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Durchbruch in Münster in der Lichtverschaltung, und was ist "intelligente Materie" ?

Intelligente Materie wird aus einzelnen nanoskalierten, funktionalen Bausteinen zusammengesetzt. Zusammen agierend, besitzen sie intelligente Fähigkeiten.

Internationales Forschungsteam entwickelt photonischen Prozessor mit anpassungsfähiger neuronaler Verschaltung

Moderne Rechenmodelle, die beispielsweise für komplexe und leistungsfähige KI-Anwendungen genutzt werden, bringen herkömmliche digitale Computerprozessoren an ihre Grenzen. Neuartige Rechenarchitekturen, die der Funktionsweise biologischer neuronaler Netze nachempfunden sind, versprechen eine schnellere und energieeffiziente Datenverarbeitung. Mehrere Forscher haben nun mit photonischen Prozessoren, bei denen Daten mittels Licht transportiert und verarbeitet werden, eine sogenannte ereignisbasierte Architektur entwickelt. Ähnlich dem Gehirn ermöglicht sie eine fortlaufende Anpassung der Verschaltung innerhalb des neuronalen Netzes. Die veränderbare Verschaltung ist eine Grundlage für Lernprozesse. Für die Studie hat ein Team des Sonderforschungsbereichs 1459 “Intelligent Matter” um die Physiker Prof. Dr. Wolfram Pernice, Prof. Dr. Martin Salinga und den Informatiker Prof. Dr. Benjamin Risse der Universität Münster mit Forschern der Universitäten Exeter und Oxford zusammengearbeitet. Die Arbeit ist in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht.

Für ein maschinelles neuronales Netz benötigt man künstliche Neuronen, deren Aktivierungen durch äußere Anregungen und Verbindungen zu anderen Neuronen gegeben sind. Die Verbindungen zwischen diesen künstlichen Neuronen werden wie beim biologischen Vorbild Synapsen genannt. Das münstersche Forschungsteam nutzte für die aktuelle Studie ein Netz aus fast 8.400 optischen Neuronen aus wellenleiter-integriertem Phasenwechselmaterial und zeigte: Die Verbindung zwischen jeweils zwei dieser Neuronen kann tatsächlich stärker oder schwächer werden (synaptische Plastizität), und es können sich Verbindungen neu bilden oder bestehende Verbindungen auflösen (strukturelle Plastizität). Die Synapsen waren dabei im Gegensatz zu anderen, ähnlichen Arbeiten keine Hardwareelemente, sondern durch die Eigenschaften der optischen Pulse codiert – durch die jeweilige Lichtwellenlänge und die Intensität des Pulses. Dadurch war es möglich, einige Tausend Neuronen auf einem einzigen Chip unterzubringen und optisch zu verbinden.

Im Vergleich zu den herkömmlichen elektronischen Prozessoren bieten lichtbasierte Prozessoren eine deutlich höhere Bandbreite und ermöglichen dabei die Durchführung komplexer Rechenaufgaben – bei geringerem Energieverbrauch. „Unser Ziel ist es, eine optische Rechenarchitektur zu entwickeln, die es langfristig ermöglicht, KI-Anwendungen schnell und energieeffizient zu berechnen“, fasst Frank Brückerhoff-Plückelmann, einer der Erstautoren, zusammen.

Zur Methode: Das eingesetzte, nichtflüchtige Phasenwechselmaterial kann zwischen einer ungeordneten Struktur und einer kristallinen Struktur mit geordnetem Atomgitter geschaltet werden. Diese Eigenschaft ermöglicht auch ohne Energiezufuhr eine dauerhafte Datenspeicherung. Die Forscher testeten die Leistung des neuronalen Netzes, indem sie es mit einem evolutionären Algorithmus darauf trainierten, zwischen deutschen und englischen Textbeispielen zu unterscheiden. Als Erkennungsparameter nutzten sie die Anzahl von Vokalen im Text.

Die Forscher erhielten finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Europäische Kommission sowie durch „UK Research and Innovation“.

 

Originalveröffentlichung
Brückerhoff-Plückelmann F. et al. (2023): Event-driven Adaptive Optical Neural Network. Science Advances Vol 9, Issue 42; DOI: 10.1126/sciadv.adi9127

* https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adi9127
  Originalveröffentlichung in "Science Advances"
   * https://www.uni-muenster.de/SFB1459/de/
  Sonderforschungsbereich "Intelligente Materie"


Was ist "intelligente Materie" ?


Der Aufstieg der intelligenten Materie Interdisziplinäres Team gibt in "Nature" Einblicke in ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet

Können wir Materie intelligent machen? Zu dieser Frage forscht ein interdisziplinäres Team im Sonderforschungsbereich 1459 „Intelligente Materie: Von responsiven zu adaptiven Nanosystemen“. In einem aktuellen Beitrag in der Fachzeitschrift „Nature“ beschreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Münster und Twente stellvertretend für den SFB 1459, welche Möglichkeiten sich durch intelligente Materie auftun könnten. Auch in einem Gastbeitrag für die WWU geben Corinna Kaspar (Physik-Doktorandin und Erstautorin des Nature-Artikels) sowie Physiker Prof. Dr. Wolfram Pernice aus diesem Anlass Einblicke in ihre Forschung und deren Bedeutung.

Stellen Sie sich vor, der Pullover, den Sie tragen, würde sich aktiv Ihrem Empfinden anpassen. Das heißt, er würde Sie wärmen, wenn es Sie fröstele, aber Sie auch kühlen, wenn Sie schwitzend in der Sonne säßen – und das ganz ohne Ihr Zutun. Der Pullover müsste also einerseits lernen, Ihr Unwohlsein zu bemerken, und andererseits seine Eigenschaften ändern können, um diesem Zustand entgegenzuwirken. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt und wir können uns weitere, beliebig komplexe Funktionalitäten ausmalen wie schnelltrocknend oder bei einem Sturz stoßabfedernd. Doch wie lässt sich solch ein Pullover realisieren? Welche Energie benötigt er und woraus bezieht er sie? Es wird schnell klar, dass komplexe Berechnungsvorgänge und eine geeignete Energiequelle notwendig sind, um all diese Funktionen zu erfüllen.

Die Natur hingegen bringt täglich und scheinbar mühelos solch faszinierenden Funktionalitäten hervor. Ein Pendant zum Pullover ist beispielsweise das größte menschliche Organ, unsere Haut. Sie schützt uns vor allerhand Einflüssen aus unserer Umgebung wie Strahlung, Druck, Reibung und dem Eindringen von Krankheitserregern. Nach einer Verletzung kann sie sich sogar selbst heilen. Außerdem bildet sie einen Schutz vor dem Verlust von Wärme und ist gleichzeitig in der Lage, uns durch Ausscheiden von Schweiß zu kühlen.

Inspiration durch das menschliche Gehirn

Für besondere Faszination und Inspiration sorgt bei Forschern vor allem auch immer wieder das menschliche Gehirn, der Grundbaustein für unsere Intelligenz. Unzählige parallele Prozesse zwischen den etwa 100 Milliarden Neuronen im Gehirn führen zu einer enormen Rechenleistung – und das bei einem sehr geringen Energieverbrauch von nur etwa 20 Watt. Die massive Parallelverarbeitung begünstigt vor allem kognitive Fähigkeiten, in denen wir herkömmliche Computer weit übertreffen. Beispielsweise erkennen wir das bekannte Gesicht eines Freundes binnen Millisekunden, während ein Computer für ähnliche Aufgaben weitaus mehr Zeit benötigt. Von dieser Überlegenheit inspiriert, werden immer häufiger unkonventionelle Rechenparadigmen entwickelt, welche die Funktionsweise des Gehirns nachbilden, um künstliche, intelligente Systeme für kognitive Aufgaben zu verwirklichen.

Doch was ist eigentlich Intelligenz? Im psychologischen Sinne wird Intelligenz als die Fähigkeit verstanden, sich in einer sich ändernden Umgebung anzupassen und aus vergangenen Ereignissen zu lernen. Auf der Materialebene definieren wir Intelligenz ganz ähnlich. Synthetisch hergestellte Materie ist intelligent, wenn sie mit der Umgebung interagiert, Impulse empfängt und auf diese reagiert. Dabei kann die Materie Feedback verarbeiten, Informationen als Erfahrung speichern und aus Vergangenem lernen. Darüber, ob solch eine Materie eine Wahrnehmung besitzt, lässt sich streiten, für unsere Definition von Intelligenz benötigt sie sie jedoch nicht.

Intelligentes Verhalten von synthetischer Materie

Die zentrale Frage, die sich uns nun stellt, ist also: Wie kann man Intelligenz in synthetischer Materie realisieren und welche Bausteine sind dafür erforderlich? Dazu haben wir vier notwendige Schlüsselfunktionselemente herausgearbeitet, welche zusammenarbeiten müssen. Zunächst ist ein Sensorelement erforderlich, sodass die Materie Impulse und Informationen aus der Umgebung wahrnehmen sowie Feedbacksignale empfangen kann. Als Antwort auf externe Stimuli kann synthetische Materie ihre physikalischen Eigenschaften verändern, beispielsweise die Form oder die Festigkeit. Dazu ist ein Aktor notwendig. Empfangene Informationen werden als Wissen in einem Speicherelement gespeichert, sodass sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgerufen werden können. Dieses „Erinnerungsvermögen“ ist für einen Lernprozess unabdingbar. Zuletzt müssen die drei beschriebenen Elemente miteinander kommunizieren können, wozu ein Netzwerk aus Signalwegen notwendig ist.

Vier Schlüsselfunktionselemente müssen zusammenarbeiten

Alle vier Schlüsselfunktionselemente müssen zusammenarbeiten, um intelligente Fähigkeiten zu realisieren. Nun stellen wir uns vor, dass diese verknüpften Bauteile sich auf den Nanobereich zusammenschrumpfen lassen, sodass sie als eine Einheit – oder Materie – gesehen werden können. Dies ermöglicht die Integration in einem System, wodurch sich Rechenvorgänge in der Materie selbst implementieren lassen. Dabei müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es eine zentrale Recheneinheit gibt, die alles steuert, wie wir es zum Beispiel von konventionellen Computern oder auch Robotern kennen. Vielmehr wird die Materie selbst genutzt, um dezentral zu rechnen. Dadurch können – ähnlich wie im menschlichen Gehirn – unzählige Prozesse parallel ablaufen, was eine enorme Datenverarbeitung ermöglicht, wie sie beispielsweise für unseren „intelligenten Pullover“ notwendig ist.

 

Originalveröffentlichung

Corinna Kaspar, Bart Jan Ravoo, Wilfred G. van der Wiel, Seraphine V. Wegner and Wolfram H. P. Pernice (2021): The Rise of Intelligent Matter. Nature 594, 345–355 (2021). DOI: 10.1038/s41586-021-03453-y

Sonderforschungsbereich 1459

Um intelligente Materie herzustellen, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aus den Bereichen der Physik, Chemie, Materialwissenschaften und Biologie erforderlich. 26 Arbeitsgruppen der WWU Münster, des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin und der Universität Twente arbeiten im Sonderforschungsbereich 1459 zusammen, um dieses Vorhaben zu realisieren. Dabei werden verschiedene Materialklassen untersucht: Moleküle, weiche Materialien wie Polymere und Festkörper. Außerdem werden neue chemische und physikalische Konzepte erarbeitet. Ziel ist es, völlig neue Möglichkeiten zu erschließen und Materie intelligent zu machen.