Bei einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Istanbul sind erneut deutliche Meinungsverschiedenheiten mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über die Konflikte im Nahen Osten zutage getreten. „Es ist kein Geheimnis, dass wir da auch unterschiedliche Sichtweisen auf Israel haben“, sagte Scholz am Samstag. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz hob er jedoch auch die Gemeinsamkeiten hervor.
„Der mörderische Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober war ein furchtbares Verbrechen und hat natürlich auch die Bewohnerinnen und Bewohner in Gaza in ein furchtbares Unglück gestürzt“, erklärte Scholz weiter. „Klar ist: Gegen einen solchen Angriff muss man sich verteidigen können.“
Erdogan hingegen stellte fest: „Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um den nötigen Druck auf Israel auszuüben.“ Er kritisierte die „aggressive Politik Israels“ und forderte ein Ende dieser Politik. Darüber hinaus sprach er von einem „von Israel in den palästinensischen Gebieten verübten Völkermord“, eine Aussage, die Scholz entschieden zurückwies: „Deutschland hat nicht die Einschätzung, (...) dass der Vorwurf des Völkermords berechtigt und gerechtfertigt ist.“ Scholz ergänzte, dass es kein „geteiltes Leid“ gebe, da die Opfer von Kriegen überall betrauert werden müssten.
Erdogan ist seit Beginn des Krieges im Gazastreifen einer der schärfsten Kritiker Israels und betrachtet die radikalislamische Hamas als „Widerstandsgruppe“. Der türkische Präsident verglich den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu sogar mit Adolf Hitler.
Trotz der scharfen Meinungsverschiedenheiten betonte Scholz, dass beide Staaten ein gemeinsames Ziel verfolgen. „Wir sind uns einig, dass Deeskalation, ein Waffenstillstand und politische Lösungen notwendig sind, um einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern.“ Eine Zweistaatenlösung sei weiterhin der beste Weg, um Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zu erreichen, sagte der Kanzler. Er forderte zudem die sofortige Freilassung der Geiseln, die von der Hamas genommen wurden.
Mit Blick auf den Libanon verwies Scholz auf die UN-Resolution 1701, die den Rückzug der pro-iranischen Hisbollah-Miliz aus dem Grenzgebiet zu Israel verlangt. Diese Resolution müsse umgesetzt werden, um eine weitere Eskalation in der Region zu verhindern.
Neben den geopolitischen Spannungen standen auch militärische Themen auf der Agenda. Scholz lobte die „Bemühungen“ der Türkei, die Beschränkungen bei deutschen Waffenlieferungen aufzuheben, während Erdogan auf Fortschritte beim Kauf von 40 Eurofighter-Flugzeugen hofft. Scholz betonte, dass die Türkei als Nato-Mitglied weiterhin mit militärischer Unterstützung rechnen könne, wobei die endgültige Entscheidung von den vier an dem Projekt beteiligten Ländern – Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien – getroffen werden müsse.
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OZD-Kommentar:
Diplomatie auf Messers Schneide: Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Scholz und Erdogan
Der Streit zwischen Bundeskanzler Scholz und Präsident Erdogan zeigt, wie unterschiedlich die internationalen Reaktionen auf den Nahost-Konflikt sind. Während Deutschland die Notwendigkeit der Selbstverteidigung Israels anerkennt, geht Erdogan noch weiter und wirft Israel Völkermord vor. Diese scharfe Rhetorik erschwert einen gemeinsamen diplomatischen Weg, insbesondere in der ohnehin angespannten Lage im Nahen Osten. Die Tatsache, dass Erdogan die Hamas als „Widerstandsgruppe“ bezeichnet, unterstreicht, wie weit die Positionen auseinanderliegen. Ein echter Durchbruch scheint in dieser Konstellation unwahrscheinlich, es sei denn, beide Seiten sind bereit, aufeinander zuzugehen und ihre bisherigen Positionen zu hinterfragen.
OZD-Prognose:
In den nächsten Wochen könnte es zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und westlichen Staaten über den Umgang mit dem Nahost-Konflikt kommen. Erdogan wird wahrscheinlich weiterhin Druck auf Israel ausüben, während Scholz und andere europäische Politiker den Fokus auf Deeskalation und diplomatische Lösungen legen. Sollte es jedoch zu weiteren Eskalationen in der Region kommen, könnte die Türkei ihre Positionen noch härter verteidigen und sich von westlichen Partnern distanzieren.
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Olaf Scholz?
Olaf Scholz ist seit 2021 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor war er Finanzminister und Vizekanzler im Kabinett von Angela Merkel. Scholz ist Mitglied der SPD und gilt als pragmatischer Politiker mit einem Fokus auf wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtigkeit.
Offizielle Webseite: www.bundeskanzler.de
Wer ist Recep Tayyip Erdogan?
Recep Tayyip Erdogan ist seit 2014 Präsident der Türkei und Vorsitzender der konservativ-islamischen AKP. Vor seiner Präsidentschaft war er von 2003 bis 2014 Ministerpräsident. Erdogan hat die türkische Innen- und Außenpolitik stark geprägt und strebt eine stärkere Position der Türkei auf der Weltbühne an.
Offizielle Webseite: www.tccb.gov.tr
Was ist die UN-Resolution 1701?
Die UN-Resolution 1701 wurde 2006 verabschiedet und fordert den Rückzug der Hisbollah-Miliz aus dem Südlibanon sowie die Entwaffnung aller bewaffneten Gruppen im Land. Sie soll eine weitere Eskalation im Grenzgebiet zu Israel verhindern und den Frieden in der Region sichern.
Wikipedia: UN-Resolution 1701
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Foto: Ozan Kose / AFP