Die Corona-Pandemie stellt Gesellschaften auf allen Ebenen – vom Individuum über Familien, Betriebe und Vereine bis hin zu Gemeinden, Städten und Ländern – vor mindestens drei enorme Herausforderungen. Erstens, muss die Ausbreitung des Virus so schnell wie möglich gestoppt bzw. verlangsamt werden, um die notwendige gesundheitliche Versorgung ernsthaft erkrankter Personen zu gewährleisten und zeitgleich den dauerhaften ökonomischen Schaden so gering wie möglich zu halten. Zweitens geht es darum, den Verlust an emotionalem und sozialem Wohlergehen zu minimieren und hierbei möglichst wenige Menschen zu übersehen. Und drittens müssen die mittel- und langfristigen Konsequenzen der Krise für den gesellschaftlichen Zusammenhalt möglichst günstig beeinflusst werden.
Die Bewältigung aller drei Herausforderungen bedarf eines differenzierten Verständnisses des Erlebens und Verhaltens von Menschen im Angesicht der Krise. Mit anderen Worten: Die Psychologie ist gefragt. Sie sollte stärker Gehör finden, sich aber auch hörbarer in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Wie lassen sich soziale Distanzierungsmaßnahmen schnell, umfassend und sozial akzeptiert kommunizieren und umsetzen? Wer ist in der Krise emotional besonders gefährdet und wie lässt sich zielgerichtet helfen? Wie kann das Risiko eines weiteren Auseinanderdriftens breiter Bevölkerungsschichten vermieden und die Krise als Chance für einen verstärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt genutzt werden? Antworten aus der Psychologie auf diese Fragen können das Verständnis für die Mechanismen der Ausbreitung versus Eindämmung sowie der individuellen und kollektiven Folgen von Pandemien nachhaltig verbessern und haben unmittelbare Implikationen für den politischen Umgang hiermit.
Umsetzen von Social-Distancing-Maßnahmen
Menschen sind soziale Wesen und haben ein grundlegendes Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Diese soziale Zugehörigkeit erfahren wir insbesondere im direkten alltäglichen sozialen Austausch mit anderen Menschen – während sozialer Interaktionen mit Freunden, Familienmitgliedern und weiteren Bekannten. Fehlende soziale Zugehörigkeit ist einer der wichtigsten Prädiktoren für geringen Selbstwert, Lebensunzufriedenheit und psychische Störungen. Soziale Isolation ist zudem ein zentraler Risikofaktor für körperliche Erkrankung und Mortalität, dessen Effekte mit denen des Rauchens und anderer unbestrittener Gesundheitsrisiken vergleichbar sind. Es muss also einiges passieren, damit sich Menschen über lange Zeiträume sozial distanzieren und trotzdem soziale Bedürfnisse ausreichend befriedigt werden können.
Die psychologische Forschung zu überzeugender Kommunikation zeigt, dass Menschen am ehesten bereit sind, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie das Gefühl haben, dass die Mehrheit derer, denen sie sich zugehörig fühlen, dies auch tun. Der Effekt des Mehrheitsverhaltens ist deutlich stärker als rationale Appelle an die Vernunft. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass sich Menschen unterschiedlichen sozialen Gruppen zugehörig fühlen, die durch Aspekte wie Geschlecht, Alter, Ethnie, Religion, Bildungsschicht oder Subkultur definiert sein können. Die Bereitschaft der Verhaltensänderung kann aber nur dann umgesetzt werden, wenn es passende und zugängliche Verhaltensalternativen für den sozialen Austausch gibt und diese müssen wiederum zu den jeweiligen sozialen Gruppen passen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich Menschen auch innerhalb sozialer Gruppen in ihren sozialen Motiven unterscheiden – und damit auch in der Art der passenden digitalen sozialen Ersatztätigkeiten. Manche Menschen streben nach möglichst vielen Sozialkontakten und Spaß in größeren Gruppen, während andere häufiger gerne auch mal für sich sind und die Intimität von Gesprächen zu zweit bevorzugen.
Appelle an die Gesamtbevölkerung alleine, so eindringlich sie auch sind, scheinen nicht die optimale Kommunikationsstrategie darzustellen und sollten durch sozialgruppen- und individuumsspezifische Kommunikation auf ausdifferenzierten Kanälen ergänzt werden. Hierbei sollten insbesondere die Normativität des gewünschten Verhaltens (in unterschiedlichen Altersgruppen, Bildungsschichten und Subkulturen) und positiv definierte soziale Interaktionsalternativen (passend und zugänglich für unterschiedliche Gruppen und Motivlagen) betont werden.
Schutz emotionaler Risikogruppen
Informationen über potentiell gefährliche Situationen, gepaart mit Unsicherheit über die konkrete Gefahrenlage und über die Möglichkeiten diese zu umgehen, sind typische Stressoren, die Angst, Bedrohung und Sorgen triggern. Während dies in gewissem Ausmaß die gesamte Bevölkerung betrifft, sind vor allem solche Menschen gefährdet, die (a) ohnehin emotional instabil und selbstunsicher sind und (b) stärker mit den genannten negativen Emotionen auf Stressoren reagieren.
Hierbei spielen ungünstige Aufmerksamkeits- und Denkprozesse eine wichtige Rolle, die auch in der Corona-Krise zentral sein können (beispielsweise selektiv hoch bedrohliche Informationen aus Online-Nachrichten zu filtern; ohne Unterlass über die eigene Gefährdung und die der eigenen Eltern nachzudenken). Hinzu kommt, dass emotional instabile und unsichere Personen häufiger von Gefühlen der Einsamkeit und der fehlenden sozialen Unterstützung geplagt sind, die sich durch die aktuell auferlegte soziale Isolation nochmals verstärken können.
Im Extremfall können die genannten Mechanismen zur Entwicklung psychischer Störungen, wie Angststörungen oder Depressionen beitragen. Sowohl hinsichtlich der Prävention von als auch der Intervention bei psychischen Störungen, sind gezielte psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen in einem Umfang nötig, die die vorhandenen Ressourcen in diesem Bereich deutlich übersteigen werden.
Förderung des sozialen Zusammenhalts
In Krisenzeiten werden die besten und die schlechtesten sozialen Seiten des Menschen sichtbar. Mit anderen Worten, wenn es darauf ankommt und materielle, zeitliche, soziale Ressourcen knapper werden, zeigen sich Unterschiede in Pro- und Antisozialität deutlicher. Setzen sich selbstbewusste Egoisten privat, beruflich, politisch nun erst recht durch? Oder ist es nun eher an der Zeit, Personen zu schätzen, die leisere Töne anschlagen, die anderen, denen es vielleicht noch schlechter geht, wirklich zuhören und ohne Gegenleistung ihre Hilfe anbieten? Und führen die krisengeschüttelten sozialen Dynamiken kollektiv zu einer beschleunigten gesellschaftlichen Spaltung oder zu erhöhtem gesellschaftlichen Zusammenhalt? Es ist momentan noch unklar, ob sich durch die jetzige Krise unser alltägliches Sozialverhalten durch mehr Ellbogen und Abgrenzung oder durch mehr Umarmung und Nächstenliebe kennzeichnen wird. Es ist gleichermaßen offen, ob die Krise der Brandbeschleuniger sein wird, der die ohnehin bestehenden Konflikte um Zugehörigkeiten, Migration und Gerechtigkeit befeuert oder ob sie der Kitt sein könnte, der über soziodemographische, religiöse und weltanschauliche Schichten hinweg Gemeinschaft fördert.
Für eine Absicherung von Prosozialität und gesellschaftlichem Zusammenhalt in der Krise werden überzeugende und was den Komplexitätsgrad angeht adaptierte Narrative benötigt, die einen sozialethischen Konsens darüber, wie wir miteinander leben wollen, ermöglichen – und zwar über Gesellschaftsschichten hinweg. Diese (gemein)sinnstiftenden Erklärungen fallen nicht vom Himmel. Auf individueller Ebene werden sie bestenfalls durch Erziehung, private und berufliche Vorbilder vorgelebt. Auf kollektiver gesellschaftlicher Ebene müssen sie aber auch durch politische Führung effektiv kommuniziert werden. Die möglichen sozialen Konsequenzen der Krise sind darüber hinaus von ökonomischen, bildungs- und sozialpolitischen Maßnahmen abhängig. Viele der ganz konkreten Belastungen treffen Menschen niedriger Bildungsschichten unverhältnismäßig stärker. Dies betrifft etwa das Ausmaß der räumlichen Eingrenzung: Wenn es um das emotionale und soziale Wohlergehen in Quarantäne geht, ist eine Hochhauswohnung ohne Balkon eben etwas anderes als ein Eigenheim mit Garten und Trampolin. Zudem hat die Krise abzusehende negative Folgen für die Bildungsgerechtigkeit: Der Ausfall der regulären Beschulung wird insbesondere für Kinder aus bildungsferneren Familien zu einem deutlich verschlechterten Lernverlauf führen. Und schließlich trifft die Krise beruflich in doppelter Hinsicht Menschen niedrigerer Bildungsschichten, deren Tätigkeit meist nicht durch Home-Office und Videokonferenzen zu kompensieren ist. Sie müssen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen rechnen und/oder sind durch fortgesetzten sozialen Kontakt (bspw. als Kassen- oder Pflegekraft) einem höheren gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Eine substantielle finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung der Schwächsten ist aus psychologischer Sicht eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung, um die Krise als soziale und gesellschaftliche Chance zu begreifen.
Ein P.S.:
In einer momentan laufenden, groß angelegten Studie gehen mein Team und ich momentan einigen der oben genannten Fragen nach und analysieren die sich entwickelnden Emotionen und sozialen Interaktionen während der Corona-Pandemie und deren Zusammenspiel mit Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen wie auch persönlichen und politisch-medialen Ereignissen. Es sind bereits über 1.500 Personen an der längsschnittlichen Erhebung beteiligt, und Interessierte sind weiterhin eingeladen, daran teilzunehmen:
https://formr.uni-muenster.de/EMOTIONS-CORONA
Prof. Dr. Mitja Back ist Professor für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie am Institut für Psychologie.