Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab dem „Münchner Merkur“ heute das folgende Interview. Die Fragen stellten Marcus Mäckler, Georg Anastasiadis und Mike Schier:
Frage: Herr Lindner, BDI-Chef Siegfried Russwurm nennt die Politik der Ampel „toxisch“. Verstehen Sie, was er damit meint?
Lindner: Nein, er meinte die deutsche Energiepolitik, die auch ich seit Jahren beklage. Allerdings ist sein Zitat veraltet. Denn wir haben gerade den Weg zu einer marktwirtschaftliche Energiereform beschlossen – Stichwort Strommarktdesign und Kraftwerksstrategie. Dazu kommen die Senkung der Einkommen- und der Stromsteuer. Die Investitionen in Infrastruktur sind auf Rekordniveau. Ich sehe also für den Wirtschaftsstandort Verbesserungen. Aber dennoch sage: Das reicht nicht. Die Wettbewerbsbedingungen wurden so lange vernachlässigt, dass wir eine Wirtschaftswende brauchen.
Frage: Bayerns Unternehmer bezeichnen die deutsche Politik als „Haupt-Standortrisiko“. Das muss Sie doch furchtbar umtreiben.
Lindner: Ja, fesselnde Bürokratie, Fachkräftemangel, vernachlässigte Infrastruktur und zu hohe Steuern sind Wachstumsbremsen. Diese Defizite sind lange bekannt. Wir haben bereits Fortschritte erzielt, aber die Koalition muss schneller und entschlossener in diese Richtung arbeiten.
Frage: Wirtschaftsminister Habeck hält deutsche Unternehmen nicht mehr für konkurrenzfähig, Sie stimmen zu. Das passiert selten.
Lindner: (lacht) Robert Habecks Rede im Bundestag war tatsächlich überraschend. Es ist ein Fakt, dass seit mehr als zehn Jahren der Wohlstand in Deutschland verteilt worden ist, aber zu wenig dafür getan wurde, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Zu viel Bürokratie. Eine nicht konsequent durchdeklinierte Energiepolitik. Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur und Digitalisierung. Wir sind ein Höchststeuerland. An vielen dieser Punkte arbeiten wir bereits.
Frage: Aber…?
Lindner: Ambition und Tempo müssen steigen. Durch die schwache Nachfrage in China, die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs und die gestiegenen Zinsen werden die seit Jahren bekannten Schwächen unübersehbar. Aus der gemeinsamen Lageanalyse muss jetzt eine veränderte Politik folgen.
Frage: Was genau fordern Sie?
Lindner: Ein Dynamisierungspaket, das Arbeitsmarkt, Bürokratie, Energie und Steuern umfasst. Zum Beispiel werden die Meseberger Beschlüsse zum Bürokratieabbau den Bürokratiekostenindex auf ein Allzeittief bringen. Das muss rasch ins Gesetzblatt. Aber wir sollten weiter gehen. Wir können das Lieferkettengesetz, das wir von der Vorgängerregierung geerbt haben, entschlacken.
Frage: Was haben Sie denn gegen das Gesetz?
Lindner: Wir brauchen nicht mehr Bürokratie, sondern weniger. Arbeitsminister Heil hat gute Vorschläge gemacht, die Kosten für die Betriebe zu reduzieren.
Frage: Sie stemmen sich auch gegen die EU-Lieferkettenrichtlinie. Ihre Bedenken kommen reichlich spät…
Lindner: Nein, das werfen der FDP insbesondere SPD und Grüne taktisch vor. Die Bundesregierung hat aber im November festgelegt, unter welchen Bedingungen sie zustimmt. Diese Bedingungen wurden nicht erfüllt. Die Lieferkettenrichtlinie belastet die Betriebe, ohne dass wirklich Fortschritte für Menschenrechte und Umwelt erreicht werden. Deshalb sind viele EU-Staaten dagegen.
Frage: Sie haben auch eine Nullrunde beim Bürgergeld ins Spiel gebracht, die Habeck abschmetterte. Wie wollen Sie mit SPD und Grünen auf einen Nenner kommen?
Lindner: Moment, ich habe prognostiziert, dass es zu einer Nullrunde kommen wird, da die Inflation bei der Berechnung der Höhe dieses Jahr überschätzt wurde. Das wird dann 2025 automatisch korrigiert. Abgesehen davon habe ich die Hoffnung, dass SPD und Grünen ebenfalls sehen, dass alle ökologischen und sozialen Vorhaben nur dann eine Chance haben, wenn wir auf den wirtschaftlichen Erfolgspfad zurückkehren.
Frage: Sie stoßen aber auf wenig Verständnis. SPD-General Kühnert findet es merkwürdig, dass Sie mit Entlastungen ums Eck kommen.
Lindner: Er kann nur überrascht sein, weil wir uns nicht kennen. Ich habe noch nie mit Herrn Kühnert persönlich sprechen können.
Frage: Dann muss man erst recht skeptisch sein, dass die Ampel das hinkriegt. Auch die Einigkeit mit Habeck war schnell wieder passé.
Lindner: Die Einigkeit zwischen ihm und mir besteht in der Analyse der Lage. Noch ziehen wir daraus verschiedene Schlüsse. Er wollte viele Milliarden Euro Schulden aufnehmen, um Unternehmen zu subventionieren. Das scheint mir nicht sinnvoll, da der Staat inzwischen hohe Zinsen zahlt und Subventionen nur Symptome übertünchen. Ich schlage dagegen vor, dass wir für alle Betriebe und Branchen die Rahmenbedingungen verbessern. Wirtschaftsförderung ohne Schulden hat einen Namen: Marktwirtschaft.
Frage: Gibt es erst wieder wochenlangen Streit, dann die Lösung über Nacht?
Lindner: Sie karikieren die Arbeit der FDP in der Koalition. Damit kann ich besser leben als mit dem Vorwurf, wir würden nicht für unsere Überzeugungen eintreten. Ich gehe davon aus, dass wir bis zur Aufstellung des Haushalts 2025 im Sommer alles geklärt haben.
Frage: Top-Ökonomen fordern eine Lockerung der Schuldenbremse. Würden Sie das erwägen, wenn Ihnen SPD und Grüne andernorts entgegenkämen?
Lindner: Um wirtschaftlich Vernünftiges zu erreichen, soll ich andererseits wirtschaftlich Unvernünftiges machen? Das kann nicht sinnvoll sein. Mein Amtseid erlaubt einen solche Kuhhandel nicht. Wir zahlen hohe Zinsen für die Schulden der Vergangenheit, fast 40 Milliarden Euro im Jahr. Investitionen und Entlastungen können wir finanzieren, wenn wir an die Ausgabenseite gehen. Mit Mut wäre sogar die Abschaffung des Solidaritätszuschlags möglich, um die Betriebe im globalen Wettbewerb zu entlasten. Wir haben kein Einnahmeproblem, das wir durch Steuererhöhungen oder Schleifen der Schuldenbremse lösen müssten.
Frage: Was, wenn Sie trotz aller Anstrengungen nicht auf einen Nenner kommen?
Lindner: Wenn wir nichts tun, wird Deutschland ärmer. Das darf niemanden kalt lassen. Es ist unvorstellbar, dass aus der gemeinsamen Lagebeurteilung von Wirtschafts- und Finanzminister nichts folgt.
Frage: Stellt sich nicht irgendwann die Existenzfrage für die Ampel? Ihr Vize Kubicki glaubt nicht mal, dass die Ampel bis 2025 hält.
Lindner: Auch ich bin ungeduldig in der Sache und unzufrieden mit dem öffentlichen Bild. Aber im Gesetzblatt stimmen die Ergebnisse am Ende, selbst wenn der Weg dorthin außergewöhnlich viel Kraft in dieser Konstellation kostet. So lange das so ist, darf man ein Land nicht ins Chaos stürzen. Ich hoffe darauf, dass wir weiter tragfähige Lösungen finden.
Frage: Das Chaos haben wir doch schon durch den Dauerstreit in der Ampel. Wäre dem Land mit Neuwahlen nicht mehr gedient?
Lindner: Nein, das Wort Chaos weise ich bei aller Selbstkritik zurück. Wir haben Scherbenhaufen in der Asyl- und Energiepolitik übernommen. Das war Chaos, das wir mühevoll beseitigen. Die neue Realpolitik bei der Einwanderung zum Beispiel ist eine echte Zäsur, die Weltoffenheit mit Kontrolle verbindet.
Freie Demokratische Partei
Portrait: Christian Lindner