Die Pflegebedürftigkeit der Menschen in Deutschland nimmt nicht nur zahlenmäßig zu, sondern wird auch immer langwieriger. Der am Montag in Berlin veröffentlichte Pflegereport der Barmer Krankenkasse zeigt eine dramatische Verdopplung der durchschnittlichen Pflegedauer. Während kürzlich Verstorbene im Schnitt 3,9 Jahre gepflegt wurden, könnte sich diese Zahl bei aktuell Pflegebedürftigen auf bis zu 7,5 Jahre erhöhen. Gleichzeitig steigen die Kosten sowohl für Pflegekassen als auch für Betroffene rasant.
Neuer Pflegebegriff verlängert Pflegedauer
Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 hat laut Studienautor Heinz Rothgang von der Universität Bremen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung. „Die Pflegedauer wurde dadurch erheblich verlängert, und die Kosten wurden deutlich erhöht,“ erklärte Rothgang. Viele Menschen erhielten erstmals Leistungen der Pflegekassen, die vorher nicht anspruchsberechtigt waren.
Dieser Trend spiegelt sich auch in den Ausgaben wider: Pflegebedürftige, die kürzlich verstarben, verursachten durchschnittliche Kosten von 50.000 Euro. Für aktuell Pflegebedürftige schätzt die Barmer diese Summe bereits auf rund 76.000 Euro – ohne Berücksichtigung von Inflation und weiteren Preissteigerungen. Besonders auffällig ist der Anstieg des Pflegegeldbezugs, der sich von durchschnittlich 13.100 Euro auf 30.300 Euro mehr als verdoppelt hat.
Wachsende Eigenanteile trotz Maßnahmen
Die Eigenanteile für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen steigen weiter, obwohl die Politik bereits kostendämpfende Maßnahmen ergriffen hat. Studienautor Rothgang betont jedoch: „Die Versicherten könnten entlastet werden, wenn die Bundesländer stärker in die Investitionskosten für Pflegeheime eingreifen würden.“ Ein weiterer Kostentreiber sind die gestiegenen Löhne im Pflegebereich. Von 2015 bis 2023 erhöhten sich diese um 59 Prozent bei Hilfskräften und um 53 Prozent bei Fachkräften – eine Entwicklung, die zwar gerechtfertigt ist, jedoch zu Lasten der Eigenanteile geht.
Politik unter Zugzwang
Barmer-Chef Christoph Straub sieht dringenden Reformbedarf. „Auf die Politik wartet eine Mammutaufgabe, die spätestens eine neue Regierung nach der kommenden Bundestagswahl in Angriff nehmen muss,“ sagte Straub. Er fordert, die Soziale Pflegeversicherung von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten und ausstehende Pandemiekosten sowie Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige aus Steuermitteln zu finanzieren.
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OZD-Kommentar:Pflege in der Krise: Eine tickende Zeitbombe
Die Prognosen des Barmer Pflegereports sind ein deutlicher Warnschuss. Die Verdopplung der Pflegedauer und steigende Kosten belasten nicht nur die Pflegekassen, sondern auch Betroffene und ihre Angehörigen. Die steigenden Eigenanteile sind für viele kaum tragbar, und ohne schnelle Reformen droht ein Kollaps des Pflegesystems. Besonders alarmierend ist die fehlende klare Strategie der Politik. Eine stärkere Beteiligung der Bundesländer an den Investitionskosten und eine umfassende Entlastung der Pflegeversicherung wären erste Schritte – doch wie viel Zeit bleibt, bevor die Krise eskaliert?
OZD-Prognose:
In den nächsten Jahren wird der Reformdruck auf die Politik massiv zunehmen. Wahrscheinlich werden Pflegebeiträge weiter steigen, während die Eigenanteile auf einem hohen Niveau verharren. Auch Debatten über eine stärkere steuerfinanzierte Entlastung dürften an Fahrt gewinnen. Die Bundestagswahl 2025 könnte dabei als Wendepunkt dienen.
Biographien und Erklärungen:Wer ist Heinz Rothgang?
Heinz Rothgang ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen und Experte für Pflege- und Sozialpolitik. Seine Studien prägen die Diskussion um Reformen im deutschen Pflegesystem. Offizielle Website.
Was ist die Soziale Pflegeversicherung?
Die Soziale Pflegeversicherung wurde 1995 eingeführt und ist der fünfte Zweig der deutschen Sozialversicherung. Sie sichert finanzielle Leistungen bei Pflegebedürftigkeit ab. Wikipedia-Seite der Pflegeversicherung.
Was ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff?
Der 2017 eingeführte Begriff bewertet Pflegebedürftigkeit umfassender. Statt Pflegezeiten zählen körperliche, geistige und psychische Einschränkungen. Dadurch erhalten mehr Menschen Zugang zu Pflegeleistungen. Mehr Informationenbeim Bundesgesundheitsministerium.
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