In Georgien, genauer gesagt in der Hauptstadt Tiflis, kam es in den vergangenen Tagen zu massiven Protesten gegen die von Premierminister Irakli Kobachidse angekündigte Verzögerung des EU-Beitritts. Trotz des offiziellen Status als EU-Beitrittskandidat seit Dezember 2023 spitzt sich die politische Lage in dem kaukasischen Land zu. Tausende Demonstranten versammelten sich vor dem Parlamentsgebäude, um gegen den Schritt der Regierung zu protestieren, der den angestrebten Beitritt bis 2028 zurückstellt.
Kobachidse, der wenige Stunden zuvor vom Parlament erneut im Amt bestätigt wurde, erklärte, dass Georgien bis 2028 alle notwendigen Reformen umsetzen werde. Doch diese Ankündigung stieß auf massiven Widerstand. Demonstranten, die teils die Hauptstraße Tiflis blockierten, trugen europäische und georgische Flaggen und forderten einen sofortigen EU-Beitritt. „Der Georgische Traum hat die Wahl nicht gewonnen, sondern geputscht“, sagte die 20-jährige Schota Sabaschwili, eine der Teilnehmerinnen, und fügte hinzu: „Wir werden es nicht zulassen, dass dieser selbsterklärte Ministerpräsident unsere europäische Zukunft zerstört.“
Der Protest nahm eine dramatische Wendung, als die Polizei in der Nacht zu Freitag mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorging. Später setzten die Sicherheitskräfte Gummigeschosse ein und schlugen auf Protestierende sowie Journalisten ein. Der brutale Einsatz der Polizei führte zu zahlreichen Festnahmen, darunter auch mehrere Journalisten, die über die Ausschreitungen berichteten. Lokale Medien berichteten von Barrikaden, die von den Demonstranten in Brand gesetzt wurden, als Zeichen ihres Widerstandes.
Der georgische Innenminister verteidigte den Einsatz der Polizei und erklärte, man habe im Einklang mit dem Gesetz gehandelt, um die Situation zu deeskalieren. Dennoch berichten Augenzeugen von gewaltsamen Übergriffen auf die Demonstranten. In Kutaissi, einer weiteren georgischen Stadt, wurden ebenfalls zahlreiche Protestierende festgenommen.
Die pro-europäische Präsidentin Salome Surabischwili, die den aktuellen Parlamentserfolg der Regierung als verfassungswidrig bezeichnet, hat die Situation scharf kritisiert. Sie bezeichnete die Regierung als illegitim und erklärte, dass der Premierminister „dem eigenen Volk den Krieg erklärt“ habe. Diese Äußerungen spiegeln die tiefe Spaltung wider, die in Georgien herrscht. Die Präsidentin hatte bereits zuvor das Wahlergebnis der Parlamentswahlen vor dem Verfassungsgericht angefochten, da sie von Wahlbetrug ausging.
Die internationale Gemeinschaft reagierte ebenfalls besorgt auf die Entwicklungen. Etwa 90 georgische Diplomaten kritisierten die Entscheidung der Regierung, den EU-Beitritt zu verzögern. Sie warnten, dass dies zu einer „internationalen Isolation“ Georgiens führen könnte. Die georgische Verfassung verankert den EU-Beitritt als strategisches Ziel, das von 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird. Doch die von der Regierung eingeführten Gesetze, die als antieuropäisch gelten, haben die Beziehungen zur EU belastet.
Die Europäische Union hat den Beitrittsprozess nach mehreren umstrittenen Gesetzesvorhaben eingefroren. Dies betrifft unter anderem ein Gesetz gegen „ausländische Einflussnahme“, das in Brüssel Besorgnis auslöste, sowie eine Gesetzesinitiative, die aus europäischer Sicht diskriminierend gegenüber sexuellen Minderheiten ist.
Kobachidse reagierte auf die EU-Kritik und warf europäischen Politikern vor, Georgien unter Druck zu setzen. Er betonte, dass Georgien „mehr als jedes andere Kandidatenland“ bis 2028 auf den EU-Beitritt vorbereitet sein werde und kündigte an, dass Georgien 2030 Mitglied der Europäischen Union werden wolle. Doch die Opposition bleibt skeptisch und wirft der Regierung vor, Georgien von Europa zu entfernen und sich wieder Russland zuzuwenden.
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Kommentar
Der EU-Beitritt in Gefahr? Georgien zwischen Europa und Russland
Die Ankündigung von Premierminister Kobachidse, den EU-Beitritt Georgiens auf 2028 zu verschieben, stellt nicht nur eine Abkehr von den bisherigen Bestrebungen nach westlicher Integration dar, sondern könnte das Land in eine politische und geopolitische Krise stürzen. Die Proteste, die in den letzten Tagen eskalierten, sind ein deutliches Signal der Bevölkerung, dass sie die enge Anbindung an Europa weiterhin befürwortet. Doch die Frage bleibt, ob Georgien angesichts der wachsenden Spannungen zwischen der EU und der georgischen Regierung in den kommenden Jahren den Beitrittsprozess fortsetzen kann, ohne weiter in die Isolation zu geraten.
In den kommenden Wochen dürfte der Druck auf die georgische Regierung zunehmen. Auch die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung, gepaart mit internationaler Kritik, könnte dazu führen, dass die Regierung entweder nachgibt oder sich zunehmend isoliert. Ein Scheitern des Beitrittsprozesses könnte Georgien langfristig in eine unsichere geopolitische Lage manövrieren, in der Russland seine Einflusssphäre weiter ausbauen könnte.
Biographien und Erklärungen
Wer ist Irakli Kobachidse?
Irakli Kobachidse ist der Premierminister Georgiens und Mitglied der Regierungspartei „Georgischer Traum“. Seit 2016 bekleidet er das Amt des Premierministers und ist eine zentrale Figur der georgischen Politik, die sowohl nationale als auch internationale Kritik auf sich zieht. Er wird für die Verzögerung des EU-Beitritts verantwortlich gemacht.
Was ist der „Georgische Traum“?
Der „Georgische Traum“ ist die größte politische Partei in Georgien, die 2012 gegründet wurde und seitdem die politische Landschaft des Landes dominiert. Die Partei hat die Parlamentswahlen 2023 mit einer klaren Mehrheit gewonnen, jedoch gibt es anhaltende Vorwürfe von Wahlbetrug.
Was ist der EU-Beitrittsprozess?
Der EU-Beitrittsprozess beschreibt die Bemühungen eines Landes, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Georgien wurde im Dezember 2023 offiziell zum EU-Beitrittskandidaten ernannt, allerdings gibt es Bedenken hinsichtlich von Reformen und Gesetzen, die in Brüssel als problematisch angesehen werden.
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