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Eine schwache Pharmaindustrie braucht kein Mensch

Auf dem Hauptstadtkongress (HSK) diskutierten Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und Unternehmen über die Rahmenbedingungen für den Pharma- und Forschungsstandort Deutschland.

Im Fokus: Die vor einem halben Jahr verabschiedete Nationale Pharmastrategie, die Forschung, Entwicklung und Produktion hierzulande stärken soll.? Was fehlt, damit die Strategie fliegt? Das Symposium wurde von Pharma Fakten organisiert und gesponsert von den Firmen BeiGene und Bristol-Myers Squibb – es ist ein Bericht in eigener Sache.

Der medizinische Fortschritt im Beschleunigungsmodus: Wer am Anfang eines beliebigen Jahres in den 1980ern mit Multiplem Myelom diagnostiziert wurde, hat Weihnachten oft nicht mehr erlebt. Heute leben viele Betroffene 10 Jahre nach der Diagnose noch. Bis 2018 galt für Menschen mit verschiedenen Formen von Blutkrebs, dass sie austherapiert waren, wenn der Krebs nach mehreren Therapien zurückkam – sie hatten ungefähr noch 6 Monate zu leben. Dann kam die CAR-T-Medikation und damit Lebensperspektiven, von denen sich die Betroffenen schon verabschiedet hatten. Leukämie bei Kindern oder Prostatakrebs? Heute sind 5-Jahresüberlebensraten von mehr als 90 Prozent drin. Bei Brustkrebs liegt der Wert bei 87 Prozent. Es sind nur einige Beispiele, die zeigen, was pharmazeutische Innovation erreichen kann. Eine schwache Pharmaindustrie – so der Titel der Veranstaltung – die braucht kein Mensch. Natürlich hat die Industrie das nicht allein geschafft – Spitzenforschung findet in Netzwerken statt, in globalen Netzwerken aus Wissenschaft, Forschung und forschender Industrie.

Den Wert dieser Industrie hat die Politik erkannt; Ende des vergangenen Jahres hat die Bundesregierung die Nationale Pharmastrategie verabschiedet. Damit will sie die Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung, Produktion im Lande stärken. Welche Chancen ergeben sich aus der Pharmastrategie für die Wirtschaft, die Wissenschaft und für die Menschen im Land? Darüber diskutierten der Onkologe Professor Dr. Dr. Michael von Bergwelt, Dr. Julia Löffler als Expertin für klinische Studien, Politiker Alexander Föhr von der CDU – er ist Mitglied des Bundestages und im Gesundheitsausschuss des Parlaments – sowie Dr. Fridtjof Traulsen, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Boehringer Ingelheim, und Tessa Wolf, die bei AstraZeneca die politische Abteilung leitet.

Von Bergwelt: „Wir sind nur gemeinsam stark“

Onkologe von Bergwelt sieht die Strategie sehr positiv: Dort seien „viele Details drin, die wir uns immer gewünscht haben. Sie ist gleichermaßen relevant für die akademische Forschung, wir haben die gleichen Hürden wie die Pharmaindustrie und wir sind eigentlich nur gemeinsam stark.“ Aber: „Es geht jetzt wirklich um Tempo. Wir sehen erstmalig an unserem Zentrum, dass wir weniger klinische Industriestudien akquirieren können, weil sich Unternehmen zurückziehen.“ Ein Grund dafür: Bis eine Studie hierzulande wirklich ausgerollt werden kann, vergeht zu viel Zeit. „Wir haben bei AstraZeneca Studien, da ist Spanien schon fertig und wir in Deutschland haben noch nicht mal angefangen“, sagt Tessa Wolf. Der Grund: Zu langsam sind die Prozesse, zu hemmend ist die Bürokratie. Das vom Gesetzgeber im Medizinforschungsgesetz (MFG) angestrebte Ziel: Maximal 28 Tage von Antragstellung bis zur Genehmigung einer Studie. Momentan sind es rund 120: Deutschland hat ein Tempolimit – wer hätte das gedacht. Wolf sagt: „Wir könnten viel, viel mehr Studien in Deutschland machen.“

In der Industrie schwingt viel Optimismus mit: „Wir sehen, dass sich unglaublich viel getan hat – auch in der Anerkennung der Pharmaindustrie“, sagt Wolf. Dr. Traulsen sekundiert: „Es ist gut, dass es diese Strategie gibt, denn wir sind in den vergangenen Jahren vom zweitbesten Standort für klinische Studien der Welt auf Platz 7 zurückgefallen.“ Das soll sich nun wieder ändern. „Was der Gesundheitsminister aber bisher übersieht: Innovationen passieren nur dort, wo auch ein attraktiver Markt ist.“ Deshalb muss sich aus seiner Sicht beim 2022 in Kraft getretenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mitsamt seinen Eingriffen in das etablierte System der Arzneimittel-Nutzenbewertung und -Erstattung (AMNOG) etwas tun: „Wenn ich keine gute Chance habe, mein neues Arzneimittel in den Erstattungsmarkt zu bringen, dann ist das auch kein attraktiver Studienort.“ Das GKV-FinStG war in seinen Augen bisher ein Höhepunkt an innovationsfeindlichen Interventionen vonseiten des Gesetzgebers.

Alexander Föhr von der CDU zeigt sich im Großen und Ganzen zufrieden mit den Plänen der Regierung. „Der eingeschlagene Weg ist richtig, aber es muss noch nachgebessert werden“, konstatiert er mit Verweis auf das GKV-FinStG.

Arzneimittelinnovationen: Mit Formalien den Fortschritt ausbremsen

Welche negativen Auswirkungen das GKV-FinStG haben kann – dazu hat Traulsen ein konkretes Beispiel aus dem eigenen Haus: ein Antikörper zur Behandlung einer seltenen und schweren Form der Psoriasis. Das Arzneimittel hat gezeigt, dass 80 Prozent der Patient:innen nach 8 Tagen pustelfrei waren. „Das hat es noch nie gegeben; es ist eine sehr zielgerichtete Therapie.“ Den Nutzen der Betroffenen sahen die Organe, die über den Zusatznutzen entscheiden (das IQWiG, der G-BA), offenbar nicht. „Hier geht es nicht um den Zusatznutzen für die Patientinnen und Patienten. Hier geht es einzig und allein um formale Anforderungen. Und das sorgt dafür, dass die Versorgung kranker Menschen schlechter wird.“ Das Arzneimittel ist eines von 6 Innovationen, die als Folge des GKV-FinStG in Deutschland nicht mehr verfügbar ist. Der Boehringer Ingelheim-Geschäftsführer fordert, dass die Pharmastrategie an dieser Stelle „aufgebohrt“ werden muss. „Die AMNOG-Reform muss jetzt in die Wahlprogramme rein“, sagt er in Richtung der Politik. Seine Botschaft: „Wenn wir die Art und Weise, wie wir medizinische Evidenz bewerten, nicht ändern, dann kommen wir mit dem Fortschritt nicht mit.“ Tessa Wolf hofft, dass das MFG, das Anfang Juli beschlossen werden soll, dem noch Rechnung trägt. Auch CDU-Mann Föhr will aufs Tempo drücken: „Wir sehen ja, dass es jetzt schon Schwierigkeiten in der Ampel gibt, zu Entscheidungen zu kommen.“ Die Union habe einen entsprechenden Entschließungsantrag formuliert: „Wir haben diese Themen im Blick.“

Ein Thema, was den Krebsforscher von Bergwelt umtreibt: „Wir haben unheimliche viele tolle Medikamente in der Pipeline – in der Immunonkologie ungefähr fünfeinhalbtausend.“ Auf der anderen Seite zeigen sich aber jetzt schon Ressourcenprobleme, weiß er. „Damit die beste Medizin optimal eingesetzt wird, brauchen wir eine Ressourcendiskussion in unserer Gesellschaft – und das ist etwas, vor dem wir uns immer drücken. Als Gesellschaft müssen wir uns überlegen, wieviel Medizin ist adäquat in welchem Alter.“ Denn sonst habe man zwar viele Therapieoptionen, aber: „Dann ist das Geld alle.“ Das sei keine leichte Diskussion, aber „eine, die wir führen müssen.“ Mit begrenzten Ressourcen die beste Medizin: „Das machen wir in der Klinik jeden Tag.“

Gesundheitsvorsorge vs. Reparaturbetrieb

Dr. Julia Löffler glaubt, dass wir eine Neuorientierung in Richtung Krankheitsvermeidung brauchen. „Intelligente Gesundheitsvorsorge braucht zwar erstmal Investitionen, ist in der Folge aber gesundheitserhaltend, lebenserhaltend und kostensparend.“ Das sieht auch Tessa Wolf so: „Es ist historisch bedingt so, dass wir die Kranken behandeln, statt vorher zu schauen, wie wir Krankheiten vermeiden oder deren Verläufe hinauszögern können.“ Das aber scheitere momentan an den Kosten; „es wäre ein Systemwechsel.“ Aber man brauche jetzt „den Mut, das großzudenken.“ Das bezieht auch die Nutzung von Gesundheitsdaten mit ein: „Ohne Daten keine Prävention“, sagt Traulsen. Sein Punkt: Mit den beschlossenen Gesetzen sei man jetzt in der Lage, aufzuholen und das zu tun, was andere Länder schon lange machen. „Wir machen keinen Sprung – wir holen nur auf.“ Aber noch scheitern die Gesetze an der Realität: „Ich kann bis heute keine Anfrage an das Forschungsdatenzentrum stellen und bekomme dann Daten, um zu forschen“ – Julia Löffler bezweifelt, dass das Zentrum nach den aktuellen Plänen überhaupt personell dafür gerüstet ist, die Anfragen aus Industrie und Akademie zu bearbeiten. Auch hier: Nachbesserungsbedarf.

„Wir alle in der Gesellschaft brauchen ein anderes Verhältnis zum Thema Gesundheit“, sagt Alexander Föhr. „Wir arbeiten immer noch mit den Strukturen, die wir seit 20, 30, 40 Jahren haben.“ Gleichzeitig sei man mit der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz und ihrem Riesenpotenzial in einer neuen Welt angekommen. Aber: Bisher sind nur 25 Prozent der Gesundheitsdaten in Deutschland digitalisiert. „Wir müssen den Menschen erklären, dass wir durch das Einbringen der eigenen Gesundheitsdaten das eigene Kind oder sie selbst in 5 bis 10 Jahren besser behandeln können.“ Und: „Wir müssen die Strukturdebatte führen.“

Was das System kann – und was es nicht kann – das hat Julia Löffler bei einem Krankheitsfall in der Familie hautnah erlebt. „Wir haben eine tolle Medizin, wir haben eine tolle Versorgung.“ Aber sie hat auch gesehen, „wie hilflos Patient:innen in diesem System sind.“ Es koste unglaublich Kraft im richtigen Moment die richtige Ansprechperson zu finden. „Dabei kenne ich mich aus: Ich verstehe die Sprache, ich weiß, wie das System funktioniert, ich kenne die Fallstricke. Ich möchte gar nicht wissen, wie es Menschen geht, die dies alles gar nicht wissen können. Deshalb ist mein Wunsch, dass wir durch Vernetzung, Verknüpfung, durch digitale Strukturen die bestmögliche Versorgung möglich machen – zu jedem Zeitpunkt. Ohne dass kranke Menschen selbst Expert:innen werden müssen.“ Vernetzung, Verknüpfung, Digitalisierung: Was so technisch klingt, könnte der Schlüssel zu einer stärker dem Menschen zugewandten Medizin sein.

GKV-Sparkurs: Keine Leistungseinschränkungen?

Gesundheitsminister Lauterbach hatte immer wieder erklärt, seine Spargesetze kämen ohne Leistungskürzungen für die Menschen im Lande aus. „Da reagiere ich immer recht geschockt“, sagt Traulsen. „Wenn die im GKV-FinStG festgelegten Regelungen zu erheblichen Einsparungen führen, dann tun sie das auf Kosten der Therapieoptionen der Patientinnen und Patienten in Deutschland. Das ist eine Leistungskürzung – ganz einfach.“

Pharmastrategie: Hebel für eine bessere Medizin

Fazit der Veranstaltung: Wenn die Strategie funktioniert, dann profitieren am Ende die Wissenschaft, der Innovationsstandort, die Wirtschaft – und vor allem: die Menschen, die auf moderne Arzneimittel angewiesen sind oder angewiesen sein werden. Kurz: Die Pharmastrategie ist ein Hebel, mit dem die Politik die Medizin im Lande verbessern kann. Wenn sie denn konsequent umgesetzt wird.

Pharma Fakten e.V.

Foto: Pharma Fakten

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