Der ganze Erdkreis sollte in Steuerlisten eingetragen werden (vgl. Lk 2,1). Das ist der Kontext der Geburt Jesu, bei dem das Evangelium zunächst verweilt. Man hätte ihn flüchtig erwähnen können, aber stattdessen spricht es sehr genau davon. Und damit lässt es einen großen Kontrast aufkommen: Während der Kaiser die Bewohner des Erdkreises zählt, kommt Gott beinahe verborgen in die Welt; während diejenigen, die befehlen, versuchen, zu den Großen der Geschichte aufzusteigen, wählt der König der Geschichte den Weg der Niedrigkeit. Keiner der Mächtigen bemerkt ihn, nur ein paar an den Rand des gesellschaftlichen Lebens verbannte Hirten.
Kein Gott, der züchtigt, sondern ein barmherziger Gott
Aber die Volkszählung besagt noch mehr. In der Bibel hat sie keine
gute Erinnerung hinterlassen. König David, der der Versuchung großer
Zahlen und einer krankhaften Anmaßung von Selbstgenügsamkeit erlegen
war, hatte gerade mit der Durchführung einer Volkszählung eine schwere
Sünde begangen. Er wollte wissen, wie stark das Volk war, und nach etwa
neun Monaten hatte er die Zahl derer, die mit dem Schwert umgehen
konnten (vgl. 2 Sam 24,1-9). Der Herr war darüber empört, und ein
Unglück traf das Volk. In dieser Nacht jedoch wird der „Sohn Davids“,
Jesus, nach neun Monaten im Mutterleib Marias in Betlehem, der Stadt
Davids, geboren. Er bestraft nicht für die Volkszählung, sondern lässt
sich demütig zählen. Einer von vielen. Wir erleben keinen erzürnten
Gott, der züchtigt, sondern den barmherzigen Gott, der Fleisch annimmt,
der schwach in die Welt eintritt und dem die Ankündigung vorausgeht:
»Friede auf Erden den Menschen« (Lk 2,14). Und unser Herz ist heute
Abend in Betlehem, wo der Friedensfürst noch immer von der zum Scheitern
verurteilten Logik des Krieges zurückgewiesen wird, vom Lärm der
Waffen, der ihn auch heute daran hindert, in der Welt eine Herberge zu
finden (vgl. Lk 2,7).
Die Volkszählung des gesamten Erdkreises
offenbart also einerseits das allzu Menschliche, das sich durch die
Geschichte zieht: eine Welt, die nach Macht und Stärke, Ruhm und Ehre
strebt, in der alles nach Erfolg und Leistung, Ergebnissen und Zahlen
gemessen wird. Das ist das Versessensein auf Leistung. Aber zugleich
tritt durch die Volkszählung der Weg Jesu deutlich hervor, der in seiner
Menschwerdung zu uns kommt, um uns zu suchen. Er ist nicht der Gott der
Leistung, sondern der Gott der Menschwerdung. Er bezwingt das Unrecht
nicht von oben herab mit Gewalt, sondern von unten her mit Liebe; er
bricht nicht mit grenzenloser Macht herein, sondern begibt sich herab in
unsere Grenzen; er meidet nicht unsere Schwäche, sondern nimmt sie an.
An welchen Gott glauben wir?
Brüder und Schwestern, heute Nacht können wir uns fragen: An welchen
Gott glauben wir? An den Gott der Menschwerdung oder an jenen der
Leistung? Ja, es besteht nämlich die Gefahr, dass wir das Weihnachtsfest
begehen mit einer heidnischen Vorstellung von Gott in unseren Köpfen,
so als wäre er ein mächtiger Herrscher, der im Himmel ist; ein Gott, der
mit Macht, weltlichem Erfolg und dem Götzendienst des Konsums in
Verbindung steht. Immer kehrt das falsche Bild eines unbeteiligten und
nachtragenden Gottes wieder, der die Guten gut behandelt und sich über
die Bösen erzürnt; eines Gottes, der nach unserem Bild geschaffen ist
und nur dazu dient, unsere Probleme zu lösen und uns von Übeln zu
befreien. Doch er benützt keinen Zauberstab, er ist nicht der
kommerzielle Gott des „Alles und sofort“; er rettet uns nicht auf
Knopfdruck, sondern er kommt uns nahe, um die Wirklichkeit von innen
heraus zu verändern. Und doch ist die weltliche Vorstellung von einem
fernen und kontrollierenden Gott, der streng und mächtig ist und den
Seinen hilft, sich gegen die Anderen durchzusetzen, so tief in uns
verwurzelt! Dieses Bild ist so oft in uns verwurzelt. Aber so ist es
nicht. Er wurde für alle geboren, während der Volkszählung des gesamten
Erdkreises.
Schauen wir also auf den »lebendigen und wahren
Gott« (1 Thess 1,9), auf ihn, der jenseits aller menschlichen
Berechnungen steht und sich dennoch durch unser Zählen erfassen lässt;
auf ihn, der die Geschichte revolutioniert, indem er in ihr wohnt; auf
ihn, der uns so sehr respektiert, dass er es zulässt, dass wir ihn
ablehnen; auf ihn, der die Sünde tilgt, indem er sie auf sich nimmt, der
den Schmerz nicht beseitigt, sondern verwandelt, der die Probleme nicht
aus unserem Leben entfernt, sondern unserem Leben eine Hoffnung gibt,
die größer ist als die Probleme. Er wünscht sich so sehr, uns nahe zu
sein, dass er, der unendlich ist, für uns endlich wird; dass er, der
groß ist, sich klein macht; dass er, der gerecht ist, sich in unsere
Ungerechtigkeit hineinbegibt. Brüder und Schwestern, das ist das Wunder
von Weihnachten: keine Mischung aus kitschigen Gefühlen und weltlichem
Trost, sondern die unglaubliche Zärtlichkeit Gottes, der die Welt
rettet, indem er Mensch wird. Schauen wir auf das Kind, schauen wir auf
diese Futterstelle, auf die Krippe, die von den Engeln ein „Zeichen“
genannt wird (Lk 2,12): Es handelt sich in der Tat um das Zeichen, das
das Antlitz Gottes offenbart, der Erbarmen und Barmherzigkeit ist,
allmächtig immer und nur in der Liebe. Er kommt uns nahe, zärtlich und
barmherzig. Das ist der Stil Gottes: Nähe, Mitleid, Zärtlichkeit.
Schwestern und Brüder, lasst uns staunen, denn „er ist Fleisch
geworden“ (vgl. Joh 1,14). Fleisch: Dieses Wort erinnert an unsere
Schwachheit und das Evangelium benutzt es, um uns zu sagen, dass Gott
bis ins Letzte unsere Menschennatur angenommen hat. Warum ist er so weit
gegangen? Weil ihm alles an uns wichtig ist, weil er uns so sehr liebt,
dass er uns für wertvoller hält als alles andere. Bruder, Schwester,
für Gott, der die Geschichte während einer Volkszählung verändert hat,
bist du keine Nummer, sondern ein Gesicht; dein Name ist in sein Herz
geschrieben. Vielleicht aber erlebst du – wenn du auf dein Herz schaust,
auf deine nicht so guten Leistungen, auf die Welt, die urteilt und
nicht verzeiht – dieses Weihnachten als negativ, und vielleicht denkst
du, dass du nicht in Ordnung bist und verspürst wegen deiner Schwächen,
deiner Fehler und Probleme, deiner Sünden, ein Gefühl der
Unzulänglichkeit und Unzufriedenheit. Überlass indes heute bitte die
Initiative Jesus, der zu dir sagt: „Für dich habe ich Fleisch
angenommen, für dich bin ich wie du geworden“. Warum verschließt du dich
in deinen Kummer? Verlass wie die Hirten, die ihre Herden verlassen
haben, das Gehege deiner Schwermut und nimm die Zärtlichkeit des
göttlichen Kindes an. Wirf deine Sorgen ohne Maske und ohne Schutz auf
ihn, und er wird sich deiner annehmen (vgl. Ps 55,23). Er, der Fleisch
angenommen hat, wartet nicht auf deine erfolgreichen Leistungen, sondern
auf dein offenes und vertrauensvolles Herz. Und du wirst in ihm wieder
neu entdecken, wer du bist: ein geliebter Sohn Gottes, eine geliebte
Tochter Gottes. Jetzt kannst du daran glauben, denn heute Nacht ist der
Herr auf die Welt gekommen, um dein Leben zu erleuchten, und seine Augen
glänzen vor Liebe zu dir. Und uns fällt es schwer, das zu glauben: dass
die Augen Gottes glänzen aus Liebe zu uns.
Die Hektik einer immer gleichgültigeren Welt...
Ja, Christus schaut nicht auf Zahlen, sondern auf Gesichter. Wer aber
schaut auf ihn, inmitten der vielen Dinge und der Hektik einer immer
geschäftigeren und gleichgültigeren Welt? Wer schaut auf ihn? Während im
Rausch der Volkszählung viele Menschen in Betlehem kamen und gingen,
die Herbergen und Gasthäuser füllten und über dies und das redeten,
waren einige Personen Jesus nahe: Maria und Josef, die Hirten und dann
die Sterndeuter. Lernen wir von ihnen. Sie halten ihren Blick auf Jesus
gerichtet, ihr Herz ist ihm zugewandt. Sie reden nicht, sondern beten
an. Und diese Nacht, Brüder und Schwestern, ist die Zeit der Anbetung:
anbeten.
Die Anbetung ist der Weg die Menschwerdung anzunehmen.
Denn es geschieht in der Stille, dass Jesus, das Wort des Vaters, in
unserem Leben Fleisch annimmt. Machen auch wir es wie in Betlehem, das
bedeutet „Haus des Brotes“: verweilen wir vor ihm, dem Brot des Lebens.
Entdecken wir die Anbetung wieder, denn Anbetung bedeutet nicht, Zeit zu
verlieren, sondern Gottes Gegenwart in unserer Zeit zuzulassen.
Anbetung bedeutet, das Samenkorn der Menschwerdung in uns zum Blühen zu
bringen; am Werk des Herrn mitzuwirken, der wie Sauerteig die Welt
verändert. Anbetung bedeutet Fürsprache zu halten, Wiedergutmachung zu
leisten, Gott zu erlauben, die Geschichte zurechtzurichten. Ein großer
Erzähler epischer Geschichten schrieb an seinen Sohn: »Ich biete dir die
einzige große Sache, die man auf Erden lieben kann: das Allerheiligste
Sakrament. Dort wirst du Entzücken, Ruhm, Ehre, Treue und den wahren Weg
all deiner Leidenschaften auf Erden finden« (J.R.R. TOLKIEN, Brief 43,
März 1941).
Brüder und Schwestern, heute Nacht verändert die Liebe die Geschichte.
Lass uns, o Herr, an die Macht deiner Liebe glauben, die so anders ist als die Macht der Welt. Herr, mach, dass wir uns wie Maria, Josef, die Hirten und die Sterndeuter um dich versammeln, um dich anzubeten. Wenn du uns dir immer ähnlicher machst, können wir der Welt die Schönheit deines Antlitzes bezeugen.
(vaticannews - skr)