesamt habe
die Caritas bereits 3.700 Menschen aus den betroffenen Regionen
evakuieren können, berichtete Stawnychy, die am Dienstag auf Einladung
der Caritas Österreich in Wien war, vor Medienvertretern. Insgesamt
seien die Folgen der Explosion noch nicht abschätzbar, so die
Caritaspräsidentin. So könne man etwa noch nicht sagen, welche
Auswirkungen die Fluten etwa auf das nahegelegene Kernkraftwerk
Saporischschja haben werden.
Neben der Evakuierung habe die Caritas mithilfe lokaler Kräfte bereits drei Notunterkünfte für betroffene Menschen eingerichtet. Die Versorgung mit Hygiene- und Lebensmittelpaketen laufe ebenfalls. Neben der Hilfe durch Organisationen wie der Caritas hob Stawnychy auch die Solidarität und Hilfe von Privatpersonen hervor. So seien hunderte Boote aus der ganzen Ukraine unmittelbar nach dem Dammbruch in die Region gebracht worden und unzählige freiwillige Helfer hätten sich an der Evakuierung beteiligt.
Immer wieder würde der Krieg von lokalen Desastern wie eben jenem in Kachowka überschattet, berichtete die Caritaspräsidentin. Vom Angriff Russlands seien in der Ukraine weiterhin 18 Millionen Menschen direkt betroffen. Immer wieder gingen Raketenangriffe auf zivile Einrichtungen und Wohnhäuser nieder. Neben der akuten Hilfe, die immer wieder nötig sei, müsse deswegen auch langfristig gedacht werden, etwa wenn es darum gehe, Kinder und Jugendliche bei der Verarbeitung von Traumata zu unterstützen oder es ihnen zu ermöglichen, Schulbildung nachzuholen, die sie infolge des Kriegs versäumten.
(vatican news/afp/kap)