Aber warum fällt es uns so schwer über etwas zu sprechen, das der Anfang und die Ursache allen Lebens ist?
Michel Foucault, ein französischer Philosoph, der Ende der 80er an Aids gestorben ist, hat sich Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts mit genau dieser Frage in vier Bänden des Werkes „Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit“ beschäftigt.
Ihm ist aufgefallen, dass sich das Verhältnis der Gesellschaft zur Sexualität mit dem Wandel von Strafe und Macht im Laufe der Zeit, radikal geändert hat. Laut Foucault begannen wir vor etwa 300 Jahren, Todesstrafen in Haftstrafen zu verwandeln. Die aufkommende Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts „verwissenschaftlichte“ nun aber nicht nur Medizin und Physik, sondern auch Ethik und Moral. Spätestens seit Kant wurde aus Handlungsmaximen ein Imperativ, der vor dem höchsten „Gesetz“ der Vernunft standhalten können muss. Kurz: Warum ist was so wie es ist? Heißt, wir haben und wollten alles empirisch untersuchen. Und dazu gehört eben auch die Sexualität.
Aber wie hängt nun Verbrechen mit meinen zwischenmenschlichen Präferenzen zusammen? Mir verbietet doch keiner das Bett gegen eine Couch im Centre Pompidou zu tauschen, oder doch? Zumindest werde ich dafür nicht mehr, wie vielleicht vor einigen hundert Jahren, getötet. Nun, wenn man davon ausgeht, dass wir unter dem alten Fritz, Hegel sagte gar, der besten Staatsformen aller Zeiten, begannen, alles zu untersuchen, so begannen wir auch zu kategorisieren: Das, was man machte wurde von „machbar“ zu „gerechtfertigt“ also vom Gesetz legitimiert, alles andere unrechtmäßig, also „falsch. Verboten. Strafbar. Oder um im oben genannten Beispiel zu verharren. Mag sein, dass der öffentlich gelebten Sehnsucht 1348 der Scheiterhaufen die Strafe gewesen wäre. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass etwas bestraft wird, wenn damit einher geht, dass man zukünftig auch meiner Freiheit genauer auf die Finger schaut. Und da wir alle Geheimnisse haben, ist das ein starkes Pro-Argument für das Schweigen.
Und da wir nicht nur über Ladendiebe und Krieg gerne und viel sprechen, sondern noch viel lieber über Sex, wurde auch dieser, durch die Aufklärung erstmalig gesellschaftlich und wissenschaftlich analysiert. Und Schuld daran ist alleine der öffentliche Diskurs. Den Anfang legte die beinahe unwichtige Tatsache, dass kein Kind Sex hat. Dies führt zu der Tatsache, dass kein Kind Sex haben braucht. Und somit soll und mit dieser Tatsache wurde gleichzeitig die Masturbation gesellschaftlich geächtet. Denn Kinder haben keinen Sex. Und Masturbation ist nur eine Facette gelebter Sexualität. Sex hat man, um die Population zu stärken, das ist seine Aufgabe, sein Zweck. Wenn Sex also nur der generativen Weiterentwicklung verpflichtet ist, sind jegliche andere „Varianten“ verboten. Das begann bei Inzest und endete bei Pädophilie.
Nun werden Sie bei letzterem wahrscheinlich protestieren und dagegen halten, Aber Sex mit Kindern ist wirklich widerlich und strafbar und alles, kurz verboten, und ich stimme Ihnen, besonders als Vater zu. Aber: Wir vergessen, was mit der nüchternen Tatsache von rudimentär abartigen, das gesetzlich verankert, gesellschaftlich einhergeht: Wir, als Gesellschaft, machen uns nicht nur zur moralischen Instanz, sondern auch zum ausführenden Organ von Politik. Die Macht wurde von beinahe monarchischer Willkür zu einem gesellschaftlichen Panoptikum. Jeder achtet, da demokratische Gesetze auf gesellschaftlichem Konsens beruhen, darauf, dass auf Gesetze geachtet werden, bei gleichzeitigem Wunsch, bei Verfehlungen von der selben Macht nicht ertappt zu werden.
Das interessante beim Sex ist, dass dieser einer scheinbaren Ambivalenz unterliegt. Auf der einen Seite darf man kein falsches Wort über den Fortpflanzungsakt verlieren, während man es auf der anderen Seite gar nicht präzise genug wissen kann. Schon bei der Beichte ging es nicht darum, das man verfehlt hat, sondern, en detail, wie. Haarklein musste man den Akt der Masturbation, des Ehebruchs oder einer anderen scheinbaren Perversität zu Protokoll geben. Der Pfarrer wurde dabei gleichzeitig zum Sekretär bedingungsloser Vergebung und Stenographen sowie Richter gesellschaftlicher Moral. Er entschied, worüber nachträglich debattiert wurde und wie was zukünftig als legitim oder illegitim deklariert wird. Und jene „Gesetze“ wurden pastoral beinahe wie ein Mantra in unser Gedankengut implementiert.
Natürlich wurde dieser Prozess durch den Buchdruck um 1450 und Luthers Thesen 1517 bzw. seine Bibelübersetzung etwa 1820, beeinflusst. Aber statt für mehr Rechte, sorgte dieser konstruktive Diskurs eigentlich für weniger, denn alles, was möglich war wurde zur Dialektik zwischen Obrigkeit und Aufklärung. Dieser Mechanismus macht sich eine Schwäche des Menschen zu Nutze: Der Mensch ist redselig; einige Philosophen wie Hannah Arendt behaupten sogar, dass ohne soziale Interaktion, die aus ihrer Sicht durch Sprache bedingt wird, wir gar nicht lebensfähig sind.
Solange wir also gesellschaftlich nicht versuchen, Teil der judikativen Gewalt einer Obrigkeit zu sein, ist alles erlaubt, was unsere Sozialisation nicht an die Obrigkeit verrät. Unsere Sprache ist also nicht weiter verwerflich, da wir als Gesellschaft gegen „Die da oben“ zusammenhalten müssen und wollen. Aber jetzt, als Teil der Aufklärung, wollen wir natürlich ein Recht auf unsere ganz persönliche Perversion, wie auch immer sie gestaltet ist, und mit jedem Recht steigt auch die Anzahl der Verbote, weil die Definition von Sein die von Nichtsein konkomitiert- also was nicht erlaubt ist, ist verboten. Michel Foucault geht sogar soweit, dass wir uns als Menschheit irgendwann in der Aufklärung ganz verlieren, uns auflösen, womit er im Widerspruch zu einem der anderen großen Denker im öffentlichen Disput stand, seinem Lieblingsfeind: Jean Paul Sartre, der auf dem Recht der Freiheit des Menschen beharrte, während für Foucault mit der Aufklärung und der Manifestation des Begriffes der Freiheit seine inhärente Qualität für immer verloren war. Irreversibel.
Wir alle sind Instanzen der Macht und Gewalt. Wir pflegen und fürchten sie. Selbst die, die wie ich, mit oftmals „unangemessenem“ Vokabular Sachverhalte thematisieren, gestalten die Dialektik gesellschaftlich mit. Denn mit dem gleichen „Recht“, mit dem ich auf meiner Sprachwahl beharre, pflege ich eine Aversion gegen andere Ausdrucksweisen. Mir ist zwar nicht wichtig, dass es verboten wird, aber alle vier Jahre kultiviere ich, als „verantwortungvoller“ (Voll Verantwortung, also ich bin mir bewusst darüber, dass mein Verhalten gesellschaftlich eingeordnet und bewertet wird, an dem Konsens, den ich selbst durch meine politische Entscheidung beeinflusst und legitimiert habe) Bürger, die Notwendigkeit, mich für das kleinere politische Übel zu entscheiden. So werden aus Präferenzen Pietäten und aus diesen Paragraphen.
Gesetz und Ordnung dringt wie Luft in die kleinsten Ritzen unserer Gesellschaft und es bedarf schon eines enorm großen „Pusters“, um da frischen Wind rein zu bringen.
Aber.... viel Kleinbisschen, macht ein Viel.
Die Schwierigkeit, um nicht zu sagen die Unmöglichkeit liegt nun darin begründet, diesen notwendigen Impuls mit Worten zu kommunizieren ohne ihn schlußendlich nieder zu schreiben. Donald Davidson sagte einmal erst als Gesetz bedingen sie eine Ursache- Wirkung- Beziehung, davor ist es durchaus möglich, dass gedacht wird. Will heißen: wenn es Gedanken gibt, die keine Handlung hervorrufen, dann gibt es auch Handlungen die kein Gesetz hervorrufen. Es liegt an uns, wie viele Gesetzeseier in unserem Körbchen landen, nur weil wir nicht einfach mal die Klappe halten konnten. Wie heißt es doch so schön: Ein Kavalier genießt und schweigt. Und selbst im ursprünglichen Sinne dieser Redensart ist kein „dabei“ implementiert.
In diesem Sinne:
Frohe Ostertage und sprachlose Osternächte.
Ihr
Adi Ulf Muensterman alias Reto Zeit