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Rede von Bundeskanzler Scholz beim IHK-Tag 2024 der DIHK

" Zu arbeiten heißt, in Gemeinschaft zu sein, Werte zu schaffen, sein Wissen zu nutzen und es weiterzugeben".

Schönen Dank für die Einladung und für die Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen! Aber bevor ich das tue im Hinblick auf das, was ich mir vorgenommen habe, will ich noch ein paar Worte zu den Fragen sagen, die angesprochen worden sind.

Zunächst einmal: Ich war in meinem Leben, bevor ich von Beruf Politik gemacht habe, was erst mit 40 Jahren der Fall gewesen ist, viele Jahre Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Deshalb kann sich jeder die gute Antwort auf diese Frage vorstellen. 

Ich bin ein großer Fan von Tariflöhnen, und zwar solchen, die ordentlich ausgehandelt und gut bemessen sind, das gehört selbstverständlich mit dazu. Das gilt dann auch für meine eigenen Beschäftigungsfragestellungen.

Die zweite Frage: Wer kann mich aus der Ruhe bringen? ‑ Das kann man so und so sehen. Das geht ja auch im positiven Sinne, also freundlich, aufmunternd und nach vorn gerichtet. Meine Frau.

Was meine Arbeitszeit betrifft, ist die 45-Stunden-Woche in der Tat etwas, was ich fast als Freizeit empfinden würde. Aber ich denke, es steht jedem Bürger zu, das von dem Regierungschef des Landes mit 84 Millionen Einwohnern auch so zu erwarten. Selbstverständlich habe ich persönlich vor, freiwillig weit über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten, was nichts daran ändert, dass ich natürlich dagegen bin, das gesetzliche Renteneintrittsalter anzuheben, weil ich denke, dass das zwei verschiedene Dinge sind. Übrigens hat das auch viel mehr kalkulatorische Aspekte, nämlich die Frage, wie hoch die Rente eigentlich ist, als die Frage, wann man das konkret macht. Immerhin eine Sache ist uns diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, nämlich dass die Zahl derjenigen, die ziemlich viel länger arbeiten, gegenüber der Zahl zu Ende des vergangenen Jahrtausends erheblich zugenommen hat, und zwar wegen eines besseren Arbeitsmarktes, wegen viel mehr Menschen, die nicht gewissermaßen in Vorruhestand geschickt wurden, sondern eine echte Perspektive haben, weiterzuarbeiten.

Das will ich für mich auch sagen: Der Lackmustest für einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt und dafür, was die Perspektiven älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht, ist die Frage: Wenn ich, weil es mit dem eigenen Unternehmen vielleicht nicht so gut läuft ‑ das passiert ja mitunter ‑, mit Ende 50, Anfang 60 meinen Job verliere, wird mir dann ein ähnlicher und gleich gut bezahlter neu angeboten? ‑ Wenn diese Frage in Deutschland überwiegend mit Ja beantwortet wird, dann, glaube ich, steigt das Alter noch einmal ein bisschen nach oben. Insofern wollen und müssen wir, denke ich, gemeinsam erreichen, dass Unternehmen es super finden, 62-Jährige neu einzustellen, und dass Beschäftige finden, das sei eine super Gelegenheit. Das wollen wir erreichen.

Sehr geehrter Herr Adrian,
sehr geehrter Herr Dr. Wansleben,
meine Damen und Herren,

schönen Dank für den freundlichen ‑ ich hätte fast gesagt: familiären ‑ Empfang! Aber es stimmt schon; mit kaum jemand spreche ich so regelmäßig und so offen wie mit der DIHK und den anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft. Das ist mir wichtig, und das ist auch nötig. Denn natürlich hat die deutsche Wirtschaft in den vergangenen gut zwei Jahren seit Russlands Überfall auf die Ukraine ungekannte Herausforderungen erlebt. In dieser Lage müssen wir schauen, dass die offenen Märkte nicht unter die Räder geraten. Protektionismus macht am Ende alles nur teurer. Was wir brauchen ist ein fairer und ein freier Welthandel. Das will ich gerade in diesen Tagen sagen.

Natürlich ist niemand von uns zufrieden, wenn die deutsche Volkswirtschaft stagniert oder nur um 0,3 Prozent wächst, wie es für dieses Jahr vorhergesagt wird. Es gibt Gründe dafür, dass wir in dieser Lage sind. Das hat mit der gesunkenen Dynamik auf den Weltmärkten einschließlich einer deutlich gedämpften Nachfrage aus China und natürlich mit geopolitischer Unsicherheit nach dem russischen Angriffskrieg zu tun. Das macht Angst und Sorge und hat Einfluss auf Investitionsverhalten, ganz abgesehen davon, dass ein wirklich großer Raum wirtschaftlicher Tätigkeit nicht mehr als Partner zur Verfügung steht. Der doppelte Energieschock bei der Versorgung und bei den Preisen hat uns umgetrieben und als Folge dann natürlich Inflation und sprunghaft gestiegene Preise und Zinsen. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass wir zum Beispiel im Hinblick auf die Inflation inzwischen sagen können: Sie liegt wieder bei zwei Prozent. ‑ Auch die Geschäftsaussichten verbessern sich. Die Produktion ist im ersten Quartal gestiegen. Weil man tagesaktuell berichten soll: Erst gestern kam die gute Nachricht von Germany Trade and Invest, dass die ausländischen Investitionsprojekte in Deutschland 2023 um 37 Prozent gestiegen sind, vor allem in Schlüsselbereichen wie den Bereichen von Halbleitern, erneuerbaren Energien und Pharma. Amazon hat erst heute Morgen bestätigt, dass es in den nächsten Jahren rund acht Milliarden Euro in Rechenzentren in Deutschland investieren will. ‑ Das alles zeigt: Ein stabiler Aufschwung ist möglich.

Aber ohne strukturelle Veränderungen geht es nicht. Denn wir wollen nicht nur die konjunkturellen Schwächen überwinden, sondern langfristig Wachstum. Deshalb setzen wir auf eine moderne Angebotspolitik. Über Jahrzehnte haben wir liebevoll ein Bürokratiedickicht angelegt, die Europäische Union, der Bund, die Länder und Gemeinden, alle gemeinsam, parteiübergreifend und mit großem Engagement. Das haben wir jetzt. Das müssen wir jetzt lichten. Denn das bringt viel, und es kostet nichts.

Wir investieren auf Rekordniveau in Infrastruktur und Digitalisierung. Denn dabei ist viel zu lange viel zu wenig passiert. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren auch zu wenig getan, um eine verlässliche, bezahlbare und weitgehend eigenständige Energieversorgung in Deutschland zu sichern. Auch da sind wir dran, und zwar im Deutschlandtempo, wie ich es genannt habe, bei der Eröffnung der ersten LNG-Terminals an Norddeutschlands Küsten. Mittlerweile gibt es viel mehr davon, nicht nur in Wilhelmshaven, sondern auch in Stade, Brunsbüttel und in Mukran. Wir bauen sie weiter aus, damit ihre Importkapazitäten steigen.

Russland hatte seine Energielieferungen von heute auf morgen gekappt. Die Preise sind explodiert. Aber diesen drastischen Anstieg haben wir nun erfolgreich gestoppt. Auch wenn die niedrigeren Preise noch nicht bei allen Unternehmen angekommen sind ‑ das muss man ja ausdrücklich sagen ‑, weil viele langfristige Verträge geschlossen haben, die heute noch wirken, liegen die Großhandelspreise jetzt wieder auf dem Vorkrisenniveau oder sogar darunter, weil wir das Angebot zum Beispiel mit den Flüssiggasterminals ausgeweitet und weil wir Steuern reduziert haben oder die EEG-Umlage nicht mehr erheben. Das macht in diesem Jahr fast 20 Milliarden Euro aus, die jetzt der Bundeshaushalt trägt und die vorher von allen Stromkunden mitbezahlt wurden, privaten Bürgerinnen und Bürgern, aber auch mittelständischen Unternehmen. Diesen Betrag schultern wir jetzt gemeinsam, aber eben nicht in der persönlichen Rechnung im Betrieb. Das gilt für die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft, die jetzt auf das europäische Mindestmaß reduziert worden ist. Natürlich haben wir auch Entlastungen für ganz besonders energieintensive Unternehmen fortgeschrieben und ausgeweitet.

Parallel dazu ‑ das ist mindestens ebenso wichtig ‑ haben wir das Fundament für Deutschlands Energiesystem der Zukunft gelegt. Dieses Fundament ist mittlerweile ziemlich sicher. Zeiten großer Veränderung ‑ das wissen wir ‑ sind Zeiten von Unsicherheit über die Zukunft. Deshalb will ich heute sagen: Alle können sich darauf verlassen, dass die Energie in Deutschland sicher und auch in der Perspektive bezahlbar bleiben wird. Wir haben dafür in den letzten zweieinhalb Jahren viele wichtige Entscheidungen getroffen, die für unsere Zukunft von allergrößter Bedeutung sind. Das ist der Kern dessen, was ich eben Angebotspolitik genannt habe. Es geht darum, die Anreize für Investitionen zu verbessern, Arbeitsplätze zu sichern und Wachstum möglich zu machen.

Wenn man die Wirtschaftsweisen fragt ‑ ich habe gerade mit ihnen zusammen zu Mittag gegessen und über die Vorschläge, die Sie uns heute präsentiert haben, und darüber, was Sie sich für die Zukunft vorstellen, diskutiert ‑, dann geben sie auf die Frage, wie man Wachstum beschleunigen kann und was das Wachstum am meisten bremst, immer eine Antwort, die auch Sie schon erwähnt haben und die auch bei mir eben schon vorgekommen ist, nämlich: Bürokratie als ein ganz zentrales Thema ‑ ich habe darüber gesprochen ‑, die Infrastruktur ‑ ich habe über das Thema, gesprochen ‑ und natürlich zu Recht die Energiepreise. Auch diese sind ein Thema. Am häufigsten werden aber fehlende Arbeitskräfte genannt. Das steht ganz vorn. Es ist ja auch eine ganz besondere Situation. Wenn man solch einen Beruf ausgeübt hat wie ich, bevor ich mit 40 Jahren Abgeordneter wurde, wenn man so dicht an denjenigen ist, die arbeiten, wenn man ein paar Jahre in der Politik gewesen ist, dann weiß man, dass es eine besondere Aussage ist, die man jetzt machen kann: Wir haben Vollbeschäftigung, und das Problem großer Massenarbeitslosigkeit, das wir um die Jahrtausendwende hatten und das alle für fast unüberwindbar gehalten haben, wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ‑ glücklicherweise für die jungen Leute ‑ nicht begegnen. Aber damit ist auch eine große Herausforderung verbunden. Es fehlt an allen Ecken und Enden an genügend und insbesondere an qualifizierten Arbeitskräften. Über Jahrzehnte ist Arbeitslosigkeit ein Thema gewesen. Das hat eigentlich schon in den Achtzigerjahren begonnen. Jetzt ist das die neue Frage. Es ist einmal ein kleiner Bestseller mit dem tollen Titel „Arbeiterlosigkeit“ geschrieben worden. Er hat sich ganz gut verkauft, wahrscheinlich nur wegen der Überschrift. Aber es ist jedenfalls ein Hinweis darauf, was wir als Frage vor uns haben.

Jetzt müssen wir alles dafür tun, um diese Situation richtig zu verstehen. Wir haben in Deutschland eine Rekordzahl von Frauen und Männern, die arbeiten, 46 Millionen. So viele waren es noch nie. Auch die Zahl der Arbeitsstunden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern lag noch nie so hoch wie im vergangenen Jahr ‑ alle zusammengerechnet wohlgemerkt, nicht jeder Einzelne, da gibt es ja sehr unterschiedliche Zeiten.

Aber wir dürfen uns ‑ das ist natürlich auch ein Grund für unsere heutige Zusammenkunft ‑ darauf auf keinen Fall ausruhen. Denn der Zuwachs auf dem Arbeitsmarkt, den wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, geht fast ausschließlich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurück. Dabei stoßen wir unterdessen an erkennbare Grenzen. Hinzu kommt, dass in den nächsten Jahren 13 Millionen sogenannter Boomer in Rente gehen. Als wir jünger waren hießen wir noch Babyboomer. Mittlerweile sind wir in der Sprache der Jüngeren nur noch die Boomer. Aber viele von uns gehen jedenfalls in Rente. Dieses Thema wird uns noch ziemlich stark beschäftigen. 90 Prozent aller Maschinenbauunternehmen in Deutschland suchen nach Fachkräften. Deshalb ist die Frage dieses IHK-Tages absolut zentral: Wie findet man diejenigen, die morgen unsere Arbeit machen?

Auf diese Frage gibt es aus meiner Sicht vier Antworten

- Erstens mit einer zeitgemäßen Ausbildung ‑ das ist und bleibt das A und O ‑, 

- zweitens mit gezielter Weiterbildung, 

- drittens mit familienorientierten Arbeitsplätzen und 

- viertens mit dem modernsten Einwanderungsrecht, das wir in Deutschland jemals hatten.

Wenn man das Arbeitsleben mit einem Langstreckenflug vergleicht, dann ist die Schulzeit so etwas wie die Vorbereitung auf den Start. Stimmt die Richtung, in die man startet, schaffen es alle rechtzeitig zum Take-off. Knapp 50 000 Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Das kann nicht so bleiben. Ich denke, darin müssen wir uns alle sehr einig sein und dürfen es nicht nur bei Worten und Reden belassen, sondern müssen sehr konkret handeln, damit die Zahl derjenigen, die ohne Abschluss von unseren Schulen gehen, sich dramatisch reduziert. Damit sich das ändert, unterstützt der Bund die Länder, wo er kann, beim Kitaausbau, bei der digitalen Ausstattung von Schulen, beim Ganztag an Grundschulen und bei besonders benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Denn wir brauchen alle diese Jugendlichen später für die Arbeit, die in Deutschland getan werden muss.

Nach dem Schulabschluss beginnt das Berufsleben. Um im Bild zu bleiben: Das ist der Take-off, der darüber entscheidet, auf welcher Flughöhe man später reisen wird und wie der Flug werden wird. Die duale Berufsausbildung, die Lehre, das ist auch aus meiner Sicht unverändert die wichtigste Ausbildung in Deutschland. Gerade erst hatten wir den neuen Berufsbildungsbericht auf dem Kabinettstisch. Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen ist weiter gestiegen. Gleichzeitig bleiben aber mehr Bewerberinnen und Bewerber ohne einen Platz. Das Matching zwischen Angebot und Nachfrage gelingt gerade nicht besonders gut.

Aber in dieser Situation gibt es auch zwei gute Nachrichten

- Erstens steigt die Zahl der Auszubildenden das zweite Jahr in Folge. Das hatten wir in den letzten Jahrzehnten nicht so oft. Damals war das oft langsam abwärtsgehend. 

- Zweitens sind 2022 so viele Auszubildende von ihren Betrieben übernommen worden wie seit über 20 Jahren nicht mehr.

Der ganze Erfolg unseres dualen Systems beruht auf Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich jedes Jahr aufs Neue dazu entscheiden, auszubilden. Das sagt sich so leicht, ist aber in Wahrheit der eigentliche, entscheidende Unterschied zwischen Deutschland und den allermeisten Ländern auf der Welt. In all den Ämtern, die ich in meinem Leben schon ausüben durfte, als Arbeitsminister, als Bürgermeister und jetzt auch als Bundeskanzler, bin ich von anderen immer wieder gefragt worden: Ihr habt so eine tolle duale Berufsausbildung, können wir das auch haben? ‑ Ich sage ihnen immer: Ja. Aber es gibt ein Merkmal, dass, wenn man Systeme vergleicht, völlig unbeachtet bleibt. Es gibt ein in der Welt einzigartiges Engagement von Unternehmen für die Ausbildung der jungen Leute. ‑ Anderswo ‑ das müssten sie ja überwinden ‑ gibt es Akademien. Man geht zwei oder drei Jahre dorthin und hat dann einen Berufsabschluss, aber die ganze Zeit in der Schule. Das ist natürlich ein völliger Unterschied zu dem, was wir haben. Wir stellen die jungen Leute ein, haben sie im Betrieb, bilden sie aus, und gleichzeitig findet noch etwas statt, was in den Berufsschulen gemacht wird. Aber der erste Punkt ist ‑ ich finde, das darf man nie vergessen ‑, dass es die Unternehmen sind. Jedes Jahr neu müssen sich ganz viele entscheiden und sagen: Ich bin einer von denen, der das wieder macht, und das, obwohl man vielleicht letztes Mal Streit mit seinen Lehrlingen hatte, obwohl alle ganz anders aussehen als damals, als man selbst jung war, oder was weiß ich. Das ist jedenfalls so.

Deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle all den Ausbilderinnen und Ausbildern in den Betrieben, den ehrenamtlichen Prüferinnen und Prüfern, von denen viele zum ersten Mal bei einem IHK-Tag sind, auch allen Verantwortlichen in den Kammern und den Unternehmerinnen und Unternehmern vor Ort ganz ausdrücklich zu sagen: Haben Sie herzlichen Dank!

Als Bundesregierung unterstützen wir mit den Jugendberufsagenturen vor Ort, mit der Ausbildungsgarantie, mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung und dem Sommer der Berufsausbildung. Alle diese Initiativen sind so wichtig, weil jeder Jugendliche, der den richtigen Beruf findet, dem Arbeitsmarkt für die nächsten 45 Jahre oder länger erhalten bleibt. Das heißt natürlich nicht, dass man 45 Jahre oder länger das Gleiche machen muss, im Gegenteil. Deshalb ist es gut, dass Betriebe und Kammern heute überall in Deutschland auf mehr Weiterbildung im Betrieb setzen. Es ist gut, dass diese Möglichkeiten genutzt werden und dass es diese Möglichkeiten gibt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits in den Unternehmen sind, sind die wichtigste Ressource.

Bei meinem Besuch bei Siemens in Erlangen habe ich einen gelernten Metzger kennengelernt, der dort vor 20 Jahren in der Reparaturabteilung angefangen hat. Nach einer zweijährigen Weiterbildung hat er 2023 seinen IHK-Abschluss als Facharbeiter geschafft, mit über 50 Jahren. Jetzt könnte er Roboter programmieren.

Von diesen Beispielen brauchen wir noch mehr. Wer bei der Telekom mit Kupfer gelernt hat, macht heute Glasfaser. Wer bei BMW mit Verbrennungsmotoren gelernt hat, baut heute E-Autos. Das steigert die Produktivität, das Wachstum und die Wertschöpfung, und es bedeutet auch höhere Löhne. Es gibt den Vorschlag, dass zukünftig die Gehälter in Stellenausschreibungen mit veröffentlicht werden. Dann sähen alle auf einen Blick, dass sich eine Weiterbildung für gute Löhne und konkrete Perspektiven lohnt. Vielleicht brauchen wir solche Anreize, ich weiß es nicht. Aber es zeigt ein bisschen, dass man die Motivation steigern muss, daran etwas zu tun. Bis 2030 soll mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland an Weiterbildung teilnehmen. Das ist unser Ziel. Das haben wir uns nicht allein ausgedacht, sondern mit den hier versammelten Verbandsvertretern besprochen. Wir haben auch das Aus- und Weiterbildungsgesetz beschlossen und werden das Aufstiegs-BAföG weiter erhöhen. Die DIHK mit ihren Kammern im ganzen Land ist für die gezielte Weiterbildung eine ganz wichtige Partnerin.

Darüber hinaus können wir im Hinblick auf die Beschäftigungsmöglichkeiten junger Familien und vor allem von Frauen noch besser werden. In kaum einem anderen Land ist die Teilzeitquote gerade bei Frauen so hoch wie in Deutschland. Ich kann das immer an schönen Vergleichen sagen. Wir hatten früher immer geschaut, wie hoch die Frauenerwerbsquote ist. Dann haben wir nach den skandinavischen Zahlen geschaut. Sie waren besonders gut, in Norwegen und Schweden. Sie stiegen allmählich. Jetzt sind wir fast gleichauf. Es gibt keinen echten Unterschied mehr. Aber wenn man darauf schaut, wie viele in Vollzeit und wie viele in Teilzeit arbeiten, dann sieht man, dass dabei noch eine große Differenz besteht.

Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass irgendwann einmal, vor über hundert Jahren, in Deutschland entschieden wurde, dass anders als in der ganzen Welt die Ganztagsschule irgendwie keine gute Idee sei, sondern man auf Halbtagsschule setzt. Diesen Sonderweg beenden wir jetzt in kleinen Schritten, überall ein wenig. Wir haben mit den Ländern ein Gesetz verhandelt, wonach sie Stück für Stück ab 2026 flächendeckend in Deutschland die Ganztagsgrundschule einführen. Aber das zeigt auch, welche Herausforderungen für junge Familien, für Frauen und Männer bestehen, die mit ihren Kindern gemeinsam das Berufsleben begleiten wollen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Kitaausbau und den Ganztagsanspruch umsetzen.

Natürlich brauchen wir auch noch viele andere Anreize, die man nutzen kann, damit wir dabei vorankommen. Ich denke, dass wir noch Gestaltungsmöglichkeiten für familienorientierte Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten oder manchmal, wo man sich das leisten kann, vielleicht auch Betriebskitas haben. Wer familienorientierte Arbeitsplätze schafft, der wird auch weiterhin gute Leute finden. Das rechnet sich für alle, für die Beschäftigten und für die Betriebe.

Ganz unabhängig davon, wie es uns gelingt, das alles in Deutschland gut auf den Weg zu bringen, brauchen wir Fachkräfte und Arbeitskräfte auch aus dem Ausland. Dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, eines der modernsten in der Welt. Das habe ich am Anfang so angeberisch gesagt, ich meine es aber auch so. Deutschlands Volkswirtschaft ist eine der der offensten der Welt. Daran hängt unser Wohlstand. Dazu gehört ein attraktiver Arbeitsmarkt für Talente aus aller Welt. Es ist mir wichtig, das hier noch einmal klar und deutlich zu sagen: Wer diese Offenheit aufs Spiel setzt, wer allen Ernstes einen Austritt aus der Europäischen Union fordert, der hat schon lange kein Unternehmen mehr von innen gesehen, der hat Ihnen nicht zugehört, meine Damen und Herren. Das darf in unserem Land nicht passieren. Solche populistischen Forderungen dürfen weder das Miteinander beeinträchtigen, noch den Wohlstand und die Zukunft unseres Landes.

Dazu gehört, dass natürlich alle, die ausländische Fachkräfte einwerben, die Prozesse beschleunigen, bei der Wohnungssuche helfen und dass wir unsere Behörden und Verfahren digitalisieren. Denn viele gute Bewerber haben noch fünf weitere Angebote in anderen Staaten. Auch bei denjenigen, die bereits hier sind, setzen wir an. Deshalb haben wir sinnlose Arbeitsverbote abgeschafft, die zum Beispiel Geflüchtete zum Herumsitzen verdammt haben. Das ist zwar noch ganz neu und hat sich noch nicht ganz herumgesprochen, aber es ist jetzt Gesetz. Wir haben zum Beispiel den Jobturbo ins Leben gerufen, um Flüchtlinge aus der Ukraine und acht weiteren Ländern schneller in Arbeit zu bringen. Das sollten wir gern noch ausweiten. Ich kann nur alle ermutigen, uns dabei zu unterstützen, damit Unternehmen auch Menschen einstellen, die vielleicht noch nicht das perfekteste Deutsch sprechen. Sie können das lernen, auch mit Angeboten während der Arbeit, die wir machen.

Vielleicht sollte man sich noch daran erinnern: Als die Fachkräftemigration der 60er-Jahre in Westdeutschland stattgefunden hat, weil es schon einmal einen riesigen Arbeitskräftemangel gab ‑ eine entsprechende Lösung gab es für die damalige DDR mit den vietnamesischen Fachkräften ‑, waren auch nicht alle mit fließendem Deutsch unterwegs. Die Bedingungen waren viel schlechter als heute. Trotzdem ist damals etwas gelungen. Deshalb sollten wir, finde ich, die Sache angehen und versuchen, das hinzubekommen.

Ich war bei meinem schönen Bild vom Langstreckenflug. Man sollte vielleicht noch die Landung ansprechen, also den Übergang in die Rente. Ein bisschen habe ich es anfangs schon getan. Ich denke, dass es, wenn man freiwillige Lösungen dafür schafft, gut möglich ist, dass man über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten kann, wenn man das selbst möchte. Mein Eindruck ist, dass es mehr als genug Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die das wollen. Wir müssen jetzt die Bedingungen dafür schaffen, dass das ein Match für die Unternehmen und für die Beschäftigten wird, die das für sich persönlich eine gute Perspektive finden.

Alle diese Dinge wollen wir nicht nur bereden, sondern wir arbeiten daran. Deshalb kann uns das vielleicht auch helfen.

Arbeit, über die ich hier gesprochen habe, ist viel, viel mehr als Geldverdienen, so viel mehr als die Zeit, die man in der Fabrik, in der Werkstatt, an der Kasse oder im Büro verbringt. Zu arbeiten heißt, in Gemeinschaft zu sein, Werte zu schaffen, sein Wissen zu nutzen und es weiterzugeben. Ich freue mich, dass Sie und all die Kammern vor Ort dieses wichtige Thema so entschlossen angehen. Auf weiterhin gute Zusammenarbeit und auf eine gute Diskussion!

Schönen Dank.

   

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Olaf Scholz

Foto: Bundesregierung/photothek.net/Thomas Köhler & Thomas Imo