Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr fehlen hunderttausende Betreuungsplätze.
Das Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ѡ verwies am Dienstag darauf, dass die Betreuungslücke in den vergangenen Jahren sogar gewachsen sei: "Während 2014 noch rund 187.000 Plätze fehlten, waren es im vergangenen Jahr knapp 266.000." Die Gewerkschaft GEW ѡ kritisierte, oft seien Familien mit Migrationshintergrund oder armutsgefährdete Familien die Leidtragenden.
Die Betreuungslücke schrumpfte laut IW zuletzt etwas - vor allem, weil es weniger Kleinkinder in Deutschland gibt. Die Lücke dürfte 2023 aber wieder höher ausfallen: Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine flohen über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland, darunter viele Kinder. Das führe nicht nur zu einem wachsenden Bedarf an Plätzen, sondern auch an qualifiziertem Personal, das auch sprachlich auf die Kinder und Eltern eingehen könne.
Das Institut verweist auf das gemeinsame Ziel von Bund, Ländern und Kommunen, ein bedarfsgerechtes Angebot für die unter Dreijährigen zu machen: "Es geht also nicht nur um eine ausreichende Anzahl von Betreuungsplätzen, sondern auch um qualitativ hochwertige Betreuung." Aktuelle Zahlen des beim IW angesiedelten Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa) ѡ zeigten, dass Ende Juni bundesweit über 21.000 ausgeschriebene Erzieherstellen nicht besetzt werden konnten.
"Gehen die Babyboomer demnächst in Rente, dürfte sich der Engpass weiter verschärfen." Um den Beruf attraktiver zu machen, sollten bezahlte Ausbildungen gefördert werden. Außerdem müssten die Kapazitäten der Fachschulen für Erzieher gestärkt werden, forderte das IW.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kritisierte: "Rechtsanspruch und Wirklichkeit liegen weit auseinander." Die GEW nannte die Zahl von über 383.000 Kindern ohne Kita-Platz. "Das Fatale dabei ist, dass insbesondere Familien mit nicht-deutscher Familiensprache oder strukturell benachteiligte, also beispielsweise armutsgefährdete Familien, oft zu den Leidtragenden gehören", erklärte das GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und Sozialarbeit, Doreen Siebernik.
Besonders besorgt zeigte sie sich über die Betreuungsquote bei über Dreijährigen. Diese sei von 94,4 Prozent in 2015 auf 91,7 Prozent in 2022 zurückgegangen. Siebernik verwies auf einen "Investitionsstau von über zehn Milliarden Euro im Bereich der kommunalen, frühkindlichen Bildung". Bund und Länder müssten den Kommunen bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs finanziell unter die Arme greifen.
Zudem führe der dramatische Fachkräftemangel dazu, dass fertig gebaute Einrichtungen aus diesem Grund verspätet oder gar nicht eröffnet werden könnten. Siebernik forderte einen "gemeinsamen Kraftakt" zur Umsetzung des seit 1. August 2013 geltenden Rechtsanspruchs für unter Dreijährige.
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) Θ forderte Schritte gegen die anhaltende Benachteiligung von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. "Kinder, die erst kurz vor der Einschulung systematisch mit der deutschen Sprache vertraut gemacht werden, haben bei Schulbeginn nicht dieselben Startchancen wie andere Kinder", erklärte Mohini Lokhande, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SVR.
So würden Familien mit Zuwanderungsgeschichte von Einrichtungen bei der Platzvergabe teilweise benachteiligt, erklärte Lokhande. "Hinzu kommt: Sozial benachteiligte Eltern, zu denen in Deutschland weiterhin überproportional viele Familien mit Migrationshintergrund gehören, stehen vor dem Problem, dass sie die Kosten für einen Kitaplatz oft nicht aufbringen können und die Formalitäten zur Beantragung kompliziert erscheinen."
"Die Nachteile im Zugang sollten abgebaut werden", forderte Lokhande. "Solange das bestehende Angebot aber hinter den Bedarfen zurücksteht, könnte überlegt werden, ob die Sprachdiagnostik frühzeitiger stattfindet und Kindern mit Sprachförderbedarf dezidiert eine Förderung in einer Kita angeboten wird."
cha/pw AFP