Permafrost tauend, aber kein abruptes Kippelement im Klimasystem*
Das Schmelzen der arktischen Permafrostböden hat gravierende Folgen, stellt jedoch kein plötzliches, katastrophales Kippelement im globalen Klimasystem dar. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forschungsteam unter Leitung eines Experten des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in einer am Montag veröffentlichten Studie.
"Nach wissenschaftlicher Datenlage ist dieses Bild nicht korrekt," erklärte das AWI in Bezug auf die Vorstellung eines sich ab einem gewissen Punkt rasch und unumkehrbar verstärkenden flächendeckenden Auftauens der gesamten Permafrostböden. Dies sei jedoch keine Entwarnung, fügte es hinzu. Das Schmelzen der Permafrostböden lasse sich als Zusammenspiel vieler lokaler und regionaler Kippelemente verstehen, die zu unterschiedlichen Zeiten "zünden". Deren Wirkung summiere sich, und die Prozesse verliefen teilweise auch unumkehrbar.
Der in der Fachzeitschrift "Nature Climate Change" veröffentlichten Analyse zufolge vollzieht sich das Schmelzen des Permafrosts laut AWI generell "im Gleichschritt mit der globalen Erwärmung" – und zwar ansteigend bis "zum Totalverlust" bei einem Temperaturanstieg um fünf bis sechs Grad Celsius. "Das bedeutet, dass schon heute und auch in naher Zukunft mehr und mehr Gebiete unausweichlich vom Auftauen betroffen sind," betonte AWI-Experte Jan Nitzbon.
"Irreführend" ist nach seinen Angaben lediglich die Hypothese des Auftauens im Sinne eines plötzlichen massiven Kippelements. "Es gibt keine Evidenz für sich selbst verstärkende interne Prozesse, die ab einem bestimmten Grad der globalen Erwärmung den gesamten Permafrost gleichzeitig erfassen und das Schmelzen global beschleunigen würden," erklärte Nitzbon in Bremerhaven weiter.
Die Frage, ob das Schmelzen der arktischen Permafrostböden einen Kipppunkt im globalen Klimasystem darstellen könnte, ist nach Angaben des AWI in der Wissenschaft schon seit längerem umstritten. Die Untersuchung sollte daher mehr Klarheit in diesem Punkt bringen. Sie basiert auf einer Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zu den relevanten Schmelzprozessen kombiniert mit einer Datenanalyse. Diese sollte eine Abschätzung der Folgen ermöglichen.
Permafrostböden bedecken laut AWI etwa ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel der Erde und speichern enorme Mengen an organischem Kohlenstoff in Form von abgestorbenen Pflanzenresten. Wenn die seit Jahrtausenden dauerhaft gefrorenen Böden aufgrund des Klimawandels schmelzen, werden Mikroorganismen aktiv und zersetzen das Material. Dadurch werden gigantische Mengen der Treibhausgase CO2 und Methan freigesetzt und heizen die Erderwärmung weiter an.
Das Schmelzen der Permafrostböden gilt deshalb als ein mögliches sogenanntes Kippelement im Zuge des Klimawandels. Damit ist gemeint, dass natürliche Systeme beim Überschreiten eines bestimmten Schwellenwerts unumkehrbar aus ihrem bislang stabilen Zustand "kippen" und das Leben auf der Erde massiv gefährden sowie den Klimawandel unter Umständen noch zusätzlich anheizen könnten. Als Kipppunkt gilt etwa auch das Abschmelzen polarer Eisschilde.
Ihre Ergebnisse sehen die Forschenden dabei als Beleg für die Notwendigkeit von mehr Klimaschutz, nicht etwa weniger. Das Bild des Permafrosts als ein Kipppunkt suggeriere einen "beruhigenden Erwärmungsspielraum, den man bis zum Schwellenwert noch ausreizen kann," erklärte Nitzbon. Diesen gebe es aber nicht. Je schneller die Menschheit CO2-Neutralität erreiche, desto mehr Permafrostgebiete blieben als Lebensraum und Kohlenstoffspeicher erhalten.
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Was ist ein Kipppunkt?
Ein Kipppunkt (englisch: Tipping Point) im Klimasystem bezeichnet einen kritischen Schwellenwert, bei dessen Überschreiten ein relativ kleiner Anstoß zu einer drastischen und oft unumkehrbaren Veränderung des Klimas oder eines Ökosystems führt. Diese Veränderungen können weitreichende und oft negative Auswirkungen auf das globale Klima, die Umwelt und die menschlichen Gesellschaften haben.
Merkmale eines Kipppunkts
Schwellenwert: Ein Kipppunkt ist ein spezifischer Punkt oder Zustand, der, wenn erreicht oder überschritten, zu einer abrupten und signifikanten Veränderung führt.
Unumkehrbarkeit: Nach dem Überschreiten eines Kipppunkts sind die Veränderungen oft dauerhaft oder nur schwer umkehrbar, selbst wenn der auslösende Faktor (z.B. Temperaturerhöhung) wieder reduziert wird.
Positive Rückkopplung: Viele Kipppunkte im Klimasystem sind durch positive Rückkopplungen gekennzeichnet, bei denen ein initialer Anstoß selbstverstärkende Prozesse in Gang setzt. Beispielsweise kann das Abschmelzen von Eisflächen zu einer geringeren Reflexion von Sonnenlicht führen, was die Erwärmung weiter beschleunigt und noch mehr Eis zum Schmelzen bringt.
Beispiele für Kipppunkte im Klimasystem
Abschmelzen der Polaren Eisschilde:
Grönland-Eisschild: Ein signifikanter Anstieg der Temperaturen könnte das Abschmelzen des Grönland-Eisschilds beschleunigen, was zu einem erheblichen Anstieg des Meeresspiegels führen würde.Westantarktischer Eisschild: Ein ähnliches Szenario gilt für den westantarktischen Eisschild, dessen Kollaps ebenfalls einen erheblichen Meeresspiegelanstieg verursachen könnte.
Amazonas-Regenwald:
Der Amazonas-Regenwald könnte einen Kipppunkt erreichen, wenn durch Abholzung und Klimawandel eine Umwandlung in eine Savannenlandschaft ausgelöst wird. Dies würde die Fähigkeit des Waldes, Kohlenstoff zu speichern, drastisch reduzieren und zur Freisetzung großer Mengen CO2 führen.
Permafrostböden:
Das Auftauen der Permafrostböden in der Arktis könnte große Mengen von Methan und CO2 freisetzen, was die globale Erwärmung weiter verstärken würde. Obwohl dies ein gradueller Prozess ist, könnte er bei ausreichender Erwärmung einen Kipppunkt erreichen.
Ozeanzirkulation:
Die thermohaline Zirkulation, auch bekannt als atlantische meridionale Umwälzströmung (AMOC), könnte durch die Erwärmung und das Schmelzwasser aus Grönland abgeschwächt oder gestoppt werden. Dies würde das Klima in Europa und Nordamerika drastisch verändern.
Korallenriffe:
Erhöhte Meerestemperaturen und Versauerung der Ozeane könnten zu einem massiven Absterben von Korallenriffen führen, was die Biodiversität der Meere erheblich beeinträchtigen würde.Bedeutung und Risiken
Kipppunkte im Klimasystem sind von großer Bedeutung, weil sie drastische und möglicherweise katastrophale Veränderungen auslösen können, die über das hinausgehen, was durch lineare Modelle der Klimaveränderung vorhergesagt wird. Sie verdeutlichen die Dringlichkeit, Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels zu ergreifen, um das Risiko solcher abrupten und unumkehrbaren Veränderungen zu minimieren.
Fazit
Das Konzept der Kipppunkte unterstreicht die Notwendigkeit eines vorsichtigen und proaktiven Umgangs mit dem Klimawandel. Es zeigt, dass das Klimasystem nicht nur graduell und linear auf Änderungen reagiert, sondern auch durch plötzliche und gravierende Umbrüche gekennzeichnet sein kann, die weitreichende Konsequenzen für die Umwelt und die menschliche Gesellschaft haben.
ozd
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