In einer überraschenden Wendung hat die langjährige Regierungspartei LDP (Liberaldemokratische Partei) bei den jüngsten Parlamentswahlen in Japan, basierend auf Prognosen des Fernsehsenders NHK, möglicherweise erstmals seit 2009 ihre absolute Mehrheit verloren. Das Ergebnis, das am Sonntag vorgestellt wurde, lässt Zweifel aufkommen, ob die LDP mit ihrem Koalitionspartner Komeito ausreichend Sitze für eine stabile Regierung sichern kann. Ministerpräsident Shigeru Ishiba reagierte auf die Wahlergebnisse mit der Aussage, die Wähler hätten ein "hartes Urteil" über seine Partei gefällt.
„Die Wähler haben den starken Wunsch geäußert, dass die LDP sich besinnt und eine Partei wird, die im Einklang mit dem Willen des Volkes handelt“, so Ishiba im Gespräch mit NHK. In der bisherigen Regierungskoalition verfügte die LDP über eine komfortable Mehrheit. Sollten die Prognosen zutreffen und die Koalition nicht die nötigen Sitze erreichen, wird die LDP vor der Herausforderung stehen, neue Koalitionspartner zu suchen oder eine Minderheitsregierung zu bilden. Shinjiro Koizumi, LDP-Wahlbeauftragter, äußerte sich dazu: „Wenn wir aufgrund des harten Urteils der Wähler nicht in der Lage sind, eine Mehrheit zu erreichen, werden wir so viele Menschen wie möglich bitten, mit uns zusammenzuarbeiten.“
Laut NHK könnte die LDP zwischen 153 und 219 Sitze gewinnen, während die absolute Mehrheit bei 233 von 465 Sitzen liegt. Prognosen der Zeitungen „Asahi“ und „Yomiuri“ zeigen ebenfalls, dass die LDP mit ihrem Koalitionspartner Komeito diese Mehrheit nicht erreichen wird. Ein Lichtblick für die Opposition ist die Konstitutionelle Demokratische Partei (DPJ), die unter der Führung des ehemaligen Ministerpräsidenten Yoshihiko Noda voraussichtlich zwischen 128 und 191 Sitze gewinnen könnte – ein Anstieg von 96 Sitzen.
Noda betonte in seiner ersten Reaktion, dass er „aufrichtige Gespräche mit verschiedenen Parteien“ führen werde, um eine Alternative zur LDP-Komeito-Regierung zu schaffen. „Die Politik der LDP ist nur darauf ausgerichtet, schnell Maßnahmen für diejenigen umzusetzen, die ihnen viel Geld geben“, kritisierte Noda scharf.
Die LDP regiert in Japan seit 1955 nahezu ununterbrochen. In den letzten Jahren litt die Beliebtheit der Partei jedoch stark unter Inflation und einem Korruptionsskandal, der zum Rücktritt von Ishibas Vorgänger Fumio Kishida führte. Ishiba setzte die Neuwahlen an, um sich Rückhalt für seinen Reformkurs zu sichern, der unter anderem familienfreundliche Maßnahmen und eine regionale Militärallianz nach dem Vorbild der NATO umfasst.
Ein Wähler aus Tokio, Yoshihiro Uchida, erklärte: „Ich habe meine Entscheidung in erster Linie auf Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik und Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation getroffen. Ich habe für Menschen gestimmt, die unser Leben wahrscheinlich besser machen werden.“ Dennoch verpasste Ishiba, der selbst zweifacher Familienvater ist, die Gelegenheit, sich in der Familienpolitik als modern zu positionieren. So wollte er ursprünglich unterschiedliche Nachnamen für Ehepaare zulassen, entschied sich dann jedoch dagegen und berief in sein Kabinett lediglich zwei Frauen.
Die Wahlanalysen zeigen bereits, dass Medienberichten zufolge Ishiba möglicherweise sofort zurücktreten könnte, sollte er keine Regierungsmehrheit erreichen. Damit würde er zum japanischen Regierungschef mit der kürzesten Amtszeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden.
OZD / ©AFP
OZD-Kommentar:
Ein Wendepunkt für Japans Politik?
Die Wahlen in Japan könnten einen entscheidenden Wendepunkt in der politischen Landschaft des Landes markieren. Die schwindende Unterstützung für die LDP und die möglichen Erfolge der Opposition deuten auf eine steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung hin. Sollte Ishiba wirklich zurücktreten, könnte dies eine Welle der Veränderungen in der japanischen Politik auslösen. In den kommenden Wochen könnte sich zeigen, ob die LDP bereit ist, sich zu reformieren oder ob wir Zeugen eines stärkeren politischen Wandels werden.
Wer ist Shigeru Ishiba?
Shigeru Ishiba ist ein japanischer Politiker der LDP und amtierender Ministerpräsident seit Oktober 2023. Er war zuvor Verteidigungsminister und ist bekannt für seine Positionen zur Stärkung der nationalen Verteidigung und zur Reaktivierung wirtschaftlich schwacher Regionen.
Wer ist Yoshihiko Noda?
Yoshihiko Noda ist ein ehemaliger Ministerpräsident Japans und Mitglied der Konstitutionellen Demokratischen Partei (DPJ). Er trat während seiner Amtszeit für wirtschaftliche Reformen ein und kritisierte die LDP für deren enge Verbindungen zu Interessengruppen.
Offizielle Websites:
Was ist die LDP? Die Liberaldemokratische Partei (LDP) ist die größte politische Partei in Japan und regiert das Land seit 1955 fast ununterbrochen. Sie ist eine konservative Partei, die sich für wirtschaftliche Stabilität und nationale Sicherheit einsetzt.
Alle Angaben ohne Gewähr.
Foto: Philip FONG / AFP