Dortmund/Leipzig - (ots) - Individuelle medizinische Kompression ist kein "Schachtelgeschäft": Wie qualitätsbasierte Lymphversorgung funktioniert, war während der OTWorld 2024 vom 14. bis 17. Mai in Leipzig live zu erleben. Ärzte, Orthopädietechniker und Patientinnen zeigten auf der weltgrößten Veranstaltung zur Hilfsmittelversorgung in täglichen Workshops, dass die Versorgung des Lymphödems - einer chronischen Erkrankung, die etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland betrifft - keine "Bagatelle" ist.
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Doch mit der 17. Fortschreibung der Präqualifizierung (PQ) hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) die Standards deutlich gesenkt. Eine leitliniengerechte medizinische Kompressionsversorgung ist so nicht mehr möglich. Zudem entfiel mit dem sogenannten Engpassgesetz (ALBVVG) die PQ für Apotheken hier gänzlich. Laut Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) steigt damit das Risiko für Fehl- und Unterversorgungen, verbunden mit höheren Kosten für das Gesundheitssystem.
"Hier wurde unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus eine 'Versorgung light' eingeführt, die auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) leitliniengerechte Versorgungsstandards unterläuft und die wir als Fachleute aus Orthopädie-Technik und Sanitätshaus ablehnen müssen!", betont BIV-OT-Präsident Alf Reuter. "Echter Bürokratieabbau sieht anders aus. Unsere Branche hat Vorschläge unterbreitet, zum Beispiel zur Standardisierung und Entschlackung des überbordenden Vertragswesens und zur Digitalisierung. Doch in der Versorgung von Lymphödemen drohen die Betroffenen jetzt zum Spielball des Zufalls zu werden - nicht zuletzt abhängig vom Gewissen und der Moral des jeweiligen Versorgers", sagt Reuter.
Viel Leid und hohe Dunkelziffer
Hinter der Diagnose Lymphödem verberge sich viel Leid, so Prof. Dr. Gerd Lulay, Chefarzt der Chirurgischen Klinik II: Gefäß- und Endovaskularchirurgie am Klinikum Rheine (Mathias-Spital). Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit seien oft stark beeinträchtigt - vor allem, wenn nicht rechtzeitig diagnostiziert und fachgerecht versorgt werde. "Nach aktuellen Schätzungen sind in Deutschland mindestens 1,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen, rund 1,5 Millionen Menschen. Doch die Dunkelziffer ist hoch", unterstreicht der Experte auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und Lymphologie, der auf der OTWorld die Workshops zur Lymphologie leitete. Lymphödeme könnten beispielweise nach einer Brustkrebserkrankung an den oberen, nach gynäkologischen Erkrankungen oder Prostatakarzinom an den unteren Extremitäten auftreten, erklärt der Mediziner.
Massive Folgekosten bei Unter- und Fehlversorgung
"Bei Fehl- oder Unterversorgung der Erkrankung drohen Wundrosen, offene Beine, orthopädische Leiden aufgrund zunehmender Unbeweglichkeit der betroffenen Extremität, Adipositas, Depression, Herz-Kreislauferkrankungen - ein Teufelskreis, der zudem die Kosten für den Einzelnen und für das Gesundheitssystem in die Höhe treibt!", sagt Prof. Lulay. Insgesamt stünden die Dinge in Sachen Lymphversorgung in Deutschland schlecht. Es fehle an Fortbildung in der Ärzteschaft und an Verständnis seitens der gesetzlichen Krankenversicherung für die Dynamik dieser Erkrankung, die sich an mangelnder Kostenerstattung für die leitliniengerechte und strukturierte Versorgung zeige. "Die Folgeerkrankungen werden behandelt, die Grunderkrankung wird vernachlässigt und die Diagnose meist viel zu spät gestellt. Hier setzt sowohl der medizinische als auch der rechnerische Sachverstand aus." Die Nichtversorgung räche sich erheblich: "Nach den Daten im Rahmen einer von mir betreuten Studie 2012 in der Lymphklinik Ochtrup können sich die Kosten für die Behandlung eines Ulcus cruris (offenes Bein bzw. Unterschenkelgeschwür) infolge eines Lymphödems pro Patient in drei Jahren auf rund 33.500 Euro summieren, überwiegend Kosten für Verbandsmaterial. Von den Schmerzen, den dadurch nötigen zusätzlichen Medikamenten sowie der Beeinträchtigung von Leistungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität ganz zu schweigen. Nach der Behandlung reduzierten sich die Kosten um über 90 Prozent."
Interdisziplinäres Dreieck wichtig
Politik und Kostenträger müssten verstehen, dass durch ein adäquat finanziertes interdisziplinäres "Dreieck" aus frühzeitiger ärztlicher Diagnose und schnellem Therapiebeginn, Kompressionsversorgung im Sanitätshaus und manueller Lymphdrainage Folgeerkrankungen verhindert und Kosten deutlich gespart würden, so Prof. Lulay. "Bisher lohnt sich zum Beispiel die entsprechende Fortbildung für Ärzte nicht. Im Gegenteil, diese Patienten belasten das Budget und werden deshalb möglichst abgeschoben, was das Ganze noch schlimmer macht." Mit der Absenkung der Präqualifizierungskriterien und der gänzlichen Abschaffung der Präqualifizierung für Apotheken im Bereich der Kompressionsversorgung sei jetzt ein weiterer Schritt in Richtung Unterfinanzierung getan, befürchtet Prof. Lulay: "So ist die Kompressionsbestrumpfung eine hohe und zeitintensive Kunst, die viel Erfahrung und Expertise benötigt. Das ist kein Nebenbei-Geschäft und entspricht in keiner Weise dem Charakter einer normal aufgestellten Apotheke."
Sanitätshäuser mit viel Verantwortung
"Ich bin auf Anraten des Arztes zuerst in eine Apotheke gegangen und habe mir Kompressionsstrümpfe geholt. Die haben aber nicht viel geholfen. Dann habe ich mich selbst informiert und habe die richtigen Leute im Sanitätshaus gefunden. Inzwischen weiß ich viel über meine Erkrankung - und weiß aber auch, dass ich das gesamte Versorgungsteam um mich herum brauche", berichtet Kathrin Rammin, die infolge einer Krebserkrankung von einem Lymphödem im Bein betroffen ist und auf der OTWorld gemeinsam mit ihrem langjährigen Orthopädietechnik-Meister Stephan Klör zeigte, wie viel Lebensqualität mit einer leitliniengerecht angepassten Kompression bei Lymphödem möglich ist. Rammin trägt ihre Kompression nahezu permanent - tagsüber während Arbeit, Freizeit, Sport und auch nachts. Da darf nichts verrutschen und scheuern. "Wichtig ist, die richtigen Leute zur richtigen Zeit zu treffen - und festzuhalten", lautet ihre Erfahrung.
Druck durch "Schachtelgeschäft" steigt
"In meinen Betrieb kommen extrem viele Menschen, die sich erstmals trauen, ihre Sachen auszuziehen und ihr Lymphödem zu zeigen. Viele der Patienten, die erstmals zu uns kommen, haben einen langen Leidensweg hinter sich. Wir sind oft die ersten, die sich das Krankheitsbild sehr genau anschauen. Leider muss ich sagen, dass die Mehrheit nicht optimal versorgt und daher die Krankheit verschleppt wurde", schildert Orthopädietechnik-Meister Klör, der ein Sanitätshaus im niedersächsischen Buchholz betreibt. "Oft bringen sie ein Rezept für Kompressionsstrümpfe mit - brauchen aber aufgrund von Folgeerkrankungen zunächst eine Lymphdrainage oder medikamentöse Behandlung. Das heißt, wir müssen sie in die Arztpraxis zurückschicken. Wir machen den Leuten Mut, müssen aber auch das Vertrauen zu ihren Ärzten und ein Verhältnis auf Augenhöhe aufbauen. Sanitätshäuser tragen viel zu effektiven Patientensteuerung und zur richtigen Versorgung bei - das wird von Politik und gesetzlicher Krankenversicherung gar nicht wahrgenommen", sagt Klör. Im Gegenteil, nun geriete die leitliniengerechte Versorgung im Sanitätshaus noch mehr unter Druck, wenn Qualifikationsstandards gesenkt und Apotheken wiederum gleich gar keine Präqualifizierung mehr bräuchten. Statt mehr Kompetenz zu fördern, rutsche das Gebiet weiter in die Dequalifizierung und Unwirtschaflichkeit.
Klör: "So mancher in Politik und gesetzlicher Krankenversicherung scheint zu glauben, dass wir nur mal kurz das Maßband anlegen und ansonsten Konfektion abgeben. Ein 'Schachtelgeschäft' also. Ein bisschen Wissen über Medizinprodukte - wie es Apotheken mitbringen - wird für ausreichend gehalten. Aber wir müssen den Patientinnen und Patienten bei unserer Arbeit sehr nahekommen, anfassen, genau hinsehen, Gewebe prüfen und auf Schmerzen achten. Korrektes Arbeiten braucht hier Zeit. Es gibt kaum einen Beruf, der so dicht dran ist. Das haben die meisten Apotheker noch nie gemacht und sind dafür gar nicht ausgebildet. Im schlechtesten Fall werden die Patienten einfach in den Scanner gestellt. Aber man braucht eine handwerkliche Ausbildung, um zu verstehen, wie man richtig scannt - und muss trotzdem zusätzlich anfassen."
Mit der Absenkung der Präqualifizierungskriterien im Zuge der 17. PQ-Fortschreibung durch den GKV-Spitzenverband sei beispielsweise keine Liege für die Patientinnen und Patienten mehr erforderlich, selbst eine Kundentoilette sei für Apotheken verzichtbar. "Das ist weder für die Patientinnen und Patienten noch für die Fachleute in unseren Betrieben zumutbar, die dann beim Vermessen auf den Knien am Boden herumkrauchen müssen", kritisiert Klör. "Unsere komplexen Aufgaben werden oft unterschätzt. Leidtragende sind die Patientinnen und Patienten."
Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
Foto: BIV-OT/Jens Schlüter
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